BT-Drucksache 16/11203

Die Ursachen des Hungers beseitigen - Die ländliche Entwicklung fördern

Vom 3. Dezember 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/11203
16. Wahlperiode 03. 12. 2008

Antrag
der Abgeordneten Thilo Hoppe, Ulrike Höfken, Ute Koczy, Undine Kurth
(Quedlinburg), Cornelia Behm, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln),
Alexander Bonde, Dr. Uschi Eid, Hans-Josef Fell, Bettina Herlitzius, Winfried
Hermann, Ulrike Höfken, Bärbel Höhn, Dr. Anton Hofreiter, Sylvia Kotting-Uhl,
Nicole Maisch, Kerstin Müller (Köln), Winfried Nachtwei, Omid Nouripour,
Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin, Rainder Steenblock, Jürgen Trittin
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Die Ursachen des Hungers beseitigen – Die ländliche Entwicklung fördern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Globale Herausforderungen wie der Klimawandel und die Nahrungsmittelkrise
sind zu einer zusätzlichen Bedrohung für die Ärmsten der Armen geworden.
Daher kann das erste Millenniumsentwicklungsziel – die Halbierung des
Anteils der Hungernden und Armen – nicht wie vereinbart bis 2015 erreicht
werden, wenn nicht erheblich mehr Mittel von der internationalen Gemein-
schaft bereitgestellt werden. Die Zahl der von Hunger betroffenen Menschen ist
nach Angaben der Welternährungsorganisation FAO bis Ende 2007 von 854 auf
923 Millionen geklettert und hat damit einen historischen Höchststand erreicht.
Nach Prognosen der Hunger Task Force der Vereinten Nationen wird die Zahl
der Hungernden bald die Milliardengrenze überschreiten. Ein Paradigmen-
wechsel ist angesichts der sich zuspitzenden Lage dringend geboten.

Gerade in den ländlichen Räumen sind die höchsten Zahlen an Hungernden zu
beklagen und ist Armut am tiefsten verwurzelt. Ein Schlüssel zur Erreichung
der Millenniumsentwicklungsziele liegt daher in der ländlichen Entwicklung.
Trotz dieser Erkenntnis hat die internationale Gemeinschaft die Weichen bisher
nicht in diese Richtung gestellt.

Ländliche Entwicklung ist ein komplexes Feld, in dem viele Politikfelder zu-
sammenkommen. Hierzu gehört die Verbesserung der makroökonomischen
Rahmenbedingungen und gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ebenso wie der
Ausbau der Infrastruktur. Auch die Ausweitung der regionalen politischen und
wirtschaftlichen Integration und gute Regierungsführung sind notwendig. Die
Diskriminierung von Frauen und Minderheiten, vor allem beim Zugang zu
Land und Krediten, durch Rechtssysteme und gesellschaftliche Normen muss

beendet werden. All diese Bereiche müssen in der Planung und Umsetzung von
Maßnahmen zur ländlichen Entwicklung berücksichtigt werden. Die strukturel-
len Ursachen des Hungers müssen jedoch vor allem durch die Veränderung der
Systeme und Strukturen, die rund einer Milliarde Menschen ein Leben in
Würde versagen, bekämpft werden. Der Alltag dieser Menschen ist gekenn-
zeichnet von ständiger, existentieller Not, der erdrückenden Last des täglichen
Kampfs um die nächste Mahlzeit.

Drucksache 16/11203 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

In vier zentralen Bereichen besteht dringender Handlungsbedarf:

1. Die Realisierung des Rechts auf Nahrung gemäß Artikel 11 des Paktes für
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte muss im Zentrum
jeder Strategie der Bekämpfung von Hunger und Armut im ländlichen Raum
stehen.

2. Die chronische Unterfinanzierung der deutschen und globalen Entwick-
lungszusammenarbeit muss beendet werden.

3. Die systematische und stark zunehmende Zerstörung der Ökosysteme und
der Biodiversität, die Übernutzung und Verschwendung der natürlichen
Ressourcen Land, Wasser und Luft mit ihren desaströsen Folgen – auch für
die landwirtschaftlichen Erträge – müssen beendet werden.

4. Ungerechte internationale und nationale Governancesysteme und Regelwerke
müssen demokratisiert und an den Bedürfnissen der Armen ausgerichtet
werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

das Recht auf Nahrung umzusetzen:

1. das Recht auf Nahrung gemäß den geltenden Normen des internationalen
Rechts zu respektieren, zu schützen und zu gewährleisten. Das Recht auf
Nahrung und menschenrechtliche Grundprinzipien wie Partizipation,
Rechenschaftspflicht, Nichtdiskriminierung, Justiziabilität müssen zur
Grundlage für die Ausgestaltung der Strategie der ländlichen Entwicklung
und Hungerbekämpfung in der Entwicklungszusammenarbeit werden;

2. bei der Umsetzung des Rechts auf Nahrung die Verbesserung der Lebens-
und Produktionsbedingungen der Ärmsten der Armen, benachteiligter sozia-
ler Bevölkerungsgruppen, der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern sowie
Landarbeiter und Landarbeiterinnen in den Mittelpunkt zu stellen;

3. in Strategien der ländlichen Entwicklung der Benachteiligung von Frauen
und Mädchen entgegenzuwirken, da diese besonders schwer von der Ver-
letzung des Rechts auf Nahrung betroffen sind, gleichzeitig aber einen über-
proportionalen Anteil der Nahrungsmittel in den Entwicklungsländern pro-
duzieren;

4. die Umsetzung der freiwilligen Leitlinien zum Recht auf Nahrung, ver-
abschiedet im November 2004 vom Rat der FAO, als Orientierungsrahmen
der deutschen Entwicklungszusammenarbeit im Bereich ländliche Entwick-
lung zu bestimmen;

5. die Integration der freiwilligen Leitlinien in alle Entwicklungsstrategien und
Strategiepapiere (PRSP – Poverty Reducation Strategy Papers, nationale Ent-
wicklungsstrategien und -programme etc.) voranzutreiben und in den inter-
nationalen Finanzinstitutionen und der WTO Initiativen zur Verankerung der
Leitlinien zu ergreifen;

6. Inhalte und Maßnahmen der deutschen Entwicklungs-, Wirtschafts-,
Handels-, Finanz-, und Umweltpolitik auf mögliche Verletzungen des
Rechts auf Nahrung in den Entwicklungsländern regelmäßig zu überprüfen;

7. auf der Ebene des Europäischen Rates eine Initiative zu starten, um die
Kohärenz aller Politiken, die eine direkte oder unmittelbare Relevanz für das
Recht auf Nahrung haben, als verbindliche Richtlinie zu etablieren, wie es
das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom 22. Mai 2008 ge-
fordert hat;

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/11203

8. in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit in Ländern mit einem sig-
nifikanten Hungerproblem ländliche Entwicklung und Hungerbekämpfung
zur Priorität zu machen. Es muss möglich sein, neben bestehenden Sektor-
schwerpunkten die ländliche Entwicklung als zusätzlichen Schwerpunkt zu
fördern;

9. die fundamentale Bedeutung von Zugang zu Land und Wasser für die er-
folgreiche Bekämpfung der strukturellen Ursachen des Hungers anzuer-
kennen, entsprechende Agrarreformen unter Wahrung rechtsstaatlicher
Prinzipien in den Partnerländern zu unterstützen und sich im Rahmen der
Welternährungsorganisation FAO für die Umsetzung der Erkenntnisse und
Beschlüsse der ICARRD (International Conference on Agrarian Reform
and Rural Development) einzusetzen. In Partnerländern mit extremer
Ungleichverteilung von Land muss die Umverteilung zugunsten marginali-
sierter und landloser Bauern und Bäuerinnen, Landarbeiter und Landarbei-
terinnen sowie die Sicherung des Zugangs zu Land und Wasser eine Priori-
tät der Zusammenarbeit sein;

10. komplementär hierzu Programme umzusetzen, die den Zugang der Armen
zu Kleinkrediten, bedarfsorientierter und angepasster Landwirtschafts-
beratung und sozialen Sicherungssystemen garantieren;

11. landwirtschaftliche Genossenschaften, Bauernverbände und andere Formen
der Selbstorganisation von Kleinproduzenten und -produzentinnen in den
Partnerländern zu stärken und die Zielgruppen der ländlichen Entwicklung
auf allen Ebenen in die Planung von Strategien und die Durchführung von
Maßnahmen und Programmen mit einzubeziehen;

12. sich bei der Zusammenarbeit im Bereich der ländlichen Entwicklung an die
in der Pariser Erklärung von 2005 und der Accra-Aktionsagenda von 2008
festgelegten Vereinbarungen zu Eigenverantwortung, Harmonisierung,
Partnerausrichtung, Ergebnisorientierung und gegenseitige Rechenschafts-
pflicht zu halten. Bei der Planung und Durchführung von Programmen
müssen der Aufbau und die Nutzung leistungsfähiger staatlicher Institutio-
nen in den Partnerländern im Vordergrund stehen;

die Unterfinanzierung der Entwicklungszusammenarbeit zu beenden:

13. gemäß der international eingegangenen Verpflichtung bis 2015 Mittel in
der Höhe von 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für die Entwick-
lungszusammenarbeit (EZ) bereitzustellen und hierfür einen Umsetzungs-
plan vorzulegen;

14. entsprechend dem von der Hunger Task Force der Vereinten Nationen (VN)
unterbreiteten Vorschlag mindestens 10 Prozent der deutschen ODA-Mittel
(Official Development Assistance) für die Förderung der ländlichen Ent-
wicklung einzusetzen und die Empfängerländer aufzufordern, im Sinne der
von der Afrikanischen Union verabschiedeten Maputo-Erklärung ebenfalls
mindestens 10 Prozent ihrer Staatshaushalte für ländliche Entwicklung be-
reitzustellen;

15. die beispielhafte, von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso an-
gekündigte Initiative zu unterstützen, 1 Mrd. Euro ungenutzter Mittel aus
der Gemeinsamen Agrarpolitik umzuwidmen und für die Förderung der
ländlichen Entwicklung einzusetzen. Mit diesen zusätzlichen Mitteln muss
vor allem die nachhaltige kleinbäuerliche Landwirtschaft in Entwicklungs-
ländern unterstützt werden, die besonders von der Nahrungsmittelkrise
betroffen sind. Auch mittel- und langfristig muss die Verwendung eines
angemessenen Teils der Mittel, die im Agrarhaushalt durch den Abbau
handelsverzerrender Subventionen frei werden, zur Förderung der Er-

nährungssicherheit und des Rechts auf Nahrung in Entwicklungsländern
eingesetzt werden;

Drucksache 16/11203 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

16. sich für die Neuverhandlung der Nahrungsmittelhilfekonvention im Sinne
der freiwilligen Leitlinien zur progressiven Umsetzung des Rechts auf
Nahrung der Welternährungsorganisation und der Beschlussempfehlung
auf Bundestagsdrucksache 16/8485 einzusetzen;

der Zerstörung der Ökosysteme und Biodiversität entgegenzuwirken:

17. die Erkenntnisse renommierter Forschungsprogramme und Situations-
analysen wie des Weltagrarberichts (IAASTD) in die Ausrichtung der deut-
schen Entwicklungszusammenarbeit einzubeziehen. Der Abschlussbericht
des Weltagrarrats mahnt insbesondere zur Hinwendung zu Ressourcen
schonenden Anbautechniken, schnellen Maßnahmen gegen die weitere
Degradierung der Böden und einer Fokussierung auf die Unterstützung von
Kleinbäuerinnen und Kleinbauern;

18. sich dafür einzusetzen, dass die Bekämpfung des Klimawandels und des
Biodiversitätsverlusts sowie die Anpassung an den Klimawandel systema-
tisch in die bilaterale und multilaterale Entwicklungszusammenarbeit und
die Strategien zur ländlichen Entwicklung integriert werden;

19. sicherzustellen, dass alle von der deutschen Entwicklungszusammenarbeit
geförderten Projekte und Programme auf ihre Relevanz für den Schutz des
Klimas und die Bewahrung der biologischen Vielfalt geprüft werden und
zu erwartende Klima- und Biodiversitätsveränderungen in die Konzipie-
rung und Umsetzung einbezogen werden;

20. die Forschungsmittel für eine umwelt- und klimaangepasste sowie bio-
diversitätsschonende Landwirtschaft aufzustocken und dabei besonders
Forschungskapazitäten in den Entwicklungs- und Schwellenländern zu ver-
bessern. Hierbei müssen die Zusammenarbeit mit Bauern und Bäuerinnen
in innovativen Ansätzen gefördert werden und die Forschung besser an die
Bedürfnisse von Kleinbauern und Kleinbäuerinnen angepasst werden. Der
Erhalt der lokalen Biodiversität und die Förderung lokaler Nutztierarten,
Feldfrüchte und Anbaumethoden sollten im Mittelpunkt der Forschung
stehen;

21. die Förderung und Weiterentwicklung von überlieferten Praktiken und
Kenntnissen angepasster, bodenschonender landwirtschaftlicher Nutzungs-
systeme sowie die Entwicklung von Innovationen sollen in Zusammen-
arbeit mit der angestammten und indigenen bäuerlichen Bevölkerung in
Programmen der ländlichen Entwicklung Vorrang genießen;

22. keine landwirtschaftlichen Entwicklungsprogramme zu fördern, die den
Einsatz von gentechnisch veränderten Organismen vorsehen;

23. die nachhaltige, ökologische Landwirtschaft verstärkt zu fördern und durch
angepasste, ganzheitlich orientierte Anbaussysteme der Verwüstung, Ver-
steppung, Umweltzerstörung und dem Verlust an Biodiversität entgegenzu-
wirken. Hierbei sollte unter anderem die Umsetzung der Programme der
Internationalen Konvention zur Bekämpfung der Desertifikation (UNCCD)
unterstützt werden;

Governance-Systeme und Handelsregime menschenrechtskonform zu gestalten:

24. darauf hinzuwirken, dass in multi-, pluri- und bilateralen Verhandlungen
das Ziel der Ernährungssicherung und das Menschenrecht auf Nahrung
Vorrang vor Wirtschafts- Handels- und Finanzfragen bekommen. Ent-
sprechend muss Entwicklungsländern der Spielraum erhalten bleiben,
Außenzölle zu erheben sowie nationale Bestimmungen zu sozialen Stan-
dards, zur Lebensmittelsicherheit und -qualität und zum Schutz von
Umwelt und Biodiversität zu erlassen. Entwicklungsländer müssen die

Möglichkeit haben, die nationale Nahrungsmittelproduktion zu sichern und
sich insbesondere vor Importfluten und Preisdumping schützen zu können;

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/11203

25. sich im Rahmen der Mitgliedschaft Deutschlands in den multilateralen
Finanzorganisationen Weltbank und Internationaler Währungsfonds dafür
einzusetzen, dass wirtschaftlich schwache Partnerländer nicht durch Kon-
ditionalitäten dazu veranlasst werden, ihre Agrarmärkte einseitig zu libera-
lisieren, und so ihre Bäuerinnen und Bauern unfairer Handelskonkurrenz
aussetzen;

26. sich im Rahmen des Reformprozesses der FAO dafür einzusetzen, dass die
Umsetzung des Rechts auf Nahrung als eine prioritäre Aufgabe der FAO
bestimmt und in die verschiedenen Arbeitsbereiche der Organisation inte-
griert wird und die Unterstützung für den internationalen Fonds für land-
wirtschaftliche Entwicklung (IFAD) verstärkt wird;

27. im Rahmen einer unabhängigen und partizipativen Monitoringkommission
die Umsetzung des Comprehensive Framework of Action der UN High
Level Task Force zur Welternährungskrise zu überwachen, insbesondere
die Effektivität und Kohärenz der getroffenen Maßnahmen mit dem Recht
auf Nahrung;

28. sich dafür einzusetzen, dass der Anbau von Agrarexportprodukten und ins-
besondere von Agrotreibstoffen, einem System von verbindlichen Men-
schenrechts- und Nachhaltigkeitskriterien unterliegt. Diese dürfen sich
nicht allein auf die Zertifizierung beschränken, sondern müssen in den Län-
dern, die Energiepflanzen oder Biosprit exportieren wollen, die gesamte
Politik mit Relevanz für die Ausübung des Rechts auf Nahrung erfassen;

29. sich dafür einzusetzen, dass alle handelsverzerrenden EU-Agrarsubventio-
nen beendet werden. Unabhängig vom Ausgang der Doha-Runde muss die
EU ihre Zusagen einhalten, alle Agrarexportsubventionen abzuschaffen,
und sollte dies unverzüglich umsetzen. Ein angemessener Teil der so frei
werdenden Finanzmittel soll für Programme zur Förderung der Ernäh-
rungssicherheit in Entwicklungsländern eingesetzt werden. Auch andere
Formen der Agrarsubventionen wie Investitionsbeihilfen und Flächen-
prämien müssen auf mögliche negative Wirkungen auf den Weltmärkten
und besonders die Kleinproduzenten in den Importländern überprüft und
gegebenenfalls umgestaltet werden;

30. sich für eine Begünstigung des Imports von landwirtschaftlichen Fair-
Trade-Produkten aus Entwicklungsländern in die EU einzusetzen und bei
der Umsetzung der EU-Vergaberichtlinie im öffentlichen Beschaffungs-
wesen ökologischen und sozialen Kriterien einen wichtigen Platz einzu-
räumen;

31. auf europäischer und internationaler Ebene die Regulierung von Finanz-
investitionen in die Rohstoffbörsen wie auch von kurzfristigen Spekulatio-
nen mit Agrarrohstoffen voranzutreiben, um starke Preisschwankungen zu
vermeiden.

Berlin, den 3. Dezember 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Drucksache 16/11203 – 6 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Begründung

Das Recht auf Nahrung umsetzen

Das Recht auf Nahrung gemäß Artikel 11 des internationalen Pakts über die
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte ist ein fundamentales
Menschenrecht. Deutschland ist als Vertragsstaat dazu verpflichtet, das Recht
auf Nahrung zu respektieren, zu schützen und zu gewährleisten. Dieses Men-
schenrecht bietet daher einen Referenzrahmen, an dem sich staatliche Politik
orientieren muss, um langfristig Hunger und Mangelernährung im Sinne der
Millenniumsziele zu überwinden. Ganz besonders gilt dies für die Bekämpfung
des chronischen Hungers in den hiervon betroffenen Entwicklungsländern und
damit auch für die Ausgestaltung von Politiken der ländlichen Entwicklung.

Dies bedeutet zum einen, dass die Ausgestaltung und Umsetzung der Entwick-
lungszusammenarbeit im Bereich der ländlichen Entwicklung konform mit
dem Recht auf Nahrung sein und sich in der konkreten Umsetzung an den von
Deutschland mitunterzeichneten freiwilligen Leitlinien zum Recht auf Nahrung
orientieren muss. Das Recht auf Nahrung erfordert, dass die marginalisierten
und verletzbaren Bevölkerungsgruppen, die am meisten von Hunger und Armut
betroffen sind, ins Zentrum von Strategien und Maßnahmen der ländlichen Ent-
wicklung gerückt werden, ihr Recht auf Nahrung einer besonderen Schutz-
pflicht obliegt. Dies verlangt, dass die Ursachen von Diskriminierung und
struktureller Benachteiligung von Frauen und Mädchen, indigenen Völkern,
Kleinbäuerinnen, Kleinbauern und anderen Kleinproduzenten durch positive
Maßnahmen, eine proaktive Politik bekämpft werden müssen.

Für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit bedeutet dies, dass ländliche
Entwicklung in Ländern mit endemischem Hunger eine Priorität sein muss, und
die Verbesserung der Lebensbedingungen verletzbarer Gruppen wiederum an
oberster Stelle der Strategien und Maßnahmen stehen muss. Außerdem muss
sich die deutsche Entwicklungszusammenarbeit auf die tiefgreifenden, struktu-
rellen Veränderungen konzentrieren, die die Erfüllung des Rechts auf Nahrung
mittel- und langfristig gewährleisten. Der Zugang zu den produktiven Ressour-
cen Land und Wasser muss Kleinbauern und -bäuerinnen, traditionellen
Fischern und Fischerinnen, Pastoralnomaden und -nomadinnen gesichert blei-
ben. Durch die ökonomische Globalisierung hat die unrechtmäßige Aneignung
kommunalen Landes und kommunaler Wasserressourcen ein erschreckendes
Ausmaß angenommen. Für den Anbau von Agrarexportprodukten durch Unter-
nehmen, Großgrundbesitzer sowie durch Spekulation und die Gewinnung von
Rohstoffen werden Menschen von ihrem angestammten Land vertrieben. Die
Missachtung des Rechts auf Nahrung und anderer Menschenrechte zerstört ge-
wachsene ländliche Wirtschafts- und Sozialstrukturen, führt zu Verelendung
und Landflucht. Menschen, die sich aus eigener Kraft von der eigenen Scholle
ernähren konnten, werden so zu mittellosen Almosenempfängern. So sind poli-
tische Konflikte um Ressourcen vorprogrammiert.

Deutschland darf daher in seiner Entwicklungszusammenarbeit nicht davor zu-
rückschrecken, das politisch sensible Thema von Agrarreformen und Land-
umverteilung zugunsten landloser Bauern und Bäuerinnen anzupacken. Um er-
folgreich zu sein, müssen solche Agrarreformen rechtsstaatlich verankert sein
und komplementäre Maßnahmen wie den Ausbau der staatlichen Förderung
von Kreditsystemen, Getreidebanken, Lagerungs-, Vermarktungs- und Trans-
portsystemen beinhalten. Die Unterstützung von landwirtschaftlichen Genos-
senschaften und anderen Formen der Selbstorganisation von Kleinproduzenten
gehört hier ebenso dazu wie der Aufbau von sozialen Sicherungssystemen im
ländlichen Raum. Im Rahmen der ICAARD-Initiative der Welternährungsorga-
nisation FAO sind wichtige Impulse enthalten, wie solche integralen Agrar-

reformen umgesetzt werden sollten, damit sie Bestand haben. An solchen Pro-
zessen, die durch langjährige Konsultationen und Austausch zwischen Basis-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/11203

organisationen und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren sowie staatlichen
Institutionen und internationalen Organisationen zustande gekommen sind,
sollte sich die deutsche Entwicklungszusammenarbeit in diesem Bereich orien-
tieren.

Die Verpflichtung, das Recht auf Nahrung zu respektieren, verlangt, dass staat-
liche Politik dauerhaft und regelmäßig ob ihrer Übereinstimmung mit dem
Recht auf Nahrung überwacht und geprüft und wo nötig korrigiert wird. Maß-
nahmen der Entwicklungszusammenarbeit können das Recht auf Nahrung ver-
letzen, so z. B. durch die Finanzierung von oder technische Zusammenarbeit in
Projekten, die zu Landvertreibungen führen.

Darüber hinaus müssen andere Politikbereiche mit den Zielen der Bekämpfung
der strukturellen Ursachen des Hungers harmonisiert werden. Die deutsche
Wirtschafts- und Finanzpolitik und ganz besonders die gemeinsame EU Han-
dels-, Agrar- und Fischereipolitik beinträchtigen auf vielfältige, direkte und we-
niger direkte Weise die Ausübung des Rechts auf Nahrung und schränken die
Möglichkeiten ländlicher Entwicklung in den Entwicklungs- und Schwellen-
ländern oftmals drastisch ein. Diese Politikbereiche müssen daher ebenfalls
durch institutionalisierte Mechanismen in ihren Auswirkungen auf das Recht
auf Nahrung überprüft und vor allem entsprechend korrigiert werden.

Erhöhung der Mittel für die ländliche Entwicklung

Der Kampf gegen Hunger und Armut in den Entwicklungsländern kann nur in
den ländlichen Gebieten gewonnen werden. Der Welternährungsorganisation
FAO zufolge lebt hier der größte Anteil der Armen und Hungernden. Hier
braucht es ebenso beherzte Rettungsaktionen und Finanzspritzen, Interven-
tions- und Regulierungsbemühungen wie in der internationalen Finanzkrise.
Deutschland hat sich international dazu verpflichtet, bis 2015 Mittel in Höhe
von 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für die Entwicklungszusam-
menarbeit aufzubringen. Davon ist Deutschland trotz der diesjährigen Aufsto-
ckung des Entwicklungsetats auf 5,7 Mrd. Euro noch weit entfernt. Gemäß dem
EU-Stufenplan besteht bereits jetzt eine Finanzierungslücke von 1,6 Mrd. Euro.
Um das 0,7-Prozent-Ziel zu erreichen, ist die Einführung von innovativen
Finanzierungsmechanismen unabdingbar: Eine Flugticketabgabe nach dem
französischen Modell könnte allein in Deutschland mindestens 300 Mio. Euro
zusätzlich pro Jahr für den Kampf gegen Klimawandel und für Entwicklung
generieren.

Die Nahrungsmittelkrise zeigt, dass die Vernachlässigung der ländlichen Ent-
wicklung in den letzten Jahren falsch war. Die Bundesregierung sollte deshalb
dem Aufruf der Hunger Task Force der Vereinten Nationen folgen, mindestens
10 Prozent der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit für eine nach-
haltige, ländliche Entwicklung bereitzustellen. Diese sollte vor allem die Klein-
bauern und Kleinbäuerinnen darin unterstützen, auf angepasste, Ressourcen
schonende Weise Grundnahrungsmittel zur Selbstversorgung und für lokale
und regionale Märkte herzustellen. Auch die Partnerländer, in denen die Ernäh-
rungslage der Bevölkerung problematisch ist, sollten ermutigt werden, hierzu
einen Beitrag zu leisten und ihrerseits 10 Prozent ihrer nationalen Haushalts-
mittel für ländliche Entwicklung aufzuwenden.

Hierzu haben sich die Staaten der Afrikanischen Union zwar bereits 2003 in der
Konferenz von Maputo verpflichtet, die Umsetzung schreitet jedoch nicht
schnell genug voran. Der Afrikanischen Union zufolge hat bisher erst jedes
fünfte afrikanische Land das Ziel erreicht. Hier ist die deutsche Entwicklungs-
zusammenarbeit gefragt: In Ländern, die ein signifikantes Hungerproblem
haben, muss auch in der Entwicklungszusammenarbeit die Förderung der klein-

bäuerlichen Produktion die oberste Priorität sein. Länderprogramme müssen
dementsprechend ausgerichtet werden und bei Regierungsverhandlungen sollte

Drucksache 16/11203 – 8 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

mehr auf den Fokus ländliche Entwicklung gedrängt werden. Es sollte daher in
der deutschen Entwicklungszusammenarbeit möglich sein, mit einzelnen Län-
dern und Regionen zusätzlich zu den bereits vereinbarten Sektorschwerpunkten
den Kampf gegen den Hunger als weiteren Schwerpunkt festzulegen.

Über strukturelle Maßnahmen hinaus sind Sofortmaßnahmen nötig, um die
unmittelbaren Folgen der Nahrungsmittelkrise abzufedern. Die Bundesregie-
rung sollte sich daher nachdrücklich dafür einsetzen, dass der beispielhafte Vor-
schlag von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso umgesetzt wird:
Ein Teil der überschüssigen Mittel in Höhe von 1 Mrd. Euro aus dem Budget
der Gemeinsamen Agrarpolitik sollen unverzüglich umgewidmet und für die
Förderung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft in den vom Hunger betroffenen
Entwicklungsländern eingesetzt werden.

Gleichzeitig muss die Fähigkeit verbessert werden, schnell zu reagieren, wenn
durch Naturkatastrophen, politische Konflikte oder Kriege eine große Anzahl
an Menschen nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu ernähren, und auf
externe Nahrungsmittelhilfe angewiesen ist. In solchen Fällen muss mittels
einer neuen Nahrungsmittelhilfekonvention flexibel reagiert werden können. In
der neuen Konvention müssen eine angemessene Quantität und Qualität der
Nahrungsmittelhilfe, die Integration der Nahrungsmittelhilfe in wirtschaftliche
Entwicklungs- und Armutsbekämpfungskonzepte gesichert und der Miss-
brauch von Nahrungsmittelhilfe als Instrument der Beseitigung von Agrarüber-
schüssen verhindert werden. Außerdem soll möglichst auf regionale Produkte
zurückgegriffen werden, um einer Destabilisierung von lokalen Marktpreisen
und damit der Gefährdung der Existenzgrundlage von Kleinbauern und Klein-
bäuerinnen entgegenzuwirken. Die Bundesregierung ist daher aufgefordert,
eine Nahrungsmittelhilfekonvention in diesem Sinne zu verhandeln und die
Beschlussempfehlung auf Bundestagsdrucksache 16/8485 umzusetzen.

Wende hin zu ressourcenschonenden und nachhaltigen Produktionssystemen

Laut dem im Oktober 2008 erschienenen Bericht der internationalen Weltnatur-
schutzorganisation IUCN wird die Zahl der vom Aussterben bedrohten Tier-
spezies auf bis zu 30 Prozent geschätzt. Das unwiederbringliche Aussterben der
pflanzlichen Artenvielfalt schreitet nicht weniger schnell voran. Alle Zahlen
deuten darauf hin, dass das globale Ziel, bis 2010 den Artenschwund zu min-
dern, nicht erreicht wird. Die vom Menschen verursachte Bedrohung der Bio-
diversität geht vor allem von Veränderungen und der Zerstörung der natürlichen
Lebensräume, der Übernutzung, der Verschmutzung und dem Klimawandel
aus.

Die Prognosen darüber, wie sich insbesondere der vom Menschen verursachte
Klimawandel auf die Produktion von Feldfrüchten und die Ernährungssicher-
heit auswirken wird, sind ebenfalls besorgniserregend. Schätzungen des Welt-
klimarats IPCC gehen davon aus, dass Afrika am stärksten vom Klimawandel
betroffen sein wird; in manchen Regionen des Kontinents könnten die Ernte-
rückgänge bis zu 50 Prozent betragen. Diese Entwicklungen bedrohen auch die
langfristige Sicherung der landwirtschaftlichen Erträge und damit der Welt-
ernährung.

Diese Erkenntnisse verlangen ein fundamentales Umdenken und schnelles
Handeln in verschiedenen Bereichen und auf globaler Ebene. Die deutsche Ent-
wicklungszusammenarbeit kann ihren Teil dazu leisten: Die Bekämpfung des
Klimawandels und die Anpassung an den Klimawandel müssen systematisch in
die bilaterale und multilaterale Entwicklungszusammenarbeit und in Strategien
zur ländlichen Entwicklung integriert werden. Alle relevanten Programme der
Entwicklungszusammenarbeit müssen sowohl auf ihre Klimarelevanz als auch

auf ihre Auswirkung auf den Erhalt der biologischen Vielfalt überprüft werden.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 9 – Drucksache 16/11203

Ein wichtiger Impuls hin zu mehr Klima- und Biodiversitätsschutz muss auch
von der Landwirtschaft ausgehen. Die konventionelle Landwirtschaft ist einer
der Hauptverursacher der Klimakatastrophe und des Artenverlusts. Die unge-
hemmte Intensivierung der Landwirtschaft und der dadurch zunehmende Ein-
satz von Energie, Wasser, Pestiziden und chemischen Düngemitteln zehrt an
den endlichen Ressourcen des Planeten. Die konventionelle Landwirtschaft ist
nach dem Energiesektor weltweit der größte Verursacher von Treibhausgasen.
Etwa 12 Prozent der weltweiten Emission von Treibhausgasen stammen
EUROSTAT und der US-Umweltbehörde zufolge aus der Landwirtschaft.
Dieser Anteil droht mit dem massiven Ausbau der Produktion von Agrotreib-
stoffen weiter zu steigen. Circa 70 Prozent des weltweiten Wasserverbrauchs
gehen dem Weltwasserrat zufolge zu Lasten der Landwirtschaft.

Auch die Agrobiodiversität ist weltweit in Besorgnis erregendem Maße gefähr-
det. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden circa 7 000 Kulturpflanzenarten
angebaut. Heute basiert die Welternährung zu einem Großteil auf nur noch zehn
Kulturpflanzenarten. Die Fruchtfolgen konzentrieren sich auf immer weniger
Kulturarten und wenige ertragsstarke Sorten. Auch bei den Nutztieren ist ein
starker Rückgang der genetischen Vielfalt zu beobachten. In der Folge sind in
den letzten 100 Jahren weltweit 1 000 der anerkannten 6 400 Nutztierrassen
ausgestorben. Die FAO hält weitere 2 000 Rassen für höchst gefährdet und gibt
an, dass zurzeit durchschnittlich zwei Nutztierrassen pro Woche aussterben.

Dem internationalen Agrarforschungsinstitut IFPRI zufolge sind bereits etwa
20 Prozent der weltweiten Agrarnutzflächen schwer degradiert. Die konventio-
nelle Landwirtschaft weiß auf diese Krise keine Antwort. Dagegen belegen eine
Vielzahl von Studien das enorme Potential der ökologischen Landwirtschaft.
Das Leitprinzip der Nachhaltigkeit, der schonende Umgang mit Ressourcen,
vielfältige Fruchtfolgen, der Einsatz von Wirtschaftsdüngern und natürlicher
Schädlingsbekämpfung – dies sind Grundlagen einer Technik, die es erlaubt,
die Erträge der konventionellen Landwirtschaft langfristig zu übertreffen. Vor
diesem Hintergrund muss dem Erhalt der biologischen Vielfalt in der Landwirt-
schaft und der damit verbundenen Anpassungsfähigkeit der Landwirtschaft an
sich wandelnde Umweltbedingungen und dem Klimawandel eine wichtigere
Stellung eingeräumt werden als bisher.

Die Forschungsmittel für eine umwelt- und klimaangepasste, ressourcen-
schonende Landwirtschaft müssen entsprechend aufgestockt werden. Eine be-
sondere Bedeutung spielt hierbei die Förderung der Forschungskapazitäten in
den Entwicklungsländern selbst. Bisher fließt ein Großteil der deutschen Unter-
stützung für Agrarforschung in die Untersuchung der konventionellen Land-
wirtschaft, darunter auch der Biotechnologie. Hierdurch wird nicht nur das
Fortbestehen kapital- und technikintensiver Produktionsmodelle gefördert, die
Kleinproduzenten und -produzentinnen mit schlechtem Marktzugang margina-
lisieren. Darüber hinaus bleiben so auch die Potentiale einer partizipatorischen,
integrativen Agrarforschung ungenutzt. Das Wissen von Kleinbauern und
Kleinbäuerinnen, Pastoralnomaden und traditionellen Fischern ist jedoch für
eine ressourcenschonende Agrarproduktion und nachhaltige ländliche Entwick-
lung unverzichtbar. Die Ausgrenzung dieser Bevölkerungsgruppen aus der Ge-
staltung und Umsetzung der Entwicklungspolitik muss beendet werden. Sie
müssen die Möglichkeit erhalten, zu Akteuren und Akteurinnen ihrer eigenen
Entwicklung zu werden.

Der Weltagrarrat IAASTD bestätigt in seinem im April 2008 veröffentlichten
Bericht, dass nur eine nachhaltige standortangepasste Landwirtschaft, die auch
auf traditionelle Anbaumethoden und Sorten zurückgreift, geeignet ist, die
heutige Ernährungskrise dauerhaft zu lösen. Die Erkenntnisse des IAASTD-

Berichts können der deutschen Entwicklungszusammenarbeit und den Ent-
scheidungsträgern in den Partnerländern wichtige Impulse für die Ausgestal-

Drucksache 16/11203 – 10 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

tung nachhaltiger Strategien der landwirtschaftlichen Entwicklung geben. Er-
neute Vorstöße in Richtung „Grüne Revolution“ sollten daher keine deutsche
Unterstützung bekommen. Denn dies hätte unabsehbare Folgen für die schon
heute bedrohten Ökosysteme und würde zu noch stärkerer Verdrängung von
Kleinproduzentinnen und -produzenten führen.

Die Debatte um Hunger, steigende Lebensmittelpreise und eine drohende
Flächenkonkurrenz zwischen Nahrungs-, Futtermittel- und Energiepflanzen
wird von Befürwortern der Agrogentechnik geschickt genutzt, um ein verstaub-
tes Argument neu aufzupolieren: Die Sicherstellung der Welternährung erfor-
dere eine Steigerung der Produktivität in der Landwirtschaft, und dies ginge nur
mit gentechnisch veränderten Pflanzen.

Gentechnisch veränderte Pflanzen sind aber nicht Teil der Lösung, sondern Teil
des Problems. Die Verheißungen der Befürworter der Agrogentechnik – Er-
tragssteigerungen, Anpassung an schlechte Klima-, Boden- oder Wasserverhält-
nisse – sind bloße Versprechungen geblieben. Die ökologischen und vor allem
auch die sozioökonomischen Risiken durch den Einsatz gentechnisch veränder-
ter Pflanzen bleiben hingegen bestehen – egal ob gentechnisch veränderte
Pflanzen nun für den Nahrungsmittelsektor oder zur Entschärfung der Flächen-
konkurrenz als Energiepflanzen angebaut werden. Globale Probleme wie Hun-
ger oder Flächenkonkurrenz werden auch nicht mit weiteren Versprechungen
gelöst, dass neue Generationen von gentechnisch veränderten Pflanzen besser
geeignet sein könnten als die erste Generation. Im Gegenteil – die bisherigen
Erfahrungen mit dem Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen zeigen: Ihr An-
bau für den Fleischkonsum und den Rohstoffbedarf der Industrieländer treibt in
Entwicklungs- und Schwellenländern die lokale Wirtschaft mit gewachsenen
kleinbäuerlichen Strukturen in neue Abhängigkeiten und zerstört die regionalen
Märkte.

Gerechte Governance- und Handelssysteme zum Vorteil der Armen

Als eine der bedeutendsten Handelsmächte der Welt ist Deutschland für die
unfaire, entwicklungsschädliche Politik von Institutionen wie EU, Weltbank,
IWF und WTO mitverantwortlich. Das globale Handelssystem benachteiligt
weiterhin die Entwicklungsländer. Die enorme Schuldenlast beschränkt den
politischen Handlungsspielraum wirtschaftlich schwacher Staaten. Die Indus-
trienationen nutzen wenig transparente Entscheidungsprozesse bei internatio-
nalen Verhandlungen und in Governanceprozessen immer wieder zu ihrem Vor-
teil. Aber auch in vielen Entwicklungsländern mangelt es an Transparenz und
Partizipation. Oftmals besteht dort wenig Interesse daran, die arme Bevölke-
rungsmehrheit und ganz besonders die Landbevölkerung am Entwicklungspro-
zess zu beteiligen.

Systembedingte Ungerechtigkeiten haben schwerwiegende Folgen für die länd-
liche Entwicklung. Als EU-Mitglied ist Deutschland wichtiger Mitgestalter
einer Agrarpolitik mit ruinösen Folgen für wirtschaftlich schwache Entwick-
lungsländer. Durch das Verkaufen von subventionierten Agrarüberschüssen und
in den Industrieländern nicht vermarktbaren Restprodukten zu Dumpingpreisen
brechen gesunde Agrarproduktionsbereiche in den Entwicklungsländern zu-
sammen. Die Folge ist, dass in vielen Ländern Millionen von Menschen ihrer
Lebensgrundlage beraubt werden. Neben den Effekten von Agrardumping auf
die Binnenproduktion sind die negativen Folgen für den regionalen Handel ver-
heerend. In Ländern Subsahara-Afrikas zum Beispiel haben subventionierte
Exporte der EU in den vergangenen Jahrzehnten den Aufbau nationaler und
regionaler Versorgungs- und Handelsstrukturen behindert. Städtische Märkte
wurden durch die künstlich verbilligten Importe mit Getreide und tierischen

Produkten versorgt. Kleinbauern und Kleinbäuerinnen hatten so kaum Absatz-
märkte im eigenen Land oder in der Region. Sie wurden so auf die Subsistenz-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 11 – Drucksache 16/11203

produktion oder bestenfalls die Versorgung wenig kaufkräftiger lokaler Märkte
zurückgeworfen.

Der drastische Anstieg der Nahrungsmittelpreise seit Mitte 2007 hat dazu ge-
führt, dass EU-Exportsubventionen für die meisten Produkte ausgesetzt wur-
den. Damit ergibt sich für Kleinbauern und Kleinbäuerinnen in vielen Ländern
die Möglichkeit, in die Produktion für den nationalen Markt zu investieren. Der
starke Rückgang der Weltmarktpreise in den letzten Monaten zeigt aber auch,
dass die Rahmenbedingungen alles andere als verlässlich sind. Wenn in dieser
Situation Exportsubventionen wieder eingeführt werden, verstärken sich der
Preisverfall und die Instabilität auf den Weltagrarmärkten. Um dies zu ver-
hindern, muss die EU verbindlich festlegen, derzeit ausgesetzte Exportsubven-
tionen nicht wieder einzuführen und die noch bestehenden kurzfristig auslaufen
zu lassen. Mit den so frei werdenden Mitteln sollte die EU dazu beitragen,
einen Teil der Schäden, die sie in der Vergangenheit durch den Einsatz von
Exportsubventionen verursacht hat, zu beseitigen.

Auch innerhalb der multilateralen Finanzorganisationen Weltbank und IWF hat
Deutschland eine Politik mitgetragen, die zur derzeitigen Krise der Landwirt-
schaft beigetragen hat. Jahrzehntelang haben die beiden Organisationen ihr
Entwicklungsmodell über Kreditkonditionalitäten implementiert. Dieses Mo-
dell beinhaltet bis heute die weitgehende Auflösung der staatlichen Steuerung
und Stützung der ländlichen Entwicklung in den Nehmerländern und eine mög-
lichst vollständige Handelsliberalisierung. Anstatt die Kreditvergabe an Libera-
lisierungen des Agrarsektors zu binden, muss den Entwicklungsländern die
Möglichkeit erhalten bleiben, ihre Wirtschaft und ihre Menschen vor Dumping-
importfluten zu schützen. Deutschland kann und sollte sich in vorderster Reihe
dafür einsetzen, dass die politischen Handlungsspielräume von agrarisch ge-
prägten und wirtschaftlich schwachen Ländern erweitert werden und diese eine
eigenständige Politik im Agrar- und Handelsbereich formulieren können.

Ein erweiterter politischer Spielraum könnte es zum Beispiel ermöglichen, dass
eine übergeordnete Strategie für die nachhaltige Entwicklung eines Landes um-
gesetzt werden könnte und Kleinproduzenten und -produzentinnen an erster
Stelle der Zugang zu lokalen und regionalen Märkten ermöglicht wird. Eine
solche Strategie könnte auch die nachteiligen Wirkungen einer einseitigen Ex-
portorientierung der Landwirtschaft vermeiden und dafür sorgen, dass Klein-
bauern und Kleinbäuerinnen aus Exporten für den internationalen Markt öko-
nomischen Nutzen ziehen können.

Innerhalb der WTO dürfen Deutschland und andere starke Staaten ihre Ver-
handlungsmacht nicht dazu missbrauchen, um eigene Handelsvorteile auf
Kosten des Rechts auf Nahrung in den Entwicklungsländern abzusichern. Inter-
nationale Handelsmaßnahmen im Rahmen der WTO dürfen nicht noch zusätz-
lich zur Beeinträchtigung der Ernährungssicherheit führen. Hierzu gehört auch
der Schutz von Gemeingütern des geistigen Eigentums. Die Ernährungssiche-
rung in vielen Agrarländern beruht zu einem großen Teil auf der Nutzung
althergebrachter Anbaupflanzen. Die Nutzung dieser Pflanzen kann durch das
Abkommen zum Schutz des geistigen Eigentums in Gefahr geraten, wenn
kommerzielle Interessen rechtliche Freiräume nutzen, um sich Patente auf diese
Pflanzen erstellen zu lassen. Kleinbauern und -bäuerinnen müssen ihr Recht auf
die Nutzung uneingeschränkt erhalten können.

Daher muss sich die Bundesregierung im Rahmen der deutschen Präsidentschaft
der Konvention über die Biologische Vielfalt (CBD) bis zum Jahr 2010 ver-
stärkt dafür einsetzen, dass ein rechtlich verbindliches Vertragswerk zum ge-
rechten Vorteilsausgleich (ABS-Protokoll) auf der nächsten Vertragsstaaten-
konferenz verabschiedet und zügig umgesetzt wird. Dabei müssen insbeson-

dere indigene Völker gleichberechtigt einbezogen und Gerechtigkeits- und
Menschenrechtsaspekte berücksichtigt werden.

Drucksache 16/11203 – 12 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
Der Anbau von Energiepflanzen nimmt weltweit zu. Es muss dringend schon
heute Korrekturen geben, damit weder das Hungerproblem verschärft wird
noch zu Lasten der biologischen Vielfalt geht. Die energetische Nutzung von
Biomasse darf nicht einhergehen mit Raubbau an der Natur und Verletzung von
Menschenrechten. Die Schaffung eines Zertifizierungssystems, das verbind-
liche ökologische und soziale Standards für den Anbau von Energiepflanzen
und die Produktion von Biosprit festlegt, ist notwendig, reicht aber nicht aus,
um auch die Ausweicheffekte zu erfassen. Deutschland muss sich auf euro-
päischer Ebene und international dafür einsetzen, dass die gesamte Politik von
Ländern, die Energiepflanzen oder Biosprit exportieren wollen, verbindlichen
Menschenrechts- und Nachhaltigkeitskriterien unterworfen wird. Nationale
Flächennutzungspläne und Ressourcenmanagement müssen an internationalen
Abkommen zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung und zum Erhalt der bio-
logischen Vielfalt ausgerichtet sein.

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.