BT-Drucksache 16/10871

zu der Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dagdelen, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. -16/7213, 16/9018- Soziale Existenzsicherung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz

Vom 12. November 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/10871
16. Wahlperiode 12. 11. 2008

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. Martina Bunge, Sevim Dag˘delen, Klaus Ernst,
Diana Golze, Dr. Hakki Keskin, Katja Kipping, Jan Korte, Kersten Naumann,
Wolfgang Neskovic, Petra Pau, Elke Reinke, Dr. Ilja Seifert, Frank Spieth,
Dr. Kirsten Tackmann, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Sevim Dag˘delen, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.
– Drucksachen 16/7213, 16/9018 –

Soziale Existenzsicherung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

In einem Klima alltäglicher Gewalt gegen Asylsuchende und unter dem Ein-
druck des Pogroms von Rostock vereinbarten die Fraktionen der CDU/CSU,
SPD und FDP im so genannten Asylkompromiss, die Leistungen für den Min-
destunterhalt für Asylsuchende durch ein eigenständiges Gesetz deutlich abzu-
senken. Das am 1. November 1993 in Kraft getretene Asylbewerberleistungsge-
setz wurde von Beginn an scharf kritisiert, weil hiermit das Leistungsrecht für
ausländerpolitische Zwecke instrumentalisiert und ein gesondertes Existenzmini-
mum nur für Asylsuchende geschaffen wurde. Diese Politik der Härte und der Ab-
schreckung gegenüber Flüchtlingen war bereits 1993 grundsätzlich abzulehnen,
angesichts der seitdem extrem rückläufigen Asylzahlen ist sie weniger denn je zu
rechtfertigen.

Auch die derzeitigen Leistungen der regulären Grundsicherungssysteme sind zu
gering bemessen, um ein soziokulturelles Existenzminimum, gesellschaftliche
Teilhabe und ein Leben in Würde sicherstellen zu können. Mit dem Asylbewer-
berleistungsgesetz jedoch wird eine solche Teilhabe und Integration in die Ge-
sellschaft über Jahre hinweg bewusst verhindert, um die Betroffenen aus diesem
Schwebezustand heraus gegebenenfalls leichter wieder abschieben zu können.

Die ungenügenden und seit 15 Jahren nicht erhöhten Regelsätze des Asylbewer-

berleistungsgesetzes, das so genannte Sachleistungsprinzip, Einschränkungen
der medizinischen Versorgung und die erzwungene Unterbringung in isolieren-
den und häufig unwürdigen Massenunterkünften greifen elementar in die Rechte
der Betroffenen ein und verstoßen gegen die zentrale grundrechtliche Verpflich-
tung aller Staatsgewalt zur Achtung der Menschenwürde.

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Das Sachleistungsprinzip wird in der kommunalen Praxis aus eben diesem
Grunde, aber auch aus finanziellen, verwaltungstechnischen oder humanitären
Gründen bereits jetzt mehrheitlich nicht mehr angewandt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem das Asylbewerberleistungsgesetz auf-
gehoben und eine menschenwürdige und diskriminierungsfreie soziale und
medizinische Versorgung von Asylsuchenden und Menschen mit unsicherem
Aufenthaltsstatus im Rahmen der allgemeinen sozialen Sicherungs- bzw. Ge-
sundheitssysteme gewährleistet wird.

Berlin, den 11. November 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Mit dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) wurde 1993 ein Sondergesetz
zur Versorgung von hilfebedürftigen Asylsuchenden geschaffen. Das AsylbLG
sieht Leistungen weit unterhalb des üblichen Existenzminimums vor, die zudem
im Regelfall als „Sachleistungen“ gewährt werden sollen. Zum Sachleistungs-
prinzip gehört auch die Unterbringung in Massenunterkünften. Die medizinische
Versorgung wurde auf die Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzen und
die zur Sicherung der Gesundheit „unerlässlichen“ Leistungen reduziert. Diese
erheblichen Einschränkungen gegenüber den sonst üblichen Sozialhilfeleistun-
gen – die ihrerseits bereits ungenügend sind und auf problematischen Berech-
nungsmodellen beruhen (vgl. Bundestagsdrucksache 16/7040) – wurden damit
begründet, dass kein „Anreiz“ geschaffen werden solle, „aus wirtschaftlichen
Gründen nach Deutschland zu kommen“. Durch Sachleistungen würde zudem
„Schlepperorganisationen der Nährboden entzogen“. Erst nach der Dauer von
(ursprünglich) einem Jahr seien Bedürfnisse nach einer sozialen Integration von
Asylsuchenden durch Anhebung der Leistungen anzuerkennen, hieß es in der
damaligen Gesetzesbegründung. Die negativen Auswirkungen des AsylbLG für
die Betroffenen werden im Übrigen verstärkt durch die erzwungene Untätigkeit
infolge von Arbeitsverboten für Asylsuchende und durch die extreme Ein-
schränkung der Bewegungsfreiheit infolge der „Residenzpflicht“.

Wie aus der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion
DIE LINKE. hervorgeht (vgl. Bundestagsdrucksache 16/9018), folgte die Höhe
der 1993 festgelegten Sätze vor allem politischem Kalkül. Denn durch die Ver-
handlungen zum so genannten Asylkompromiss war demnach „vorgegeben,
dass der Mindestunterhalt während des Asylverfahrens deutlich abgesenkt zu
den Leistungen nach dem damaligen Bundessozialhilfegesetz bestimmt werden
sollte“ (ebd., Antwort zu Frage 2e). Die Bundesregierung kann im Übrigen
keine genaueren Angaben dazu machen, auf welcher empirischen Grundlage
und nach welchen Methoden die damaligen „Kostenschätzungen“ erfolgten
(ebd.). Noch weniger kann sie erklären, weshalb die Bedarfssätze seit 1993 nicht
um einen Cent angehoben wurden, obwohl die allgemeinen Verbraucherpreise
von 1994 bis 2007 um 21,9 Prozent gestiegen sind und der Lebenshaltungs-
kostenindex zumindest als ein „Anhaltspunkt“ für eine Bedarfsanhebung ange-
sehen wird (ebd., Frage 9d). Zu der Frage, warum der Gesetzgeber 1993 der
Auffassung war, nach einem Jahr müssten soziale Integrationsbedürfnisse Asyl-

suchender anerkannt werden, diese Wartefrist im Jahr 1997 dann aber ohne

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nachvollziehbare Begründung auf drei und 2007 auf vier Jahre verlängert
wurde, gibt die Bundesregierung ebenfalls keine nachvollziehbare Antwort (vgl.
ebd., Frage 6). Für wie lange die „Dauer eines Ausschlusses von der Teilhabe
am gesellschaftlichen Leben“ (ebd.) als zumutbar erachtet wird, folgt offenbar
politischen Zielsetzungen und richtet sich nicht nach den konkreten Bedürfnis-
sen der betroffenen Menschen. Warum ein Baby oder Kleinkinder von Men-
schen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus geringere Bedürfnisse als andere
Kinder haben sollen, hat die Bundesregierung erst gar nicht zu erklären versucht
(vgl. ebd., Frage 5).

Die Behauptung in der damaligen Gesetzesbegründung, das AsylbLG solle für
einen „vorübergehenden Zeitraum“ einen Mindestunterhalt ermöglichen, der
„dem Grundsatz der Menschenwürde gerecht“ wird (Bundestagsdrucksache 12/
4451, S. 6), war wegen der Abschreckungswirkung des Gesetzes von Beginn an
zweifelhaft. Angesichts der seit 15 Jahren nicht erhöhten Sätze und der kon-
tinuierlichen Verlängerung der angeblich zumutbaren Wartezeit, in der „soziale
Integrationsbedürfnisse“ nicht anzuerkennen seien, ist diese Gesetzesbe-
gründung jedoch völlig unglaubwürdig geworden. Die Einschränkungen des
AsylbLG gelten infolge mehrfacher Gesetzesänderungen auch längst nicht mehr
nur für die „Dauer der Durchführung des Asylverfahrens“, wie die Bundesregie-
rung auf Bundestagsdrucksache 16/9018 (Antwort zu Frage 5) behauptet. Asyl-
suchende stellen nur noch etwa ein Viertel aller Leistungsempfängerinnen und
- empfänger nach dem AsylbLG dar, fast die Hälfte sind hingegen Geduldete
oder sogar Menschen mit einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen
(vgl. Bundestagsdrucksache 16/9018, Anhang 2). Dass Menschen über einen
Zeitraum von mindestens vier Jahren hinweg per Gesetz daran gehindert wer-
den, sich zu integrieren und „als selbständig handelnde Menschen am Leben der
Gesellschaft“ teilzunehmen (so das Ziel der sonst üblichen Sozialhilfe, vgl.
Bundestagsdrucksache 16/9018, Antwort zu Frage 5), ist weder mit dem Grund-
gesetz noch mit Erklärungen der Bundesregierung, Deutschland sei ein „Integra-
tionsland“, vereinbar.

Es ist vor allem das Sachleistungsprinzip und die Unterbringung in Sammelun-
terkünften, die einer Integration der Betroffenen entgegenstehen. In der Praxis
folgt eine Mehrheit der kommunalen Leistungsträger in der Bundesrepublik
Deutschland der gesetzlichen Regelvorgabe einer Sachleistungsgewährung
nicht mehr – sei es aus politischen, humanitären, pragmatisch-verwaltungstech-
nischen, finanziellen Gründen, oder weil bewusst auf diskriminierende Prakti-
ken, die mit den Grundsätzen der Menschenwürde und des Persönlichkeitsrechts
nicht vereinbar sind, verzichtet wird. Aus den Angaben der Bundesregierung
geht hervor, dass bundesweit im Jahr 2006 mehr Grundleistungen in Geld- als in
Sachleistungsform erbracht wurden. 1994 waren die Aufwendungen für „un-
bare“ Leistungen hingegen noch 2,5-mal so hoch wie Leistungen in Bargeld-
form (vgl. Bundestagsdrucksache 16/9018, Anhang 5). Das Sachleistungsprin-
zip als abschreckendes Instrument wird in den meisten Bundesländern immer
seltener angewandt. Infolge dieser Verwaltungspraxis in den Ländern „gibt es ei-
nen Sachleistungsvorrang im engeren Sinn rechtlich und faktisch nicht mehr“,
hieß es bereits in einem Gutachten über die ,Rechtliche Zulässigkeit der Gewäh-
rung von „Geld statt Gutscheinen“ durch die Landkreise und kreisfreien Städte
im Land Brandenburg‘ von Rechtsanwältin Anja Lederer vom 15. Mai 2003.

Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion DIE
LINKE. (Bundestagsdrucksache 16/9018) verdeutlicht, dass mit dem Asyl-
bewerberleistungsgesetz 1993 nicht nur zwei unterschiedliche Existenzminima
geschaffen wurden, sondern dass es in Deutschland regional auch unterschied-
liche Vorstellungen eines menschenwürdigen Umgangs mit Schutzsuchenden
gibt. Denn obwohl in den Bundesländern Bayern und Baden-Württemberg

bundesweit am wenigsten Leistungsempfängerinnen und -empfänger nach dem

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AsylbLG (relativ zur Bevölkerungsgröße) leben, wird das AsylbLG dort beson-
ders restriktiv ausgelegt.

Nur 5,9 Prozent (in Bayern) bzw. 11 Prozent (in Baden-Württemberg) der nach
dem AsylbLG Anspruchsberechtigten erhalten erhöhte Sozialleistungen nach
§ 2 AsylbLG. Im Bundesdurchschnitt sind es 27,3 Prozent (vgl. Bundestags-
drucksache 16/9018, Anhang 4).

Noch deutlicher fällt die Anwendungspraxis in Hinblick auf das Sachleistungs-
prinzip auseinander: Während der Sachleistungsanteil im Bundesdurchschnitt
im Jahr 2006 bei 36,6 Prozent lag (vgl. ebd., Anhang 6), betrug er in Bayern 87,1
Prozent, gefolgt von Sachsen und Thüringen. Wertgutscheine als Form der „un-
baren“ Leistung haben wiederum nur in Niedersachsen und Thüringen eine in
quantitativer Hinsicht größere Bedeutung.

Die Unterbringung von Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus erfolgte
2006 mehrheitlich dezentral (zu 52,4 Prozent; vgl. ebd., Anhang 4). Eine merk-
lich überdurchschnittliche Unterbringung in Massenunterkünften war hingegen
vor allem in Bayern (88,8 Prozent), Brandenburg und Thüringen festzustellen.

Von Kritikern wird in pragmatischer Hinsicht immer wieder vorgebracht, dass
das Sachleistungsprinzip zu Mehrkosten führe. Die Bundesregierung wollte
keine Angaben zu den Mehrkosten der Sachleistungsgewährung machen (vgl.
ebd., Antwort zu Frage 4). Aus den statistischen Angaben ergibt sich aber, dass
die Bundesländer mit den höchsten Sachleistungsquoten, Bayern und Sachsen,
überdurchschnittlich hohe Aufwendungen für Grundleistungen pro Person täti-
gen mussten (39 Prozent bzw. 24 Prozent über dem Bundesdurchschnitt; vgl.
ebd., Anhang 6). Diese Mehrausgaben kommen wohlgemerkt nicht den Betrof-
fenen zugute, sondern sie werden für eine diskriminierende Form der bürokra-
tisch-entmündigenden Versorgung und Unterbringung aufgewandt. Steuergel-
der werden missbraucht, um ein System der Erniedrigung und Entmündigung
aufrechtzuerhalten.

Die Proteste von Betroffenen gegen die als elementare Menschenrechtsver-
letzungen empfundenen und psychisch und physisch krank machenden Ein-
schränkungen ihrer Lebensbedingungen nehmen zu. Seit Monaten etwa gibt es
Proteste von Bewohnerinnen und Bewohnern einer so genannten Gemein-
schaftsunterkunft in Katzhütte (bei Saalfeld, Thüringen), aber z. B. auch in
Nördlingen (Bayern) und Bramsche/Blankenburg (Niedersachsen). Die Selbst-
organisation The VOICE e. V. kämpft „für die Schließung aller Isolationslager
in Thüringen/Deutschland“ (http://thevoiceforum.org/). Auch das Lagerland-
Netzwerk mit Schwerpunkt in Bayern kämpft seit 2002 mit seiner Kampagne
„Deutschland Lagerland“ gegen die erzwungene Unterbringung und Entrech-
tung von Schutzsuchenden in Massenunterkünften (http://www.fluechtlingsrat-
bayern.de/deutschland-lagerland.html). Schließlich fordert das Komitee für
Grundrechte und Demokratie im Rahmen einer Sammelpetition den Deutschen
Bundestag auf, das Asylbewerberleistungsgesetz abzuschaffen, weil die „syste-
matische Diskriminierung von Menschen im Namen des Rechts“ beendet werden
müsse (http://www.grundrechtekomitee.de/ub_showarticle.php?articleID=282).

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