BT-Drucksache 16/10691

Uneinheitliche Musterungspraxis bei Wehrpflichtigen

Vom 21. Oktober 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/10691
16. Wahlperiode 21. 10. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Kai Gehring, Alexander Bonde,
Omid Nouripour, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Dr. Uschi Eid,
Thilo Hoppe, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), Claudia Roth (Augsburg),
Manuel Sarrazin, Rainder Steenblock, Jürgen Trittin und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Uneinheitliche Musterungspraxis bei Wehrpflichtigen

Die Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland wird von vielen jungen
Männern und Frauen als ungerecht und diskriminierend empfunden. Mehr als
je zuvor ist die Musterung für den Wehrpflichtigen der entscheidende Zeitpunkt
für seine weitere Lebensplanung geworden. In den vergangenen Jahren wurden
die Anforderungen an die Tauglichkeit wiederholt geändert. Künftig, so die
Bundesregierung, benötigen die Streitkräfte verstärkt sowohl schulisch als auch
beruflich gut ausgebildete und technisch versierte Wehrpflichtige mit hohem
körperlichen Leistungsvermögen (Bundestagsdrucksache 16/8637). Eigent-
licher Grund für das Drehen an der Tauglichkeitsschraube ist die Tatsache, dass
bei Jahrgangsstärken von 350 000 bis 450 000 Wehrpflichtigen und 30 000
Stellen für Grundwehrdienstleistende nur noch weniger als 15 Prozent eines
Jahrgangs zum Grundwehrdienst herangezogen werden können.

Die Zahl der heranziehbaren Wehrpflichtigen wurde drastisch verringert und dem
gesunkenen Bedarf angepasst. Die Ausmusterungsquote ist bei den Erstmuste-
rungen von 10 Prozent (2000) über 14 Prozent (2003) auf 31 Prozent (2005)
und zuletzt 42 Prozent (2007) gestiegen (vgl. Bundestagsdrucksache 16/10468,
Antwort zu Frage 23). Die auch im internationalen Vergleich völlig aus dem
Rahmen fallende Ausmusterungsquote ist Ergebnis einer politisch gewollten
Steuerung. Unter Verweis, dass das Gros der „tauglich Gemusterten“ einen Wehr-
oder Zivildienst leistet, soll die eklatante Wehrungerechtigkeit in der Bundes-
republik Deutschland verschleiert werden. Verfassungsrechtlich ist diese will-
kürliche Praxis äußerst bedenklich.

Dem Musterungsverfahren kommt deshalb eine besondere Bedeutung zu. Von
Betroffenen werden Vorwürfe erhoben, dass die Musterungspraxis der einzel-
nen Kreiswehrersatzämter äußerst unterschiedlich ist und die Tauglichkeits-
wahrscheinlichkeit von Faktoren wie Bildungsniveau und Antragstellung auf
Kriegsdienstverweigerung beeinflusst wird.
Tauglichkeitsüberprüfungen werden in der Regel in den Kreiswehrersatzämtern
und Musterungszentren durchgeführt. Auch das Bundesamt für Zivildienst
(BAZ) nimmt Überprüfungen der Tauglichkeit vor, entweder auf eigene Veran-
lassung oder auf Antrag der Zivildienstpflichtigen. Hierbei greift das Bundes-
amt für den Zivildienst auf vertraglich gebundene so genannte beauftragte
Ärztinnen und Ärzte (B-Ärztinnen/B-Ärzte) zurück. Die B-Ärztinnen und
B-Ärzte sind vertraglich gehalten, alle Untersuchungen einschließlich der

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Tauglichkeitsbewertungen nach den „Bestimmungen für die Durchführung der
ärztlichen Untersuchung bei Musterung und Diensteintritt von Wehrpflichtigen,
Annahme und Einstellung von freiwilligen Bewerbern sowie bei der Entlas-
sung von Soldaten“ vorzunehmen und darüber ein zivildienstärztliches Gutach-
ten auszustellen. Die Empfehlungen können durch den Ärztlichen Dienst im
Bundesamt für Zivildienst korrigiert werden. Seit einiger Zeit hat die Wehrver-
waltung ebenfalls Verträge mit diesen schon für die Zivildienstverwaltung auf
vertraglicher Basis tätigen B-Ärztinnen und B-Ärzten geschlossen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie erklärt die Bundesregierung die Tatsache, dass in der Vergangenheit
und in anderen Ländern im Schnitt um die 10 Prozent eines Jahrgangs als
„untauglich“ eingestuft wurden, die Bundesregierung aber 40 bis 45 Prozent
der deutschen Wehrpflichtigen für nicht wehrdiensttauglich erklärt?

2. Stimmt der Eindruck, dass die Bundesregierung die Musterungskriterien
und die Musterungspraxis dem Rekrutierungsbedarf der Bundeswehr an-
passt?

Wenn nein, warum nicht?

3. Bis zu welcher Ausmusterungsquote ist aus Sicht der Bundesregierung die
Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht verfassungsrechtlich verantwort-
bar?

Hält die Bundesregierung es z. B. für unbedenklich, künftig über die Hälfte
eines männlichen Geburtsjahrgangs auszumustern?

4. Welches Feedback erhalten die Jugendoffiziere hinsichtlich der Wehrpflicht,
insbesondere hinsichtlich des Gerechtigkeitsaspekts?

Empfinden die Jugendlichen die Wehrpflicht als gerecht?

5. Gelten für junge Männer und Frauen, die freiwillig einen Dienst in den
Streitkräften leisten wollen die gleichen Musterungskriterien und die gleiche
Musterungspraxis wie für die Wehrpflichtigen?

6. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die Bundeswehr durch die
großzügigen Ausmusterungsgründe nicht in der Lage ist, die besten Bewer-
ber für die jeweilige Verwendung zu finden?

7. Hat der vom Bundesamt für den Zivildienst mit dem Rundbrief 1/2005 an
die B-Ärztinnen und B-Ärzte ergangene Hinweis zum Umgang mit der
GNr. 15 noch Gültigkeit?

Teilt die Bundesregierung die darin geäußerte Auffassung, dass aus der Sicht
der Streitkräfte jeglicher Missbrauch von Drogen gemäß BTM-Gesetz nicht
mit der Wehrtauglichkeit vereinbar ist, wegen der anderen Einsatzbedingun-
gen im Zivildienst dort bei der Tauglichkeitsfeststellung aber anders verfah-
ren werden soll?

8. Wie viele Wehrpflichtige wurden

a) bundesweit,

b) pro Bundesland,

c) pro Kreiswehrersatzamt/Musterungszentrum

in den vergangenen fünf Jahren pro Jahr gemustert, und wie verteilen sich
dabei die jährlichen Musterungsergebnisse prozentual auf die jeweiligen
Tauglichkeitsstufen?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/10691

9. Wie hoch war in den vergangenen fünf Jahren

a) bundesweit,

b) pro Bundesland,

c) pro Kreiswehrersatzamt/ Musterungszentrum

die jährliche Zahl der Wehrpflichtigen, die vor der Musterung bereits einen
Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer gestellt hatten oder
die bei der Musterung einen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstver-
weigerer stellten (vgl. Bundestagsdrucksache 16/5400, Tabelle 4), und wie
verteilen sich jeweils die Musterungsergebnisse von gemusterten Antrag-
stellern und Nicht-Antragstellern prozentual auf die jeweilige Tauglich-
keitsstufe?

10. Welchen Bildungsabschluss strebten in den vergangenen fünf Jahren zum
Zeitpunkt der Musterung

a) bundesweit,

b) pro Bundesland,

c) pro Kreiswehrersatzamt/ Musterungszentrum

die Musterungskandidaten im Jahresdurchschnitt an, und wie verteilen sich
jeweils die Musterungsergebnisse prozentual auf die jeweilige Tauglich-
keitsstufe?

11. Welche Musterungskapazitäten sind in den jeweiligen Kreiswehrersatzäm-
tern/ Musterungszentren gegenwärtig vorhanden?

In welchem Umfang haben sich diese Musterungskapazitäten in den ver-
gangenen fünf Jahren jeweils verändert?

12. Mit Hilfe welcher Maßnahmen hat man in jüngster Zeit versucht, die Mus-
terungskapazitäten zu verbessern?

13. Wie viele Ärztinnen und Ärzte stehen gegenwärtig

a) den jeweiligen Kreiswehrersatzämtern/Musterungszentren,

b) dem Bundesamt für Zivildienst

für Musterungsaufgaben bzw. Überprüfungsuntersuchungen zur Verfügung,
und wie viele sind dabei jeweils Angehörige der Bundeswehr bzw. auf ver-
traglicher Basis tätig?

14. In welchem Umfang und mit welchem Ziel werden B-Ärztinnen und B-Ärzte
für Musterungs- und Überprüfungsuntersuchungen eingesetzt?

15. Mit wie vielen B-Ärztinnen/B-Ärzten hat die Wehrverwaltung in den ver-
gangen fünf Jahren jeweils Verträge über die Durchführung von Unter-
suchungen im Rahmen von Musterungen und Überprüfungsuntersuchun-
gen abgeschlossen, wie viele wurden aufgehoben/beendet, und wie viele
dieser Verträge bestanden am 1. Oktober 2008 noch?

16. Wurden von B-Ärztinnen und B-Ärzten Erstmusterungen durchgeführt?

Wenn ja, wie viele in den Räumen der Kreiswehrersatzämter, und wie viele
in den Praxen oder sonstigen Diensträumen der Ärztinnen und Ärzte?

17. Welche Erfahrungen wurden mit den Untersuchungen durch B-Ärztinnen/
B-Ärzte gemacht?

Wie viele Untersuchungsverfahren konnten aufgrund der Untersuchungen
dieser Ärztinnen und Ärzte abgeschlossen werden?
In wie vielen Fällen wurden die Untersuchungsergebnisse angezweifelt
bzw. revidiert?

Drucksache 16/10691 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
18. Wie viele Ärztinnen und Ärzte wurden in den vergangenen fünf Jahren im
Jahresdurchschnitt über Dritte/Leiharbeitsfirmen für Musterungs- und
Überprüfungsuntersuchungen herangezogen?

a) Wie viele dieser Ärztinnen und Ärzte waren am 1. Oktober 2008 noch
für Kreiswehrersatzämter/das Bundesamt für Zivildienst tätig?

b) Wurde von diesen Ärzten Erstmusterungen durchgeführt?

Wenn ja, wie viele in den Räumen der Kreiswehrersatzämter, und wie
viele in den Praxen oder sonstigen Diensträumen der Ärztinnen und
Ärzte?

c) Welche Erfahrungen wurden mit diesen Untersuchungen gemacht?

Wie viele Untersuchungsverfahren konnten aufgrund der Untersuchun-
gen dieser Ärztinnen und Ärzte abgeschlossen werden?

In wie vielen Fällen wurden die Untersuchungsergebnisse angezweifelt
bzw. revidiert?

Berlin, den 21. Oktober 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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