BT-Drucksache 16/10333

Kontraproduktive US-Operationen in Pakistan sofort einstellen - Umfassende Strategie zur Stabilisierung Pakistans entwickeln

Vom 24. September 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/10333
16. Wahlperiode 24. 09. 2008

Antrag
der Abgeordneten Jürgen Trittin, Kerstin Müller (Köln), Winfried Nachtwei,
Ute Koczy, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Alexander Bonde,
Dr. Uschi Eid, Thilo Hoppe, Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg),
Manuel Sarrazin, Rainder Steenblock und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kontraproduktive US-Operationen in Pakistan sofort einstellen – Umfassende
Strategie zur Stabilisierung Pakistans entwickeln

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der schreckliche Anschlag vom 20. September 2008 auf das Marriott-Hotel in
Islamabad, dem mehr als 50 Menschen zum Opfer fielen, hat die unvermindert
gefährliche und unkontrollierbare Lage in Pakistan deutlich gemacht. Insbeson-
dere die einem staatlichen Zugriff entzogenen westlichen Stammesgebiete und
die Nordwest-Grenzprovinz sind ein dauernder Unruheherd und Ausgangspunkt
für terroristische und militante Aktivitäten in Afghanistan und Pakistan.

Nach dem Ende der Militärherrschaft Pervez Musharrafs befinden sich erstmals
wieder eine demokratisch legitimierte Regierung unter Ministerpräsident Yusuf
Raza Gilani und der neu gewählte Präsident Asif Ali Zardari im Amt. Die neue
Führung und die Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit in Pakistan müssen umfas-
send von der internationalen Gemeinschaft unterstützt werden. Zugleich muss
sie ihrerseits in die Pflicht genommen werden, sich an rechtsstaatliche Standards
zu halten und die unter Pervez Musharraf verhängten Einschränkungen der ver-
fassungsrechtlichen Ordnung rückgängig zu machen. Die von Pervez Musharraf
entmachteten und unter Hausarrest stehenden Richter müssen wieder eingesetzt
und die Unabhängigkeit der Justiz gewährleistet werden.

Dagegen sind die seit Jahresbeginn verstärkt und auf Anweisung des US-Präsi-
denten durchgeführten Angriffe auf die Grenzgebiete durch US-Militärkom-
mandos oder mit Hilfe von Drohnen, die gegen den Willen der pakistanischen
Regierung stattfinden, kontraproduktiv und verstoßen gegen das Völkerrecht.
Trotz mehrfacher Beteuerung, die pakistanische Hoheit zu respektieren, behar-
ren die USA weiterhin auf Präventivschlägen und Militäroperationen im souve-
ränen Pakistan. Diese Einsätze hatten wiederholt Opfer unter der Zivilbevöl-
kerung und in den Reihen pakistanischer Soldaten und Sicherheitskräfte zur
Folge. Die Militäraktionen der USA schwächen die pakistanische Regierung

und riskieren eine weitere Destabilisierung der Atommacht Pakistan sowie der
gesamten Region. Sie gefährden außerdem die Zustimmung der Bevölkerung
und der lokalen Regierungen zu den eigenen pakistanischen Sicherheitsopera-
tionen. Der Befehl an das pakistanische Militär, eindringende US-Kräfte abzu-
wehren und erste Zwischenfälle zwischen pakistanischen und US-Militär zeigen
die Gefährlichkeit der Lage.

Drucksache 16/10333 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Durch die Beteiligung an der ISAF-Mission (International Security Assistance
Force) und dem Wiederaufbau in Afghanistan muss Deutschland ein Interesse
daran haben, dass die Lage im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet und in
Pakistan nicht weiter eskaliert. Die Bundesregierung muss die deutsche Beteili-
gung an der mittlerweile ohne völkerrechtliche Grundlage operierenden OEF-
Mission (Operation Enduring Freedom) beenden und gegenüber den USA und
in der NATO darauf drängen, dass kontraproduktive Militäraktionen, die den
Wiederaufbau in Afghanistan untergraben, unterbleiben. Sie muss unmissver-
ständlich zu erkennen geben, dass sie militärische Aktionen ohne Zustimmung
der pakistanischen Regierung ablehnt und diese weder direkt noch indirekt un-
terstützt. Sie muss gegenüber dem Deutschen Bundestag und der Öffentlichkeit
klarstellen, dass der militärische Beitrag der Bundesrepublik Deutschland nicht
dazu dient, Militäraktionen in Pakistan oder anderen Nachbarstaaten vorzu-
bereiten. Sie darf die Spannungen in der Region nicht durch Nuklearexporte an
Indien oder Rüstungsexporte an Pakistan und Indien verschärfen. Damit gefähr-
det sie die Stabilität in der Region und den Wiederaufbau in Afghanistan.

Präsident Asif Ali Zardari hat in seiner Antrittsrede die Bekämpfung des Terro-
rismus zur ersten Priorität erklärt. Der Anschlag auf das Marriott-Hotel zeigt das
Ausmaß der Bedrohung auch für Staat und Gesellschaft in Pakistan. Die pakis-
tanische Regierung braucht Unterstützung, um die Hoheit über die betroffenen
Gebiete zu gewinnen. Eine Abkehr vom Terrorismus in den z. T. seit Jahrzehn-
ten vernachlässigten Gebieten lässt sich nicht durch militärische Kommando-
aktionen, sondern durch eine gezielte Strategie erreichen, die gemeinsam mit der
pakistanischen Regierung und den Nachbarländern entwickelt und umgesetzt
werden muss.

Die Bundesregierung und die EU haben keine eigene Strategie im Umgang mit
Pakistan und den damit zusammenhängenden regionalen Herausforderungen. Es
ist undenkbar, dass die umfangreichen Stabilisierungsbemühungen in Afgha-
nistan gelingen können, ohne gleichzeitig die inner-pakistanische Situation im
Blick zu haben. Voraussetzungen für eine Stabilisierung sind auch hier gute
Regierungsführung und eine rechtsstaatlich agierende Polizei, deren Reform
unter der Herrschaft Pervez Musharrafs verschleppt wurde. Eine massive inter-
nationale Unterstützung bei einer umfassenden Sicherheitssektorreform und die
Ausbildung einer rechtsstaatlichen pakistanischen Polizei müssen in Pakistan
ebenso hoch auf die Agenda rücken wie in Afghanistan. Notwendig sind zudem
umfangreiche Investitionen in Bildung und Entwicklung. Der Justizsektor und
die vorhandenen demokratischen Institutionen müssen mit internationaler Hilfe
gestärkt werden, die in Pakistan durchaus vorhandene Zivilgesellschaft muss
unterstützt werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich eindeutig gegen US-Militär-Operationen auf pakistanischem Staats-
gebiet ohne Zustimmung der pakistanischen Regierung auszusprechen und
die US-Regierung zu einer Aufgabe dieser völkerrechtswidrigen Militärinter-
ventionen zu drängen,

2. sich für eine sofortige Beendigung von Einsätzen in Pakistan und in Afgha-
nistan einzusetzen, bei denen ein unverantwortliches Risiko für Zivilisten
oder befreundete Sicherheitskräfte besteht,

3. die deutsche Beteiligung an OEF zu beenden,

4. zu gewährleisten, dass ISAF-Kräfte und ISAF-Fähigkeiten nicht zu völker-
rechtswidrigen oder unverhältnismäßigen Militäraktionen genutzt werden,

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/10333

5. dem Deutschen Bundestag eine umfassende Pakistan-Strategie vorzulegen,
in der sie Maßnahmen und Beiträge zur Stabilisierung und zur Förderung
von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftlicher Stabilität und Men-
schenrechten in Pakistan darlegt,

6. sich in der EU für ein abgestimmtes Vorgehen in Bezug auf Pakistan einzu-
setzen,

7. mit den internationalen Partnern und in Abstimmung mit der pakistanischen
Regierung ein umfassendes Programm zur Durchführung einer Sicherheits-
sektorreform, einer Stärkung des Justizwesens und dem Aufbau einer effek-
tiven rechtsstaatlichen Polizei als wichtige Säule innerer Stabilisierung zu
beschließen,

8. gemeinsam mit der pakistanischen Regierung, den Nachbarstaaten und in-
ternationalen Akteuren eine effektive und multidimensionale Strategie zur
Befriedung der Stammesgebiete im Westen Pakistans zu beraten, die nicht
nur militärische Maßnahmen, sondern auch die politische und ökonomische
Entwicklung in den Blick nimmt,

9. darüber hinaus die Schwerpunkte in der Entwicklungszusammenarbeit, vor
allem Grundbildung, Basisgesundheit, ländliche Entwicklung und erneuer-
bare Energien auszubauen und die Förderung der unabhängigen Justiz und
Presse sowie der Rechte der Frauen in Pakistan zu verstärken,

10. den neuen pakistanischen Präsidenten und die Regierung in ihren Stabilisie-
rungsbemühungen zu unterstützen und die Rücknahme der verfassungs-
rechtlichen Einschränkungen unter Pervez Musharraf, darunter die Wieder-
einsetzung der Richter, einzufordern,

11. das Wettrüsten zwischen Pakistan, Indien, China und anderen Staaten der
Region nicht weiter durch deutsche Rüstungslieferungen anzuheizen und
diese zu beenden,

12. darauf hinzuwirken, dass Pakistan nicht weiterhin eine Quelle der Weiter-
verbreitung von Massenvernichtungswaffen und deren Trägerwaffen bleibt,
sondern sich den internationalen Rüstungskontrollregimen anschließt.

Berlin, den 24. September 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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