BT-Drucksache 16/10065

Landenteignung und Vertreibung tausender Menschen im ostinidischen Bundesstaat Orissa

Vom 29. Juli 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/10065
16. Wahlperiode 29. 07. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Jürgen Trittin, Ute Koczy, Thilo Hoppe, Volker Beck (Köln),
Marieluise Beck (Bremen), Alexander Bonde, Dr. Uschi Eid, Kerstin Müller (Köln),
Winfried Nachtwei, Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin,
Rainder Steenblock und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Landenteignung und Vertreibung tausender Menschen im ostindischen
Bundesstaat Orissa

Im Zuge der dynamischen wirtschaftlichen Entwicklung Indiens folgen immer
mehr Unionsstaaten der Wirtschaftspolitik der indischen Bundesregierung, die
mit der Schaffung von so genannten Sonderwirtschaftszonen (Special Economic
Zones, SEZ) vermehrt ausländische Investoren ins Land locken möchte. Mit-
hilfe des Special Economic Zones Act, der 2005 vom indischen Parlament ver-
abschiedet wurde, sind bereits mehr als 220 solcher SEZ in Indien entstanden.
Ein besonderes Merkmal der SEZ ist, dass sie direkt der indischen Bundesregie-
rung unterstehen. Rechtlich befinden sich die SEZ außerhalb des indischen Zoll-
gebietes. Den indischen Unionsstaaten ist daran gelegen, Infrastruktur-, Berg-
bau- und andere industrielle Großprojekte in einer rasanten Geschwindigkeit
voranzutreiben, ohne sich der negativen Konsequenzen und Folgen für Mensch
und Natur bewusst zu werden, die aus der Errichtung einer SEZ überwiegend für
die einheimische Landbevölkerung resultiert.

Besonders deutlich wird dies im ostindischen Unionsstaat Orissa, der über
enorme Vorkommen an Bauxit, Eisenerz und Kohle verfügt. Die industrielle
Ausbeutung der Bodenschätze geht mit einer massiven Vertreibung der ein-
heimischen Landbevölkerung einher. In den vergangenen beiden Jahren hat die
Regierung von Orissa mit Kenntnisnahme und aktiver Unterstützung der indi-
schen Bundesregierung Verträge mit internationalen Stahlkonzernen unterzeich-
net, deren Projekte eine Fläche von zirka 40 500 Hektar Land beanspruchen.
Darunter fallen fruchtbares Ackerland sowie Waldgebiete, die zum größten Teil
von den Adivasi, Indiens Ursprungsbevölkerung, bewohnt werden.

Die Regierung des indischen Bundesstaates Orissa verkündete im März 2007,
dass sie für ausländische Firmen im Rahmen einer New Industrial Policy eine
neue Wirtschaftsförderung vorsehe. Hierbei nimmt das südkoreanische Unter-
nehmen POSCO (Pohang Iron and Steel Company), viertgrößter Stahlerzeuger
in der Welt, eine entscheidende Rolle ein. Grundlage der wirtschaftlichen Zu-

sammenarbeit zwischen POSCO und der bundesstaatlichen Regierung von
Orissa ist ein Memorandum of Understanding vom 22. Juni 2005, mit dem sich
der internationale Stahlkonzern zur Investition von 12 Mrd. US-Dollar in Orissa
verpflichtet. POSCO soll im Auftrag der Regierung rund 70 Kilometer östlich
der Landeshauptstadt Bhubaneshwar ein Stahlwerk mit einer Kapazität von
12 Mio. Tonnen aufbauen.

Drucksache 16/10065 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Dieses Bauprojekt bedroht die Lebensgrundlage von tausenden von Menschen.
Amnesty International zufolge müssten 22 000 Menschen ihre Heimat verlas-
sen. Zu den weiter prognostizierten Folgen zählen: Umweltverschmutzung, ver-
seuchtes Trinkwasser, Artensterben, eingeschränkte Fruchtbarkeit der landwirt-
schaftlich genutzten Flächen. Die Menschen, die das von POSCO beanspruchte
Land zum Lebenserhalt benötigen, sehen sich nun mit einer aggressiven Vertrei-
bungspolitik konfrontiert und protestieren öffentlich gegen die Inanspruch-
nahme ihres Landes. Vor allem in der Region um Kalinganagar wehren sich An-
gehörige der Adivasi vehement gegen das Vorhaben. Ihre Demonstrationen und
Proteste sind durch Gewalt und repressive Reaktionen des Staates bedroht.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie bewertet die Bundesregierung die landesweite Errichtung von Special
Economic Zones in Indien, und welche Probleme sind nach ihrer Einschät-
zung damit verbunden?

Wie beurteilt die Bundesregierung insbesondere das Ausmaß der Umwelt-
schäden, die aufgrund der SEZ landesweit in Indien entstehen?

2. Liegen der Bundesregierung Kenntnisse über die Gesamtanzahl der SEZ in
Indien vor?

3. Inwieweit sind der Bundesregierung Investitionen aus Deutschland in den
SEZ in Indien bekannt, und gab es dafür staatliche Förderungen?

4. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die indische Bundesregierung
bei der Umsetzung des Special Economic Zones Act schwerwiegende Ver-
säumnisse zulasten der Landbevölkerung und der Unwelt gemacht hat?

5. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, das Thema der durch die
Schaffung von SEZ bedingten Vertreibung der indischen Landbevölkerung
in ihren Kontakten mit der indischen Bundesregierung auf bi- und multi-
lateraler Ebene zur Sprache zu bringen?

6. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung für ihre bilateralen Bezie-
hungen mit Indien aus der Landnahme und der Vernichtung von Lebens-
raum durch die Schaffung von SEZ, vor allem in Hinblick auf die entwick-
lungspolitische Zusammenarbeit?

7. Welchen Beitrag will die Bundesregierung nutzen, um seitens der indischen
Regierung die Bereitschaft zu stärken, eine nachhaltige humane und ökolo-
gische Entwicklung zu sichern?

8. Liegen der Bundesregierung bereits Erkenntnisse vor über die Umsetzung
der im letzten Jahr vorgenommenen Gesetzesänderungen in Indien, welche
die Landnahme vereinfachen sollen?

9. Wie beurteilt die Bundesregierung den Grad der Umweltverschmutzung im
Bundesstaat Orissa, und wie schätzt sie umweltpolitische Bemühungen der
Regierung von Orissa zur Verbesserung der Rahmenbedingungen ein?

10. Sind der Bundesregierung Projekte nationaler und internationaler Nicht-
regierungsorganisationen bekannt, die sich des Problems der Landnahme
und der massiven Umweltschäden annehmen, und wenn ja, welche Mög-
lichkeiten sieht die Bundesregierung, diese Projekte zu unterstützen?

11. Liegen der Bundesregierung Kenntnisse über den aktuellen Stand des Baus
eines Stahlwerkes im ostindischen Bundesstaat Orissa durch das südkorea-
nische Unternehmen POSCO vor?

12. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung von der drohenden Vertrei-

bung der Adivasi in Orissa, besonders, rund um die Region Kalinganagar,
im Zuge des geplanten Stahlwerkbaus?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/10065

13. Liegen der Bundesregierung Kenntnisse vor, dass es im Frühjahr 2008 bei
Demonstrationen gegen den Bau des Stahlwerkes in Jagatsinghpur und
Kalinga Nagar durch das Eingreifen von Militär und Polizei mehrfach zu
Toten unter den Adivasi gekommen sein soll?

14. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung zu den Ereignissen des
21. Juni 2008, bei denen während einer friedlichen Demonstration in der
Nähe der Stadt Dhinkia, 180 km östlich von der Bundeshauptstadt
Bhubaneswar, vier Anhänger des Anti- POSCO Movement in Folge eines
Anschlages schwer verletzt und ein Mann dabei getötet wurde?

15. Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse vor, dass im Februar 2008
50 Familien aus der Region um Dhinka, Nuagaon und Gadakujang gewalt-
sam von Vertretern der orissischen Behörden von ihrem Landbesitz ver-
trieben wurden?

16. Liegen der Bundesregierung Kenntnisse vor, dass staatliche Behörden an
der gewaltsamen Vertreibung der Bevölkerung beteiligt sind?

a) Gehen die Menschenrechtsverletzungen bei der Landnahme von Streit-
kräften und der Polizei aus?

Wenn ja, welchen Umfang haben diese Verletzungen, und von wem wer-
den sie begangen?

b) Was unternehmen die indische Bundesregierung sowie die einzelnen
Regierungen der Unionsstaaten, um diese Verletzungen abzustellen?

c) Kommt es im Falle solcher Verletzungen zu Ermittlungen, Gerichtsver-
fahren und Verurteilungen auf Bundes- und Landesebene?

17. Wie beurteilt die Bundesregierung Angaben von Menschenrechtsorganisa-
tionen, wonach insbesondere die Adivasi und kastenlosen Dalits von der
Enteignung ihres Grund und Bodens betroffen sind?

18. Wie beurteilt die Bundesregierung im Allgemeinen die Situation der
Adivasi und Dalits in Indien und vor allem im ostindischen Bundesstaat
Orissa?

19. Gab es in den letzten Jahren seitens der indischen Bundesregierung recht-
liche Initiativen, die eine Landenteignung der Adivasi vorsahen, und wenn
ja, welche?

20. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung in ihrem Menschen-
rechtsdialog, das Thema des besonderen Schutzes der Minderheiten, ins-
besondere der Adivasi und Dalits, mit Indien anzusprechen?

21. Wie beurteilt die Bundesregierung die Menschenrechtssituation anderer
Minderheiten, wie die der Christen, anderer religiöser Minderheiten sowie
die der Homosexuellen, im Bundesstaat Orissa?

Berlin, den 29. Juli 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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