BT-Drucksache 14/5876

Zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner-Heide

Vom 9. April 2001


Deutscher Bundestag Drucksache 14/5876
14. Wahlperiode 09. 04. 2001

Antrag
der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Ernst Bahr, Sylvia Voß, Ingrid Arndt-Brauer,
Volker Beck (Köln), Angelika Beer, Wolfang Behrendt, Matthias Berninger,
Hans-Günter Bruckmann, Annelie Buntenbach, Dr. Peter Wilhelm Danckert,
Peter Dreßen, Dr. Thea Dückert, Franziska Eichstädt-Bohlig, Hans-Josef Fell,
Gabriele Fograscher, Rainer Fornahl, Konrad Gilges, Wolfgang Grotthaus,
Christel Hanewinckel, Winfried Hermann, Antje Hermenau, Ulrike Höfken,
Ingrid Holzhüter, Michaele Hustedt, Hans-Peter Kemper, Siegrun Klemmer,
Dr. Angelika Köster-Loßack, Angelika Krüger-Leißner, Werner Labsch, Brigitte
Lange, Christine Lehder, Steffi Lemke, Eckhart Lewering, Dr. Helmut Lippelt,
Dr. Reinhard Loske, Winfried Mante, Markus Meckel, Ulrike Mehl, Kerstin Müller
(Köln), Jutta Müller (Völklingen), Andrea Nahles, Christa Nickels, Cem Özdemir,
Bernd Reuter, René Röspel, Albert Schmidt (Hitzhofen), Dr. Emil Schnell, Karsten
Schönfeld, Werner Schulz (Leipzig), Ewald Schurer, Dr. Angelica Schwall-Düren,
Christian Simmert, Dr. Margrit Spielmann, Christian Sterzing, Reinhold Strobl
(Amberg), Hans-Christian Ströbele, Jella Teuchner, Uta Titze-Stecher, Dr. Antje
Vollmer, Klaus Wiesehügel, Helmut Wilhelm (Amberg), Barbara Wittig

Zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Seit 1992 beabsichtigt das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg), in
der Kyritz-Ruppiner Heide/Brandenburg auf dem Gelände des ehemaligen
„Bombodroms“ der sowjetischen Streitkräfte einen Luft/Boden-Schießplatz
einzurichten. Das Ministerium stützt sich auf das am 14. Januar 1993 vom
Deutschen Bundestag gebilligte Truppenübungsplatzkonzept. Gemäß Truppen-
übungsplatz-Nutzungskonzept soll der Luft/Boden-Schießplatz Wittstock für
bis zu 3 000 Einsätze/Jahr, die beiden anderen inländischen Schießplätze Nord-
horn und Siegenburg für bis zu 3 200 bzw. 1 000 Einsätze/Jahr zur Verfügung
stehen. Wegen des Rechtsstreits mit vielen Anrainergemeinden konnte der
Übungsbetrieb über Jahre nur in geringem Umfang stattfinden. Seit dem Urteil
des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Dezember 2000 darf der Platz vorerst
nicht weitergenutzt werden. Eine breite und in der Region stark verankerte
Bürgerbewegung widersetzt sich seit 1992 den Plänen der Bundesregierung.
Sie fand dabei in der Vergangenheit auch auf Landes- und Bundesebene breite
politische Unterstützung. Bestritten wird die Rechtmäßigkeit und sicherheits-
politische Unverzichtbarkeit des militärischen Nutzungsanspruches. Nach
Jahrzehnten intensivster Lärmbelastung durch den Übungsbetrieb der sowjeti-
schen Streitkräfte soll die Heide ihre zivilen Entwicklungspotentiale wahrneh-
men können.

Drucksache 14/5876 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. im Rahmen der gegenwärtigen Bundeswehrreform und der Fortschreibung
des Truppenübungsplatzkonzeptes Vorschläge zu unterbreiten, wie die
Belastungen der Bevölkerung im Umfeld der Luft-Boden-Schießlätze in
Nordhorn und Siegenburg deutlich reduziert werden können,

2. auf einen künftigen Luft/Boden-Schießplatz Wittstock zu verzichten und
eine zivile Nutzung der Liegenschaft zu ermöglichen,

3. das Land Brandenburg bei der Räumung der Munitionsaltlasten auf dem
ehemaligen sowjetischen Übungsplatz maßgeblich zu unterstützen.

Berlin, den 10. April 2001

Begründung
1. Zur Gewährleistung ihrer Einsatzbereitschaft benötitgt die Bundeswehr aus-

reichend Übungsplätze und -einrichtungen, um die notwendigen Einsatzver-
fahren üben zu können. Der Übungsbedarf steht immer wieder in einem
Zielkonflikt zwischen den Ansprüchen der Bevölkerung auf Lärmschutz,
den Belangen des Umweltschutzes und der Regionalentwicklung. Dabei gilt
das Postulat, die Belastungen von Bevölkerung und Umwelt durch den
militärischen Übungsbetrieb so gering wie möglich zu halten. Dies kann
geschehen durch entsprechende Maßnahmen auf dem Übungsplatz, durch
Regelungen des Übungsbetriebes, durch alternative Übungsarten und Über-
prüfung des Übungsbedarfs.

2. Das Truppenübungsplatz-Nutzungskonzept vom 24. August 1993, aktua-
lisiert am 30. März 1998 und angepasst am 1. Juni 1999, legt die verbind-
lichen Nutzungsvorgaben für die einzelnen Truppenübungsplätze fest. Es
sieht für die Luft/Boden-Schießplätze Nordhorn-Range bis zu 3 200 Ein-
sätze/Jahr vor, für Siegenburg 1 000 und für Wittstock 3 000. In der Witt-
stocker Heide soll an 35 Wochen im Jahr mit Übungsmunition geflogen wer-

Winfried Nachtwei
Ernst Bahr
Sylvia Voß
Ingrid Arndt-Brauer
Volker Beck (Köln)
Angelika Beer
Wolfang Behrendt
Matthias Berninger
Hans-Günter Bruckmann
Annelie Buntenbach
Dr. Peter Wilhelm Danckert
Peter Dreßen
Dr. Thea Dückert
Franziska Eichstädt-Bohlig
Hans-Josef Fell
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Konrad Gilges
Wolfgang Grotthaus
Christel Hanewinckel
Winfried Hermann

Antje Hermenau
Ulrike Höfken
Ingrid Holzhüter
Michaele Hustedt
Hans-Peter Kemper
Siegrun Klemmer
Dr. Angelika Köster-Loßack
Angelika Krüger-Leißner
Werner Labsch
Brigitte Lange
Christine Lehder
Steffi Lemke
Eckhart Lewering
Dr. Helmut Lippelt
Dr. Reinhard Loske
Winfried Mante
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Kerstin Müller (Köln)
Jutta Müller (Völklingen)
Andrea Nahles

Christa Nickels
Cem Özdemir
Bernd Reuter
René Röspel
Albert Schmidt (Hitzhofen)
Dr. Emil Schnell
Karsten Schönfeld
Werner Schulz (Leipzig)
Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Christian Simmert
Dr. Margrit Spielmann
Christian Sterzing
Reinhold Strobl (Amberg)
Hans-Christian Ströbele
Jella Teuchner
Uta Titze-Stecher
Dr. Antje Vollmer
Klaus Wiesehügel
Helmut Wilhelm (Amberg)
Barbara Wittig

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/5876

den, mit einer Pause während der Brandenburger Sommerferien und an den
großen Feiertagen. Zusätzlich soll das Heer in zehn Wochen/Jahr in Kompa-
nie- und Bataillonsstärke ohne Gefechtsmunition üben können.

3. Ein Luft/Boden-Einsatz bedeutet bis zu 12 Anflüge auf ein Ziel beim Stan-
dard-Einsatzverfahren. Dabei kann auf deutschen Plätzen die generelle Tief-
fluggrenze von 300 m bis auf 30 m, die erforderliche Waffeneinsatzhöhe,
unterschritten werden. 1992 absolvierte die Bundeswehr 71 % ihrer 13 531
Luft/Boden-Einsätze im Ausland in äußerst dünn besiedelten Gebieten und
29 % im Inland, und zwar auf den Plätzen Nordhorn (1 195, dazu 1 378 der
Alliierten) und Siegenburg (776, dazu 484 der Alliierten), die unter briti-
scher (bis 2002) bzw. US-amerikanischer Verwaltung stehen. 1994 flog die
Bundeswehr erstmalig 161 Einsätze in Wittstock. 1999 absolvierte die Bun-
deswehr 74 % der insgesamt 5 800 Luft/Boden-Übungseinsätze im Ausland
und 26 % im Inland, davon in Nordhorn 800 (dazu 798 Alliierte), Siegen-
burg 494 (44 Alliierte) und Wittstock 196 (ohne Übungsmunition, keine
Alliierte).

4. Die „Grobausplanung“ der Bundeswehr vom Oktober 2000 sieht die Redu-
zierung der bisher fünf auf vier Jagdbombergeschwader vor. Der Übungs-
bedarf der fliegenden Verbände der Bundeswehr (taktische Verbandsausbil-
dung) wird aus dem Tactical Combat Training Program (TCTP) abgeleitet,
das sich an den Rahmenbedingungen aktueller und künftiger Einsätze orien-
tiert. Das TCTP hat seit 1990 erhebliche Veränderungen erfahren und wird
laufend überprüft und revidiert. Nach Auskunft des Verteidigungsministe-
riums soll es künftig eine weitere Differenzierung der am Bedarf orientier-
ten Ausbildung geben, zudem ist man – nicht zuletzt aus Kostengründen –
ständig auf der Suche nach Ersatz für die Vollübungen (Simulation).

5. Bei Aufstellung des Truppenübungsplatzkonzeptes im Jahr 1993 flog die
Bundesluftwaffe insgesamt 13 531 Luft/Boden-Einsätze, 1999 waren es mit
5 800 weniger als die Hälfte, trotz gestiegener Anforderungen durch Aus-
landseinsätze. 1999 lagen die Planzahlen für die Inlandseinsätze mit 7 200
mehr als dreimal so hoch wie die realen Einsatzzahlen (2 332) – bei weiter
sinkender Tendenz auf Seiten der Alliierten. Angesichts der geplanten Re-
duzierung der Luftangriffsverbände der Bundeswehr um 20 %, der weiteren
Differenzierung der fliegerischen Ausbildung und der Suche nach weiteren
Alternativmöglichkeiten erscheint eine weitere Senkung der Luft/Boden-
Einsatzübungen im Inland sehr wohl möglich. Damit kann auf einen Luft/
Boden-Schießplatz Wittstock verzichtet werden, ohne dass dadurch die Ein-
satzbereitschaft der Luftwaffe geschmälert oder die Belastung auf den bei-
den übrigen Schießplätzen erhöht würde.

6. Besonderes Merkmal des Tieffluglärms im Unterschied z. B. zu schweren
LKWs ist, dass er überfallartig auftritt und vor allem bei kleinen Kindern,
Alten, Kranken sowie Tieren schockartig wirkt. Das Sondergutachten „Um-
welt und Gesundheit“ des Sachverständigenrates für Umweltfragen vom
August 1999 stellte fest, dass Gesundheitsbeeinträchtigungen durch Lärm
bisher besonders unterschätzt worden seien. Das Bundesministerium für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit arbeitet zurzeit an einer Novel-
lierung des Fluglärmgesetzes, das seit 1971 praktisch unverändert ist. Ziel
ist, den Fluglärm auf gesundheitlich unbedenkliche Werte zu reduzieren.
Die Grenze dauerhafter Lärmbelastungen soll tagsüber unter 65 Dezibel (A)
liegen. Oberhalb dieses Wertes liegt ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-
Krankheiten vor.

7. Das Bestreben, im Raum Nordhorn und Siegenburg die Belastung für die
Bevölkerung zu verringern, ist überfällig. Das Grundrecht auf körperliche
Unversehrtheit wird dort seit vielen Jahren beeinträchtigt. Dabei scheint das
Ansinnen, dies durch eine „gerechtere“ Verteilung von Belastungen zu errei-
chen, zunächst plausibel. Die Umverteilung Richtung Brandenburg lässt

Drucksache 14/5876 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
allerdings außer acht, dass die Bevölkerung um die Kyritz-Ruppiner Heide
über Jahrzehnte in extremer Weise unter dem Lärm der sowjetischen Luft-
waffe zu leiden hatte. Diese flog bis zu 18 000 Einsätze/Jahr mit scharfer
Munition und Bomben, 1992 waren es noch 5 342. An manchen Tagen gab
es 450 Anflüge! Daraus ergibt sich ein moralischer und historischer An-
spruch und Nachholbedarf auf eine zivile Perspektive für die Region, auf
ein Leben ohne militärischen Tieffluglärm. Von daher ist die einzig sinn-
volle Perspektive, den jetzigen Übungsbedarf zu überprüfen und nach Mit-
teln und Wegen zu suchen, die Zahl der Luft/Boden-Übungen im Inland
weiter abzusenken.

8. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte mit Urteil vom 14. Dezember
2000 das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Potsdam vom März 1999,
wonach der frühere sowjetische Truppenübungs- und Bombenabwurfplatz
derzeit nicht von der Bundeswehr weitergenutzt werden darf. Das Gericht
sieht wohl eine gesetzliche Grundlage für die weitere militärische Nutzung
des Geländes für gegeben. Allerdings hätten die klagenden Gemeinden
gleichwohl einen Unterlassungsanspruch, weil sie vor der Nutzungsent-
scheidung des Bundes nicht in der gebotenen Weise angehört worden
seien. Ihre Betroffenheit und ihre planerischen Vorstellungen vor allem in
Bezug auf die städtebauliche Entwicklung seien nicht ausreichend ermittelt
und in die Abwägung gestellt worden. Erforderlich sei ein ordentliches An-
hörungsverfahren. Dabei könne auch die Vorbelastung, die sich aus der
jahrelangen Existenz eines intensiv genutzten Militärareals ergibt, bei der
Interessenabwägungen nicht außer Betracht bleiben. Damit bestätigte das
oberste Gericht die Wahrnehmung vieler Bürgerinnen und Bürger der
Region, die die Nutzungsentscheidung des Bundes als rechtsstaatlich in
keiner Weise überzeugend empfunden hatten. Für den Fall, dass der Bund
seinen militärischen Nutzungsanspruch aufrecht erhält, ist mit einem zeit-
aufwendigen Verfahren und weiterem Rechtsstreit zu rechnen. Dadurch
wird die Planungssicherheit der Gemeinden wie der Bundeswehr auf lange
Zeit in erheblichem Maße eingeschränkt.

9. In den letzten Jahren entstanden vor allem im Raum Wittstock Hoffnungen
auf den Truppenübungsplatz mit Garnison als Wirtschaftsfaktor. Planungen
des Ministeriums stellten eine Garnison mit ca. 1 200 Soldaten (davon
ca. 200 Berufs- und Zeitsoldaten) und 165 Zivilbeschäftigten, 310 Mio. DM
für Investitionen in die Infrastruktur und 110 bis 330 Mio. DM für die
Munitions- und Altlastenräumung in Aussicht. Angesichts der aus dem
Stationierungskonzept resultierenden Standortreduzierungen und -schlie-
ßungen und des Interesses der Bundeswehr an Rationalisierungsgewinnen
erscheint die Errichtung einer neuen Garnison nicht rational und höchst
unwahrscheinlich. Zugleich wäre es anderen Bundeswehrstandorten nur
schwer vermittelbar, wenn sie im Zuge der Umstrukturierung schließen
müssten, während im Raum Wittstock eine neue Garnison entstehen würde.

10. Ein Luft/Boden-Schießplatz Wittstock ist keinesweges unverzichtbar für
den Erhalt der Einsatzfähigkeit der Bundeswehr angesichts eines deutlich
gesunkenen Übungsbedarfs und weiterer Reduzierungsmöglichkeiten. Die
jahrzehntelange Extrembelastung durch sowjetische Luft/Boden-Übungen
begründet einen Nachholbedarf an Ruhe und ziviler Regionalentwicklung.
Die geplante militärische Nutzung der Heide droht der Region in erster
Linie Lasten, aber kaum wirtschaftlichen Nutzen zu bringen. Die Freigabe
der Kyritz-Ruppiner Heide würde den Menschen der Region nach Jahr-
zehnten eine besonders reizvolle Landschaft zurückgeben und eine umfas-
sende Entwicklung ihrer vor allem touristischen Potentiale erlauben.

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