BT-Drucksache 14/5285

Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung im In- und Ausland

Vom 7. Februar 2001


Deutscher Bundestag

Drucksache

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14. Wahlperiode

07. 02. 2001

Große Anfrage

der Abgeordneten Rudolf Bindig, Lilo Friedrich (Mettmann), Angelika Graf
(Rosenheim), Brigitte Adler, Herrmann Bachmaier, Dr. Hans-Peter Bartels, Ingrid
Becker-Inglau, Anni Brandt-Elsweier, Bernhard Brinkmann (Hildesheim), Ursula
Burchardt, Detlef Dzembritzki, Dieter Dzewas, Petra Ernstberger, Hans Forster,
Arne Fuhrmann, Monika Ganseforth, Renate Gradistanac, Kerstin Griese,
Hans-Joachim Hacker, Klaus Hagemann, Christel Hanewinckel, Alfred Hartenbach,
Reinhold Hemker, Frank Hempel, Monika Heubaum, Ingrid Holzhüter, Christel
Humme, Karin Kortmann, Anette Kramme, Helga Kühn-Mengel, Christine
Lambrecht, Christine Lehder, Christa Lörcher, Winfried Mante, Dirk Manzewski,
Tobias Marhold, Lothar Mark, Heide Mattischeck, Dr. Jürgen Meyer (Ulm), Volker
Neumann (Bramsche), Margot von Renesse, Birgit Roth (Speyer), Dr. Hansjörg
Schäfer, Dagmar Schmidt (Meschede), Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Regina
Schmidt-Zadel, Richard Schuhmann (Delitzsch), Dr. R. Werner Schuster, Erika
Simm, Rolf Stöckel, Joachim Stünker, Uta Titze-Stecher, Adelheid Tröscher, Hedi
Wegener, Hildegard Wester, Brigitte Wimmer (Karlsruhe), Hanna Wolf (München),
Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika
Köster-Loßack, Irmingard Schewe-Gerigk, Claudia Roth (Augsburg), Kerstin
Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung im In- und Ausland

Bereits in der 13. Legislaturperiode hat sich der Deutsche Bundestag mit Geni-
talverstümmelung an Mädchen und Frauen befasst und in einer interfraktionel-
len Beschlussempfehlung (Bundestagsdrucksache 13/10682) festgestellt, dass
es sich dabei um eine schwere Menschenrechtsverletzung handelt und Frauen
und Mädchen zu schützen sind. In vielen Aspekten kommt Genitalverstümme-
lung der Folter gleich und verletzt das Menschenrecht auf körperliche Unver-
sehrtheit.

Menschenrechtsorganisationen wie Terre des Femmes und Menschenrechtle-
rinnen wie Alice Walker

1)

tragen das Thema seit Jahren in die Öffentlichkeit.
Mit ihrem autobiographischen Buch „Wüstenblume“ hat es die somalische
UN-Sonderbotschafterin Waris Dirie erneut und eindringlich in die Diskussion
gebracht.

Nach wie vor werden weltweit pro Jahr etwa zwei Millionen Mädchen an ihren
Geschlechtsorganen verstümmelt; insgesamt sind etwa 130 Millionen Frauen
betroffen, von denen die meisten in Afrika leben. Befürworter der Genitalver-

1)

Walker, Alice/Parmar, Pratibha, Narben oder die Beschneidung der weiblichen Sexualität, Hamburg 1996.
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stümmelung berufen sich auch auf die jeweilige Religion. Tatsächlich jedoch
wird genitale Verstümmelung von keiner Religion gefordert. Sie ist vielmehr
Ausdruck gesellschaftlicher Strukturen, die von Männern geprägt sind und
Frauen diskriminieren. In vielen Fällen finden genital unversehrte, also nicht
verstümmelte Frauen, keinen Ehemann und werden aus der Gemeinschaft ver-
stoßen. Je ärmer die Familien, um so stärker lastet auf ihnen der Druck, ihre
Töchter verstümmeln zu lassen. Selbst ihr Tod – bei der Infibulation als der
radikalsten Form liegt die Todesrate bei 30 % – wird um der Tradition und der
Familienehre willen einkalkuliert.

Durch Migration und Flucht sind viele Familien aus Ländern, in denen Genital-
verstümmelung praktiziert wird, nach Deutschland gekommen und halten auch
hier vielfach an dieser Praxis fest. Schätzungsweise 21 000 von Genitalver-
stümmelung betroffene Mädchen und Frauen leben in Deutschland. Obwohl
Genitalverstümmelung nach deutschem Recht strafbar ist, gibt es auch hier Per-
sonen, die zur Verstümmelung bereit sind, wie dies z. B. in einem Bericht der
Fernsehsendung „Report“ 1999 konkret belegt wurde. Über gesundheitliche
Folgen und strafrechtliche Bestimmungen besteht bei den in Deutschland le-
benden Migrantinnen und Flüchtlingen bzw. bei ihren Familien dringender
Aufklärungs- und Beratungsbedarf.

Begrüßenswert ist die am 7. Juni 2000 vom Kabinett verabschiedete Änderung
der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zu dem § 53 Abs. 4 und 6 Auslän-
dergesetz (AuslG), in denen drohende Genitalverstümmelung als Abschie-
bungshindernis ausdrücklich genannt ist. In Deutschland wird Genitalverstüm-
melung aber nicht als Asylgrund bzw. als Grund für die Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft anerkannt, da diese Form der sexuellen Gewalt dem pri-
vaten Bereich zugeordnet und damit als nicht asylrelevant eingestuft wird.

Weltweit gibt es vielfältige und durchaus erfolgreiche Anstrengungen, Genital-
verstümmelung zu ächten. Im April 1997 stellten WHO, UNICEF und UNFPA
einen gemeinsamen Plan vor, der dazu führen soll, dass Genitalverstümmelung
innerhalb der nächsten zehn Jahre stark eingedämmt und innerhalb der nächs-
ten drei Generationen völlig ausgerottet sein wird. Im Mittelpunkt des Plans
stehen Ächtung der Genitalverstümmelung als Menschenrechtsverletzung, ziel-
gruppenorientierte Aufklärung der Öffentlichkeit und Förderung nationaler
Kampagnen zur Abschaffung dieser Praxis. Eine Signalwirkung auf internatio-
naler Ebene ging im April dieses Jahres von der 56. UN-Menschenrechtskom-
mission in Genf sowie im Juni von der UN-Sonderkonferenz „Frauen 2000“ in
New York aus. Dort wurde Genitalverstümmelung als Gewalt gegen Frauen
und als Verletzung der Menschenrechte verurteilt.

In Ländern wie Ägypten, wo über 80 % aller Frauen – Musliminnen wie kopti-
sche Christinnen – verstümmelt sind, in Burkina Faso, Djibuti, Ghana, Guinea-
Conakry, dem Senegal, Togo und in der Zentralafrikanischen Republik ist
Genitalverstümmelung mittlerweile gesetzlich verboten. In diesen Ländern,
aber auch in solchen, in denen sie gesetzlich noch nicht verboten ist, gibt es
immer mehr lokale Initiativen, die Aufklärungsarbeit leisten. Einheimische
Frauengruppen, politische und religiöse Meinungsführer, Hebammen und ehe-
malige Beschneiderinnen sind besonders geeignet, zu diesem kulturell höchst
sensiblen Thema einen Diskussionsprozess anzustoßen, an dessen Ende ein ge-
wandeltes gesellschaftliches Wertesystem stehen wird, in dem Frauen eine an-
dere, sicher weniger untergeordnete Rolle als bisher spielen. Der Senegal ist ein
ermutigendes Beispiel: Dort wurde 1999 Genitalverstümmelung verboten und
mit hohen Haft- und Geldstrafen belegt. Vorausgegangen war, dass 31 Dörfer
beschlossen hatten, Mädchen nicht länger zu beschneiden. Dies war ein Ergeb-
nis jahrelanger Aufklärungsarbeit von Nichtregierungsorganisationen, die von
UNICEF unterstützt worden waren.
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Ein gesetzliches Verbot der Genitalverstümmelung ist ein erster wichtiger
Schritt. Die tatsächliche Abschaffung kann jedoch nur über einen gesellschaft-
lichen Prozess gelingen, der von außen durch bilaterale und multilaterale Hilfe
gezielt unterstützt werden sollte. Besonders wichtig ist dabei die Aufklärung
der potenziell betroffenen Frauen und deren Familien sowie der Beschneiderin-
nen. Hier ist auch die Bundesrepublik Deutschland gefordert. Im 5. Bericht
über ihre Menschenrechtspolitik in den Auswärtigen Beziehungen stellt die
Bundesregierung Genitalverstümmelung als eines von sieben Brennpunktthe-
men vor und schildert einige ihrer Maßnahmen, insbesondere in afrikanischen
Ländern.

Der Deutsche Bundestag hat 1998 in seiner Beschlussempfehlung eine Reihe
konkreter Handlungsempfehlungen ausgesprochen. Zwei Jahre danach ist es an
der Zeit, die Fortschritte beim Kampf gegen die Genitalverstümmelung erneut
zu überprüfen.

1. In welcher Weise fördert die Bundesregierung den gemeinsamen Plan von
WHO, UNICEF und UNFPA zur Abschaffung der Genitalverstümmelung?

2. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, insbesondere jene Pro-
jekte von UNICEF, die auf die Abschaffung der Genitalverstümmelung ab-
zielen, mit ausreichenden finanziellen Mitteln auszustatten?

3. In welcher Weise versucht die Bundesregierung, gegenüber Mitgliedstaaten
der UNO, in denen Genitalverstümmelung praktiziert wird, auf die inner-
staatliche Umsetzung internationaler Menschenrechtsstandards zu drängen,
gegen die der Eingriff massiv verstößt?

Um welche Länder handelt es sich hierbei im Einzelnen?

4. In welcher Weise wird die Bundesregierung sicherstellen, dass die Lagebe-
richte des Auswärtigen Amts Informationen über die Praxis der Genitalver-
stümmelung, ihre gesetzliche Sanktionierung bzw. die tatsächliche Durch-
setzbarkeit des Verbots von Genitalverstümmelungen umfassend enthalten?

Nach welchen Kriterien werden die Informationen gesammelt?

5. In welcher Weise wurde auf dem Gipfeltreffen Afrika-Europa im April 2000
in Kairo das Thema Genitalverstümmelung angesprochen?

Warum wird im Kairoer Aktionsplan, dem Abschlussdokument des Gipfel-
treffens, Genitalverstümmelung als schwere Menschenrechtsverletzung mit
keinem Wort erwähnt, sondern nur allgemein von „Gewalt gegen Frauen
und Mädchen“ gesprochen?

6. In welchen Zusammenhängen thematisiert die Bundesregierung bei bilatera-
len Regierungsverhandlungen Genitalverstümmelung als schwere Men-
schenrechtsverletzung?

7. Welche konkreten Beispiele gibt es dafür, dass die Bundesregierung Mittel
aus dem Einzelplan 23 verstärkt an solche Länder vergibt, deren Regierun-
gen erkennbare Anstrengungen zum gesetzlichen Verbot und zur tatsäch-
lichen Abschaffung der Genitalverstümmelung unternehmen?

8. Welche Länder bzw. Organisationen haben welchen Anteil der 5,8 Mio. DM
erhalten, die laut Aussage der Bundesministerin für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul, im Jahr 2000 für
Projekte gegen Genitalverstümmelung eingeplant waren?

9. Kommt die auf die Abschaffung der Genitalverstümmelung ausgerichtete
Entwicklungszusammenarbeit der Bundesregierung eher einheimischen
Nichtregierungsorganisationen zu Gute oder staatlichen Stellen?

Wie ist das Verhältnis?
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10. Mit welchen Mitteln der Informations- und Öffentlichkeitsarbeit wendet
sich die Bundesregierung an die mit Genitalverstümmelung befassten Ziel-
gruppen in Deutschland – Ausländer und Ausländerinnen, psychologisches
und medizinisches Personal, Personal in Ausländerbehörden, allgemein
Personal in Länderbehörden u. a. –, um über sämtliche Aspekte des Ein-
griffs und seine Folgen aufzuklären?

Reichen aus Sicht der Bundesregierung die Angebote aus?

Was könnte verbessert werden?

11. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, gemeinsam mit den
Bundesländern ein Konzept zu entwickeln, das dem Bedürfnis von Mig-
rantinnen und Flüchtlingen nach Information, Beratung und Schutz Rech-
nung trägt?

Welche Rolle könnten in solchen Überlegungen spezielle Beratungsstellen
auf Länderebene oder auf Bundesebene spielen?

Welche Beratungsangebote aus den Bundesländern zur Aufklärung über
Genitalverstümmelung sind der Bundesregierung bekannt?

12. Mit welchen staatlichen und nichtstaatlichen bzw. kirchlichen Einrichtun-
gen arbeitet die Bundesregierung in Deutschland zusammen bzw. fördert
sie finanziell, um im In- und Ausland die Abschaffung der Genitalverstüm-
melung voranzutreiben?

13. In welcher Weise verstärkt die Bundesregierung die aktuellen Bemühun-
gen, Asylantragstellerinnen rechtzeitig vor der Anhörung darauf hinzu-
weisen, dass eine Anhörung und Sprachmittlung durch eine Person des
eigenen Geschlechts möglich ist und dass Einzelentscheiderinnen hinzuge-
zogen werden können, die für frauenspezifische Themen wie Genitalver-
stümmelung speziell geschult sind?

14. Verfügt die Bundesregierung bereits über erste Erfahrungen zu den Aus-
wirkungen der Änderung der Verwaltungsvorschriften zum § 53 Abs. 4
und 6 AuslG, und wenn ja, welche?

Wenn nein, wann können ggf. erste Ergebnisse vorgelegt werden?

15. Wie bewertet die Bundesregierung die Strafverfolgungspraxis im Hinblick
auf in Deutschland geplante und durchgeführte Genitalverstümmelungen?

Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, von Deutschland aus geplante
und im Ausland durchgeführte Genitalverstümmelungen zu ahnden?

In welchen Bereichen sieht die Bundesregierung Handlungsbedarf auf
Länderebene?

16. Hält die Bundesregierung die Einstufung von Genitalverstümmelung ledig-
lich als Abschiebungshindernis für angemessen angesichts der Tatsache,
dass sich die Praxis der Genitalverstümmelung in den Herkunftsländern
der Flüchtlinge kurzfristig nicht ändern wird?

17. Ist die Bundesregierung bereit, auf einen gesicherten Aufenthaltsstatus von
geschlechtsspezifisch verfolgten Frauen hinzuwirken, indem z. B. Genital-
verstümmelung als Asylgrund bzw. als Grund für die Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft anerkannt wird, wie dies zahlreiche Flüchtlings-
und Frauenorganisationen seit langem fordern?

Berlin, den 7. Februar 2001

Dr. Peter Struck und Fraktion
Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und Fraktion

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