BT-Drucksache 14/5127

Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 26 Abs. 1, Antifaschistische Klausel)

Vom 22. Januar 2001


Deutscher Bundestag Drucksache 14/5127
14. Wahlperiode 22. 01. 2001

Gesetzentwurf
der Abgeordneten Dr. Evelyn Kenzler, Monika Balt, Dr. Dietmar Bartsch, Petra
Bläss, Maritta Böttcher, Eva-Maria Bulling-Schröter, Roland Claus, Heidemarie
Ehlert, Dr. Heinrich Fink, Dr. Ruth Fuchs, Wolfgang Gehrcke, Dr. Klaus Grehn, Dr.
Gregor Gysi, Uwe Hiksch, Dr. Barbara Höll, Carsten Hübner, Ulla Jelpke, Sabine
Jünger, Gerhard Jüttemann, Heidi Knake-Werner, Rolf Kutzmutz, Heidi Lippmann,
Ursula Lötzer, Heidemarie Lüth, Dr. Christa Luft, Pia Maier, Manfred Müller (Berlin),
Kersten Naumann, Rosel Neuhäuser, Christine Ostrowski, Petra Pau, Dr. Uwe-Jens
Rössel, Christina Schenk, Gustav-Adolf Schur, Dr. Ilja Seifert, Dr. Winfried Wolf
und der Fraktion der PDS

Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
(Artikel 26 Abs.1, Antifaschistische Klausel)

A. Problem

In Deutschland treten immer stärker rechtsextremistische Kräfte öffentlich auf,
deren Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus unverkennbar ist.
Sie vertreten typisch nationalsozialistische Ziele, wie „völkischen“ Nationalis-
mus, Fremdenhass, Antisemitismus, Terror und Gewalt gegen Menschen, die
anders aussehen, denken oder leben. Die gegenwärtigen grundgesetzlichen
Regelungen über die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit
(Artikel 9) und über die politischen Parteien (Artikel 21) bieten verfassungs-
rechtliche Handhaben für ein Vorgehen gegen Aufmärsche und Kundgebungen,
auf denen nationalsozialistisches Gedankengut vertreten wird, sowie gegen Ver-
einigungen und Parteien, die nationalsozialistische Ziele verfolgen. Diese Hand-
haben reichen jedoch nicht aus, um neonazistischen Betätigungen wirksam zu
begegnen. Im Grundgesetz fehlt eine ausdrückliche Bestimmung, wonach die
Wiederbelebung nationalsozialistischen Gedankenguts verfassungswidrig ist.

B. Lösung

Artikel 26 Abs. 1 GG wird durch eine Klausel ergänzt, wonach Handlungen,
die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, nationalsozialisti-
sches Gedankengut wieder zu beleben, verfassungswidrig sind (Antifaschisti-
sche Klausel).

C. Alternativen

Keine

Drucksache 14/5127 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

D. Kosten

Genauere Angaben sind nicht möglich. Die Aufnahme einer antifaschistischen
Klausel in das Grundgesetz kann nicht unter Gesichtspunkten der Kosten
gesehen werden. Die Kosten einer einfachgesetzlichen Umsetzung sind nicht
überschaubar.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/5127

Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
(Artikel 26 Abs.1, Antifaschistische Klausel)

Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das
folgende Gesetz beschlossen. Artikel 79 Abs. 3 des Grund-
gesetzes ist eingehalten.

Artikel 1

Änderung des Grundgesetzes

Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
vom 23. Mai 1949 in der im Bundesgesetzblatt Teil III,
Gliederungsnummer 100-1 veröffentlichten bereinigten
Fassung, zuletzt geändert durch das Gesetz vom ..., wird
wie folgt geändert:

Artikel 26 Abs. 1 wird wie folgt gefasst:

„(1) Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht
vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der
Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffs-
krieges vorzubereiten, oder nationalsozialistisches Ge-
dankengut wieder zu beleben, sind verfassungswidrig. Sie
sind unter Strafe zu stellen.“

Artikel 2

Inkrafttreten

Dieses Gesetz tritt am Tage nach seiner Verkündung in
Kraft.

Berlin, den 22. Januar 2001

Dr. Evelyn Kenzler
Monika Balt
Dr. Dietmar Bartsch
Perta Bläss
Maritta Böttcher
Eva-Maria Bulling-Schröter
Heidemarie Ehlert
Dr. Heinrich Fink
Dr. Ruth Fuchs
Wolfgang Gehrcke
Dr. Klaus Grehn
Dr. Gregor Gysi
Uwe Hiksch
Dr. Barbara Höll
Carsten Hübner
Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Gerhard Jüttemann
Heidi Knake-Werner
Rolf Kutzmutz
Heidi Lippmann
Ursula Lötzer
Heidemarie Lüth
Dr. Christa Luft
Pia Maier
Manfred Müller (Berlin)
Kersten Naumann
Rosel Neuhäuser
Christine Ostrowski
Petra Pau
Dr. Uwe-Jens Rössel
Christina Schenk
Gustav-Adolf Schur
Dr. Ilja Seifert
Dr. Winfried Wolf
Roland Claus und Fraktion

Drucksache 14/5127 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Begründung

Zu Artikel 1
Artikel 26 Abs. 1 GG bestimmt, dass Handlungen verfas-
sungswidrig sind, die geeignet sind und in der Absicht vor-
genommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völ-
ker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrie-
ges vorzubereiten. Es wird vorgeschlagen, diese Bestim-
mung dahingehend zu ergänzen, dass auch Handlungen
verfassungswidrig sind, die geeignet sind und in der Absicht
vorgenommen werden, nationalsozialistisches Gedankengut
wiederzubeleben.

I.
Das nationalsozialistische Herrschaftssystem hat ungeheu-
erliche Verbrechen gegen Angehörige des deutschen Volkes
und gegen andere Völker verübt. Es hat einen vernichtenden
Aggressions- und Annexionskrieg geführt und damit ein
Verbrechen gegen den Frieden begangen. Während dieses
Krieges hat der Faschismus massenhaft grausame Kriegs-
verbrechen und seit Beginn seiner Herrschaft schwerste
Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt. Kommunis-
ten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Christen, Anhänger
anderen Glaubens, bürgerliche Kritiker und Gegner des Fa-
schismus, Homosexuelle wurden in Konzentrationslagern
und Zuchthäusern gequält und ermordet. Die Vernichtung
der Juden und der Sinti und Roma wurde fabrikmäßig be-
trieben. Sogenanntes ,unwertes‘ Leben wurde ausgelöscht.
In den besetzten Ländern wurden Städte und Dörfer dem
Erdboden gleichgemacht, Menschen, vor allem slawischer
Abstammung, verfolgt, als Zwangsarbeiter missbraucht und
getötet.
Angesichts dieser historisch einmaligen Verbrechen galt es
nach dem Sieg der Antihitler-Koalition und der bedingungs-
losen Kapitulation Deutschlands 1945 als eine selbstver-
ständliche historische, politische, moralische und juristische
Verpflichtung des deutschen Volkes, für die Unwiederhol-
barkeit solcher Verbrechen zu sorgen. Dies wurde in aller
Deutlichkeit im Potsdamer Abkommen bestimmt:
„Der deutsche Militarismus und Nazismus werden ausgerot-
tet, und die Alliierten treffen nach gegenseitiger Vereinba-
rung in der Gegenwart und in der Zukunft auch andere
Maßnahmen, die notwendig sind, damit Deutschland nie-
mals mehr seine Nachbarn oder die Erhaltung des Friedens
in der ganzen Welt bedrohen kann.
Es ist nicht die Absicht der Alliierten, das deutsche Volk zu
vernichten oder zu versklaven. Die Alliierten wollen dem
deutschen Volk die Möglichkeit geben, sich darauf vorzube-
reiten, sein Leben auf einer demokratischen und friedlichen
Grundlage von neuem wiederaufzubauen. Wenn die eigenen
Anstrengungen des deutschen Volkes unablässig auf die Er-
reichung dieses Ziels gerichtet sein werden, wird es ihm
möglich sein, zu gegebener Zeit seinen Platz unter den
freien und friedlichen Völkern der Welt einzunehmen.“

II.

Das Grundgesetz ist von einer antifaschistischen Grund-
tendenz geprägt. Wolfgang Abendroth sprach sogar von
einem antifaschistischen Auftrag des Grundgesetzes.

Dies kommt vor allem in den Schutzbestimmungen des
Artikels 9 Abs. 2 (Verbot von Vereinigungen, „deren
Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlau-
fen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung
oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung rich-
ten“), des Artikels 18 (Wer bestimmte Grundrechte „zum
Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundord-
nung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte“), des
Artikels 21 Abs. 2 (Verfassungswidrigkeit von Parteien,
„die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer An-
hänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische
Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder
den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefähr-
den“) und Artikel 98 Abs. 2 (Versetzung oder Entlassung ei-
nes Bundesrichters, der „gegen die Grundsätze des Grund-
gesetzes oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung eines
Landes verstößt“) zum Ausdruck. Auch die Artikel 20 und
28 (Demokratieprinzip, Rechts- und Sozialstaatlichkeit), 25
(Vorrang der allgemeinen Regeln des Völkerrechts vor dem
Bundesrecht) und 26 Abs. 1 (Verbot der Vorbereitung eines
Angriffskrieges) sind von einer antifaschistischen Grund-
richtung bestimmt. Die Unantastbarkeit der Menschen-
würde nach Artikel 1 Abs. 1 und der gesamte Grundrechte-
katalog des Grundgesetzes sowie die „Ewigkeitsgarantie“
des Artikels 79 Abs. 3 sind nicht zuletzt Schlussfolgerungen
aus den Verbrechen des Nationalsozialismus.

Eine spezielle verfassungsrechtliche Vorsorge gegen das
Wiederaufleben nationalsozialistischen Gedankenguts und
gegen das Entstehen und die Betätigung von Parteien und
Vereinen mit nationalsozialistischen, antisemitischen oder
anderen rassistischen Zielen betrachteten die Väter und
Mütter des Grundgesetzes nicht als erforderlich. Sie hielten
die mit dem Grundgesetz statuierte „wehrhafte Demokratie“
im Allgemeinen und die angeführten Artikel der Verfassung
im Besonderen für ausreichend, um einer Wiederbelebung
faschistischer Bestrebungen vorzubeugen und Schranken zu
setzen.

Die einzige Bestimmung des Grundgesetzes mit direktem
Bezug auf die Überwindung des Nationalsozialismus ist
Artikel 139 GG:

„Die zur ‚Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalso-
zialismus und Militarismus‘ erlassenen Rechtsvorschriften
werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht
berührt.“

Der Artikel bezieht sich auf Rechtsvorschriften, die vor
Inkrafttreten des Grundgesetzes erlassen wurden. Diese
Rechtsvorschriften sind inzwischen hinfällig geworden. So-
weit es sich um die deutschen Vorschriften zur Entnazifizie-
rung handelt, sind diese Vorschriften seit dem Inkrafttreten
der Entnazifizierungsabschlussgesetze aufgehoben worden.
Soweit es sich um Besatzungsrecht, also um Vereinbarun-
gen und Beschlüsse der vier Mächte handelt, sind sie spä-
testens mit Artikel 7 Abs. 1 des Vertrags über die ab-
schließende Regelung in Bezug auf Deutschland vom
12. September 1990 (BGBl. 1990 II S. 1318) „beendet“
worden. Roman Herzog bezeichnet – wie andere – den
Artikel 139 als obsolet (in Maunz-Dürig, Kommentar zum

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5 – Drucksache 14/5127

GG, Artikel 139 Rn. 4. So auch bei Schmidt-Bleibtreu/
Klein, Kommentar zum GG, Artikel 139 Rn. 1).

Roman Herzog übersieht jedoch Folgendes: Unabhängig
davon, dass Artikel 139 keinen unmittelbaren Anwendungs-
bereich mehr hat, „bleibt er für die systematische Ausle-
gung des GG im Übrigen bedeutsam. Insoweit lässt er sich
durchaus in den Kranz der Bestimmungen einreihen, die das
GG als abwehrbereite Verfassung kennzeichnen“ (Sachs,
Kommentar zum GG, Artikel 139 Rn. 4). Aus Artikel 139
sind zwar heute keine direkten Rechte und Pflichten mehr
abzuleiten, er ist aber nicht aufgehoben, sondern bleibt Aus-
druck der antifaschistischen Ausrichtung des Grundgeset-
zes. Bei Hamann/Lenz, Das Grundgesetz, Artikel 139 heißt
es sogar, „dass Art. 139 auch als Grundaussage über die
Haltung des GG gegenüber nationalsozialistischen und ver-
wandten (z. B. faschistischen) Staatsauffassungen anzuse-
hen ist“. Auf jeden Fall kann Artikel 139 gerade wegen sei-
ner inzwischen eingetretenen Nichtanwendbarkeit als eine
Aufforderung betrachtet werden, den antifaschistischen
Auftrag des Grundgesetzes anderweitig verfassungsrecht-
lich klarzustellen. Artikel 139 belegt, dass das Grundgesetz
die Befreiung vom Nationalsozialismus billigt. Als Irrtum
hat sich jedoch erwiesen, dass dieses Problem einer Rege-
lung lediglich im Rahmen des Abschnitts „Übergangs- und
Schlußbestimmungen“ des Grundgesetzes bedürfe. Viel-
mehr zeigen die Ereignisse der letzten Jahre, dass es sich bei
der Wiederbelebung nationalsozialistischen Gedankenguts
um ein dauerhaftes und äußerst gefährliches Phänomen han-
delt, dessen Bekämpfung deshalb an prominenter Stelle im
Verfassungstext als allgemeiner Handlungsauftrag formu-
liert werden sollte.

III.

Nach Inkrafttreten des Grundgesetzes traten in der Ge-
schichte der Bundesrepublik Deutschland wellenartig neo-
nazistische Bestrebungen zutage. Diese Besorgnis erregende
Entwicklung kann hier nicht nachgezeichnet werden.

In der juristischen Abwehr gegen diese Entwicklung kommt
dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegen die Sozia-
listische Reichspartei vom 23. Oktober 1952 eine besondere
Bedeutung zu (BVerfGE 2, 1 ff.). Diese Partei wurde für
verfassungswidrig erklärt und aufgelöst. Die Fortsetzung
durch Ersatzorganisationen wurde verboten. Das Bundes-
verfassungsgericht erörterte in diesem Zusammenhang die
besondere verfassungsrechtliche Stellung der Parteien und
den Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundord-
nung in Artikel 21 Abs. 2 GG:

„So lässt sich die freiheitliche demokratische Grundordnung
als eine Ordnung bestimmen, die unter Ausschluss jeglicher
Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herr-
schaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung
des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und
der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden
Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die
Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Men-
schenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit
auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die
Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die
Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der

Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleich-
heit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfas-
sungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.“

Damit wurde das Gegenteil einer faschistischen Herr-
schaftsordnung charakterisiert. Dass das Bundesverfas-
sungsgericht später den Begriff der freiheitlichen demokra-
tischen Grundordnung gegen die KPD instrumentalisiert
hat, entsprach nicht der Intention von Artikel 21 Abs. 2. Das
Grundgesetz ist antifaschistisch, nicht antisozialistisch.

Entscheidend für den Zeitpunkt und den Inhalt des Ände-
rungvorschlags zum Grundgesetz ist die Situation, die im
Verlauf der zehn Jahre nach der Herstellung der staatlichen
Einheit Deutschlands entstanden ist. Anstelle der von den
Völkern der Antihitler-Koalition erwarteten endgültigen
und zuverlässigen Schranke gegen jegliches Wiederaufle-
ben faschistischen Denkens und Handelns im wiederver-
einigten Deutschland werden in Besorgnis erregendem Aus-
maß Kräfte aktiv, deren Wesensverwandschaft zum Natio-
nalsozialismus und deren Rassismus und Antisemitismus
offen zutage treten. Neonazistische Organisationen veran-
stalten martialische Aufmärsche und betreiben unerträgliche
rassistische und fremdenfeindliche Propaganda, auch mit
Hilfe des Internet. Der Rechtsextremismus ist Bestandteil
der „Alltagskultur“ besonders unter der Jugend geworden.
Rechtsextremistischer Terror wird proklamiert und in Ge-
walttaten gegen Leben und Gesundheit von Menschen um-
gesetzt. „Befreite Zonen“ sind Zeugnisse aggressiven Aus-
länderhasses. Brandanschläge gegen Synagogen und Aus-
länderheime, Schändung von Friedhöfen und Gedenkstätten
sind an der Tagesordnung. Mord, gefährliche Körperverlet-
zung, Bedrohung und Freiheitsberaubung geschehen täg-
lich. Aggressive Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und An-
tisemitismus erheben ihr Haupt. Der verbrecherische Cha-
rakter des Faschismus wird geleugnet. Die Unabänderlich-
keit und Rechtsgültigkeit der Ostgrenze Deutschlands wird
in Frage gestellt. Unverholen wird gegen das Demokratie-
prinzip des Grundgesetzes gehetzt.

Zum heutigen Zeitpunkt ist insofern eine neue Situation ein-
getreten. Sie ist dadurch charakterisiert, dass seit dem Bei-
tritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland 1990 die
Bestrebungen zum Wiederbeleben nationalsozialistischen
Denkens und Handelns quantitativ und qualitativ wesentlich
angewachsen und zu einer ernsthaften Gefahr für die frei-
heitliche demokratische Grundordnung geworden sind.

Bundespräsident Johannes Rau hat in seiner Ansprache auf
der Berliner Kundgebung am 9. November 2000 die Lage
eindringlich charakterisiert:

„Wir beklagen fast hundert Tote, die seit 1990 Opfer rechts-
extremistischer Gewalt geworden sind … Sie wurden umge-
bracht, weil sie anders waren: Weil sie als Ausländer oder
Obdachlose als Freiwild angesehen wurden … Hass und
Gewalt treten offen und schamlos auf. Asylbewerberheime
haben gebrannt, Wohnungen sind verwüstet worden, in öf-
fentlichen Räumen sorgen Stiefel und Baseballschläger für
Angst. Menschenfeindliche Ideologen haben jugendliche
Herzen und Köpfe vergiftet und verhetzt. Junge deutsche
Männer haben Ausländer durch die Straßen gejagt, verletzt
und zu Tode geprügelt.“

Drucksache 14/5127 – 6 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland,
Paul Spiegel, sagte auf dieser Kundgebung:

„ ,Wehret den Anfängen‘ heißt es oft, wenn es um den
Kampf gegen den Rechtsextremismus geht. Doch wir sind
längst über dieses Stadium hinaus. Was wir fast täglich er-
leben, hat nichts mehr mit ‚Anfängen‘ zu tun.“

IV.

Wenn solche Bekenntnisse nicht unverbindliche politische
Rhetorik bleiben sollen, dann sind – neben tagtäglichem
praktischen Handeln gegen Neonazismus, Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit – gerade jetzt auch verfassungsrecht-
liche Konsequenzen notwendig. Deshalb wird die Ergän-
zung des Artikels 26 Abs. 1 GG vorgeschlagen. Der Vor-
schlag greift eine Forderung der Gewerkschaft der Polizei
auf. Seine Verwirklichung wäre ein deutliches Zeichen in
die Gesellschaft hinein, darunter an Verwaltungsbehörden,
Polizei und Verwaltungsgerichte, die sich in dem Dilemma
befinden, neonazistische Umtriebe im Namen der Freiheits-
rechte der Verfassung schützen zu müssen. Es wäre auch ein
Zeichen an andere Völker und Staaten dahingehend, dass
Deutschland sich seiner antifaschistischen Verantwortung
bewusst ist.

Die verfassungsrechtliche Verankerung des einen Teils des
Gelöbnisses der Widerstandskämpfer und Verfolgten „Nie
wieder Krieg“ in Artikel 26 GG würde durch die ebenso
rechtsverbindliche Verankerung des zweiten Teils dieses
Gelöbnisses im Grundgesetz ergänzt werden: „Nie wieder
Faschismus“.

Dieser Vorschlag steht in Übereinstimmung mit Artikel 1
[Menschenwürde] des Grundgesetzes. Das Bekenntnis zur
Würde des Menschen ist nach Ernst Benda eine Reaktion
„auf dessen Verachtung und Erniedrigung in der Zeit der na-
tionalsozialistischen Gewaltherrschaft“ (Benda/Maihofer/
Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, Berlin-New York
1995, S. 168). Die Unantastbarkeit der Menschenwürde
nach Absatz 1 hat nach Dürig „den Charakter eines obersten
Konstitutionsprinzips allen objektiven Rechts erhalten“
(Maunz/Dürig, Kommentar zum GG, Artikel 1 Abs. 1
Rn. 4). Er definiert die Menschenwürde: „Jeder Mensch ist
Mensch kraft seines Geistes, der ihn abhebt von der unper-
sönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu be-
fähigt, seiner selbst bewusst zu werden und sich und die
Umwelt zu gestalten“ (Ebenda, Rn. 18). Die Wiederbele-
bung nationalsozialistischen Gedankenguts tastet die Men-
schenwürde an und verstößt gegen Absatz 2, wo es heißt:
„Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen
und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder
menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerech-
tigkeit in der Welt.“ Die vorgeschlagene Ergänzung des
Grundgesetzes ist vor dem Hintergrund des zunehmenden
Rechtsextremismus die logische Folge dieses grundlegen-
den Verfassungsartikels.

Für eine sachgerechte grundgesetzliche Definition wird der
Begriff der „Wiederbelebung nationalsozialistischen Ge-
dankenguts“ vorgeschlagen. Es ist hinreichend bekannt, was
nationalsozialistisches Gedankengut ist. Im Urteil des Bun-
desverfassungsgerichts vom 23. Oktober 1952 über die Ver-
fassungswidrigkeit der Deutschen Reichspartei (BVerfGE 2,

1, 19 f.) wurde dieses Gedankengut ausführlich und mit hin-
reichender Deutlichkeit charakterisiert. Es heißt dort:

„Das von der NSDAP geschaffene System lässt sich zusam-
menfassend so charakterisieren: Es ist gekennzeichnet
durch die Lehre vom totalen Staat, die Rassendoktrin und
den hierarchischen Aufbau: Führer und Gefolgschaft, In-
strument der völkischen, auf Schlagworten von Blut, Boden
und Ehre beruhenden Weltanschauung und „Garant des
Staates“ ist ausschließlich die NSDAP. Die eine Partei formt
und überwacht den seiner Freiheit beraubten Staatsbürger in
einem ausgeklügelten politischen System von Blöcken und
Zellen. Sie anerkennt und vollzieht den Vorrang der ‚völki-
schen Lebensgesetze‘ nach den Grundsätzen: ‚Recht ist,
was dem Volke nützt; Unrecht, was ihm schadet‘ und ‚Du
bist nichts, Dein Volk ist alles‘. Ausgang und Ziel dieses
Systems ist nicht mehr die an der Gerechtigkeit orientierte
Rechtsidee, sondern die zum Gesetz erhobene Willkür des
Führers. Als Träger und Vollstrecker seines Willens er-
scheint vornehmlich das Staatssicherheitshauptamt (Ge-
heime Staatspolizei) mit seinem Apparat von Konzentra-
tions- und Vernichtungslagern. Mit dieser ausschließlichen
Anerkennung der Macht werden Gültigkeit und Unver-
brüchlichkeit der Rechtsordnung aufgehoben. Rechtlosig-
keit und Willkür, Schändung der Menschenwürde, Missach-
tung der völkerrechtlichen Verträge und der Lebensrechte
freier Völker schaffen eine Herrschaft der Furcht und des
Schreckens. Volksgemeinschaft, Treue, Heldentum und
Freiheitsbewusstsein, Ehrlichkeit und Anständigkeit sind in
diesem doppelsinnigen System nur Vokabeln ohne Wahr-
heitsgehalt.“

Der Begriff „Handlungen die geeignet sind und in der Ab-
sicht vorgenommen werden“, der in Artikel 26 Abs. 1 auf
die Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker be-
zogen ist, soll auch dem Begriff der Wiederbelebung natio-
nalsozialistischen Gedankenguts vorgeschaltet sein. Er ent-
hält eine objektive und eine subjektive Komponente.

Ein Vorwurf, die vorgeschlagene Ergänzung des Grundge-
setzes würde Grundrechte einschränken und dem Gleich-
heitsgrundsatz aus Artikel 3 widersprechen, kann ebenso
wenig erhoben werden wie der Vorwurf, dies gelte für die
bisherige Fassung des Artikels 26 Abs. 1, wonach Handlun-
gen, die die Friedenspflicht verletzen, verfassungswidrig
sind. Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vor-
genommen werden, nationalsozialistisches Gedankengut
wieder zu beleben, sind durch die Grundrechte nicht ge-
deckt, weil sie auf die Abschaffung dieser Rechte und der
freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtet sind.
Solche Handlungen unterfallen auch nicht dem Diskriminie-
rungsverbot aus Artikel 3 Abs. 3, wonach niemand wegen
seiner politischen Anschauungen benachteiligt werden darf,
weil die Wiederbelebung nationalsozialistischen Gedanken-
guts keine verfassungskonforme Vertretung einer politi-
schen Anschauung darstellt, sondern ein verfassungswidri-
ges Unterfangen ist.

Die vorgeschlagene Ergänzung von Artikel 26 Abs. 1 wäre
unmittelbar geltendes Recht. Eine einfachgesetzliche Aus-
gestaltung im Strafrecht ist durch Satz 2 („Sie sind unter
Strafe zu stellen“) geboten. Zu prüfen ist, welche einfachge-
setzlichen Regelungen auf anderen Rechtsgebieten erforder-
lich sind.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 7 – Drucksache 14/5127

V.

Für die vorgeschlagene Verfassungsänderung sprechen auch
völkerrechtliche Gründe.

Der Vorschlag zur Änderung des Grundgesetzes zeichnet
Verpflichtungen Deutschlands nach, die sich aus Beschlüs-
sen der vier Mächte nach deren Sieg über den Hitlerfaschis-
mus ergeben. Ungeachtet dessen, dass diese Beschlüsse
nicht mehr rechtlich verbindlich sind, erwuchsen aus ihnen
doch historische und politisch-moralische Verpflichtungen –
auch gegenüber anderen Völkern und Staaten –, die fortbe-
stehen und an die in diesem Zusammenhang erinnert wer-
den muss.

So wird unter Nummer III A. (III) des Potsdamer Abkom-
mens vom 2. August 1945 (Amtsblatt des Kontrollrats in
Deutschland, Ergänzungsblatt Nr. 1, Berlin 1945, S. 13 ff.)
in Bezug auf die Nationalsozialistische Partei nebst deren
Gliederungen und Unterorganisationen festgelegt: „Es sind
Sicherheiten dafür zu schaffen, dass sie in keiner Form wie-
der auferstehen können; jeder nazistischen und militaristi-
schen Betätigung und Propaganda ist vorzubeugen.“ In
Artikel I 3 des Gesetzes des Alliierten Kontrollrats Nr. 2
vom 10. Oktober 1945 (Ebenda Nr. 1 vom 29. Oktober
1945, S. 19 f.) wird bestimmt: „Die Neubildung irgendeiner
der angeführten [nationalsozialistischen] Organisationen,
sei es unter dem gleichen oder unter einem anderen Namen,
ist verboten.“ Erinnert sei auch daran, dass die Verbündeten
Hitlerdeutschlands in den Friedensverträgen von 1947 anti-
faschistische Klauseln zu akzeptieren hatten. So heißt es in
Artikel 17 des Friedensvertrags mit Italien vom 10. Februar
1947 (Völkerrecht, Dokumente, Teil 1, Berlin 1980,
S. 158 ff.): „Italien … wird das Wiederaufleben solcher [fa-
schistischen] politischen, militärischen oder halbmilitäri-
schen Organisationen auf italienischem Boden nicht gestat-
ten, deren Ziel es ist, das Volk seiner demokratischen
Rechte zu berauben.“ Eine ähnliche antifaschistische Klau-
sel enthält auch Artikel 9 des Österreichischen Staatsver-
trags.

Der Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf
Deutschland vom 12. September 1990 (BGBl. 1990 II

S. 1318) enthält im Vertragstext selbst keine antifaschisti-
sche Klausel. In Ziffer 3 des Gemeinsamen Briefes des
Bundesministers des Auswärtigen und des amtierenden
Außenministers der DDR an die Außenminister der Sowjet-
union, Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten
Staaten im Zusammenhang mit der Unterzeichnung des
Vertrags (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der
Bundesregierung vom 14. September 1990 Nr. 109,
S. 1156) erinnern die Vertreter der beiden deutschen Staaten
jedoch an die nach dem Grundgesetz gegebenen Möglich-
keiten des Verbots von Parteien und Vereinigungen und for-
mulieren dann: „Das betrifft auch Parteien und Vereinigun-
gen mit nationalsozialistischen Zielsetzungen.“ Die Vermu-
tung ist nicht abwegig, dass die vier Mächte im 2+4-Prozess
auf verbindlicheren Verpflichtungen Deutschlands bestan-
den hätten, wenn voraussehbar gewesen wäre, welche Ent-
wicklung der Rechtsextremismus nach der Vereinigung
nehmen würde. Die vorgeschlagene Ergänzung des Grund-
gesetzes würde den Willen Deutschlands unterstreichen, ge-
rade auch nach der Vereinigung neonazistische Bestrebun-
gen zu verhindern. Das würde auch dem Geist der Präambel
zum 2+4-Vertrag entsprechen.

Schließlich würde diese Ergänzung eine Bekräftigung der
Entschlossenheit Deutschlands sein, nie wieder zuzulassen,
dass auf deutschem Boden Verbrechen gegen die Mensch-
lichkeit begangen und jene Menschenrechte mit Füßen ge-
treten werden, zu deren Achtung und Verwirklichung sich
Deutschland durch den Beitritt zu solchen Verträgen ver-
pflichtet hat, wie der Konvention über Verhütung und Be-
strafung des Völkermordes von 1948, der Europäischen
Konvention zum Schutze der Menschenrechte von 1950,
den beiden Internationalen Menschenrechtspakten von
1966, dem Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von
Rassendiskriminierung von 1966 und dem Übereinkommen
gegen die Folter von 1984.

Zu Artikel 2

Der Artikel regelt das Inkrafttreten wie üblich.

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