Bundesfinanzhof, Urteil vom 19.04.2012, Az. III R 85/11

3. Senat | REWIS RS 2012, 7113

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Gegenstand

(Verletzung von Zuständigkeitsregeln in Zusammenhang mit einer Ermessensentscheidung - Rechtsfolgen bei Übertragung der Zuständigkeit nach § 17 Abs. 2 Satz 3 FVG - Nicht revisibles Landesrecht - Formelle Beschwer)


Leitsatz

1. NV: Da § 127 AO bei einer Verletzung der sachlichen Zuständigkeit generell bzw. bei einer Verletzung der örtlichen Zuständigkeit im Rahmen einer Ermessensentscheidung grundsätzlich nicht anwendbar ist, kann ein Streit um die Zuständigkeit für eine Erlassentscheidung nicht dahinstehen .

2. NV: Die Frage, ob einem FA aufgrund einer von der Landesregierung erlassenen Zuständigkeitsverordnung in einem bestimmten Bereich die sachliche Zuständigkeit nach § 17 Abs. 2 Satz 3 FVG übertragen wurde, betrifft nichtrevisibles Landesrecht; die Beantwortung ist damit Sache des FG .

Tatbestand

1

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) lebt mittlerweile in [X.] und ist in [X.] seit dem 1. Januar 2006 nur noch beschränkt steuerpflichtig. Während der [X.] seiner unbeschränkten Steuerpflicht wurde der Kläger steuerlich bei dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --[X.]--) geführt.

2

Mit Schreiben vom 25. April 2007 beantragte der Kläger beim [X.] den Erlass von rückständigen Steuern und steuerlichen Nebenleistungen, soweit diese einen Betrag von 20.000 € überstiegen. Das [X.] lehnte den Erlassantrag wegen fehlender sachlicher und persönlicher Billigkeit ab. Der Einspruch blieb erfolglos. Im Klageverfahren machte der Kläger u.a. geltend, mittlerweile sei das [X.] X örtlich für ihn zuständig, so dass der Ablehnungsbescheid und die Einspruchsentscheidung des [X.] bereits aus diesem Grund aufzuheben seien.

3

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage als unbegründet ab. Zur Begründung führte es u.a. aus, im Hinblick auf § 127 der Abgabenordnung ([X.]) mache der Kläger ohne Erfolg geltend, dass das [X.] für die Entscheidung örtlich nicht mehr zuständig gewesen sei. Da die Voraussetzungen des § 227 erster Halbsatz [X.] nicht erfüllt seien, habe keine andere Entscheidung in der Sache getroffen werden können.

4

Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.

5

Der Kläger beantragt, das [X.] sowie die Einspruchsentscheidung aufzuheben und das [X.] zu verpflichten, den Einspruch dem [X.] X zur Entscheidung vorzulegen.

6

Das [X.] beantragt, die Revision zurückzuweisen.

7

Es trägt vor, im [X.] sei das [X.] X für die Besteuerung der beschränkt steuerpflichtigen natürlichen Personen zuständig. Dies gelte allerdings nur für die [X.] der beschränkten Steuerpflicht. In Fällen des Wechsels von der unbeschränkten zur beschränkten Steuerpflicht bleibe das bisher zuständige [X.] für die Veranlagungszeiträume, in denen ausschließlich eine unbeschränkte Steuerpflicht bestanden habe, weiter zuständig.

8

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

Entscheidungsgründe

9

II. 1. Die Revision ist begründet, soweit der Kläger beantragt hat, das angefochtene [[X.].] und die Einspruchsentscheidung aufzuheben. Sie führt insoweit zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [[X.].] (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 [[X.].]O).

Das [[X.].] hat sich zu Unrecht nicht mit der Frage der --örtlichen und sachlichen-- Zuständigkeit des [[X.].] für die Entscheidung über den von dem Kläger gestellten Erlassantrag auseinandergesetzt.

a) Zwar kann --wie auch das [[X.].] ausgeführt hat-- die Aufhebung eines Verwaltungsakts, der nicht nach § 125 AO nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können (§ 127 AO). Die Vorschrift bezieht sich jedoch nur auf gebundene Verwaltungsakte. Bei Ermessensentscheidungen kann dagegen grundsätzlich nicht angenommen werden, dass keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können (vgl. Urteil des [[X.].] --[[X.].]-- vom 15. Oktober 1998 V R 77/97, [[X.].] 1999, 585, m.w.[X.]).

Um eine derartige Ermessensentscheidung handelt es sich nach der ständigen Rechtsprechung des [[X.].] bei der Entscheidung über einen [[X.].] nach § 227 AO (vgl. grundlegend den Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des [[X.].] vom 19. Oktober 1971 Gms-OGB 3/70, [[X.].]E 105, 101, [[X.].] 1972, 603; [[X.].]-Urteil vom 7. Mai 1981 VII R 64/79, [[X.].]E 133, 262, [[X.].] 1981, 608; a.A. Loose in Tipke/[[X.].], Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 227 AO Rz 20 ff., der die Unbilligkeit der Einziehung als gerichtlich in vollem Umfang überprüfbaren unbestimmten Gesetzesbegriff qualifiziert).

b) Von vornherein nicht anwendbar ist § 127 AO im Falle der Verletzung der sachlichen Zuständigkeit. Ein solcher Verfahrensfehler ist stets beachtlich (vgl. [[X.].]-Urteil vom 21. April 1993 [[X.].], [[X.].]E 171, 15, [[X.].] 1993, 649, unter [[X.].], m.w.[X.]).

c) Zwischen den Beteiligten ist indes streitig, ob der durch den Wegzug des [[X.].] ausgelöste Übergang von der unbeschränkten zur beschränkten Steuerpflicht zu einem --wie der Kläger meint-- Wechsel der örtlichen Zuständigkeit oder --worauf sich das [[X.].] beruft-- zu einer neu begründeten sachlichen Zuständigkeit des [[X.].] [X.] unter gleichzeitig fortbestehender (örtlicher und sachlicher) Zuständigkeit des [[X.].] für die noch nicht vollständig abgewickelten Veranlagungszeiträume der unbeschränkten Steuerpflicht geführt hat.

aa) Die sachliche Zuständigkeit der Finanzbehörden richtet sich, soweit nichts anderes bestimmt ist, gemäß § 16 AO nach dem Gesetz über die Finanzverwaltung ([[X.].]).

Grundsätzlich ist das einzelne [[X.].] in seinem nach § 17 Abs. 1 [[X.].] bestimmten Bezirk für die Verwaltung aller durch das [[X.].]land verwalteten Steuern zuständig ([[X.].] in Tipke/[[X.].], a.a.[[X.].], § 17 [[X.].] Rz 5). Nach § 17 Abs. 2 Satz 3 [[X.].] können indes durch Rechtsverordnung einem [[X.].] Zuständigkeiten für die Bezirke mehrerer FÄ übertragen werden, soweit es sich um Aufgaben der Finanzverwaltung handelt und dadurch der Vollzug der Aufgaben verbessert oder erleichtert wird. Dieses [[X.].] wird damit für die übertragene Aufgabe sachlich --und in seinem Bezirk zugleich örtlich-- zuständig (vgl. [[X.].]-Urteil vom 26. März 1991 I[X.] R 39/88, [[X.].]E 163, 514, [[X.].] 1991, 439; Schmieszek in [[X.].]/[[X.].]/ [[X.].], § 17 [[X.].] Rz 14, 17 und 30).

bb) Von dieser Ermächtigung hat die Senatsverwaltung für Finanzen durch die Verordnung über besondere Zuständigkeitsregelungen im Bereich der Finanzverwaltung des [[X.].] ([[X.].] --[[X.].]--) vom 3. Dezember 2003 in der zum 1. Juli 2004 geänderten Fassung vom 2. Juni 2004 (Gesetz- und Verordnungsblatt für [[X.].] --GVBl Bln-- 2003, 594, GVBl Bln 2004, 241) und ersetzt durch die [[X.].] vom 13. September 2007 ([[X.].], 322, GVBl [[X.].], 259) Gebrauch gemacht. Nach § 2 [[X.].] i.V.m. Nr. 5 der Anlagen ist dem [[X.].] [X.] die (sachliche) Zuständigkeit für die Besteuerung der beschränkt steuerpflichtigen natürlichen Personen für den Bereich aller [[X.].]er FÄ übertragen.

cc) Auf diese Übertragung (nur) der sachlichen Zuständigkeit auf das [[X.].] [X.] beruft sich das [[X.].]. Zugleich schließt es hieraus, dass es für die Veranlagungszeiträume vor dem Eintritt der beschränkten Steuerpflicht weiterhin für die Besteuerung des [[X.].] und damit auch für die Entscheidung über den Erlass der aus dieser Zeit herrührenden Steuern und steuerlichen Nebenleistungen zuständig geblieben ist.

d) Die Prüfung, ob die Interpretation der [[X.].] durch das [[X.].] zutreffend ist --und es demzufolge zu Recht als die örtlich und sachlich zuständige Behörde über den Erlassantrag des [[X.].] entschieden hätte--, ist dem erkennenden Senat jedoch verwehrt. Insoweit handelt es sich um nichtrevisibles Landesrecht (vgl. [[X.].]-Beschluss vom 2. März 1982 VII B 148/81, [[X.].]E 135, 169, [[X.].] 1982, 327; [[X.].]-Urteile in [[X.].]E 163, 514, [[X.].] 1991, 439; vom 11. September 1991 [X.]I R 16/90, [[X.].]E 165, 466, [[X.].] 1992, 132). Die Feststellung nichtrevisiblen Rechts ist grundsätzlich Sache des [[X.].] ([[X.].]-Urteil in [[X.].]E 163, 514, [[X.].] 1991, 439, m.w.[X.]). Dieses wird im zweiten Rechtsgang deshalb die Auswirkungen des [[X.].] des [[X.].] auf die --sachlichen und [[X.].] Zuständigkeiten der FÄ Y und [X.] insbesondere anhand der [[X.].] zu würdigen haben.

2. Soweit der Kläger im Revisionsverfahren erstmals begehrt, das [[X.].] zu verpflichten, seinen Einspruch dem [[X.].] [X.] zur Entscheidung vorzulegen, ist die Revision unzulässig (§ 126 Abs. 1 [[X.].]O), da eine Erweiterung des Klageantrags im Revisionsverfahren nicht zulässig ist (§ 123 [[X.].]O).

Mit seiner Klage hatte der Kläger vor dem [[X.].] lediglich die Aufhebung der von dem [[X.].] erlassenen Verwaltungsakte begehrt. Hierüber hat das [[X.].] entschieden. Über das erstmals im Revisionsverfahren durch Erweiterung des Klageantrags erhobene Begehren ist gerichtlich dagegen nicht entschieden. Es fehlt insoweit an einem Gegenstand der revisionsrechtlichen Nachprüfung (vgl. [[X.].]-Urteil vom 1. Juli 1987 I R 297/83, [[X.].] 1988, 673) und damit an der erforderlichen formellen Beschwer (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 120 Rz 56, m.w.[X.]). Letztere als [X.] einer Revision ist nur gegeben, soweit das [[X.].] dem Klagebegehren nicht voll entsprochen oder über dieses nicht befunden hat (vgl. [[X.].]-Urteil vom 3. Juni 1976 IV R 236/71, [[X.].]E 120, 348, [[X.].] 1977, 62).

Meta

III R 85/11

19.04.2012

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 10. Mai 2011, Az: 5 K 5403/07, Urteil

§ 17 Abs 1 FVG, § 17 Abs 2 S 3 FVG, § 127 AO, § 227 AO, § 2 FAZUstV BE 2007, § 126 Abs 1 FGO, § 120 FGO, § 5 AO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 19.04.2012, Az. III R 85/11 (REWIS RS 2012, 7113)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 7113

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