Bundesfinanzhof, Urteil vom 07.04.2022, Az. III R 4/21

3. Senat | REWIS RS 2022, 3795

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Gegenstand

Zuständigkeit von Familienkassen für das Erhebungsverfahren


Leitsatz

1. NV: Die örtlich zuständigen Familienkassen sind in Kindergeldsachen nach dem Grundsatz der Gesamtzuständigkeit auch für das Erhebungsverfahren zuständig; die Konzentration der Aufgaben des Erhebungsverfahrens (hier: Erlass einer Kindergeldrückforderung) bei der Agentur für Arbeit Recklinghausen Inkasso-Service Familienkasse und der Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord war rechtswidrig (vgl. Senatsurteil vom 25.02.2021 - III R 36/19, BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712).

2. NV: Lehnt die hiernach unzuständige Familienkasse einen Erlassantrag ab, so hat sie die Kosten des anschließenden finanzgerichtlichen Verfahrens und des Revisionsverfahrens auch insoweit zu tragen, als der Kläger ohne Erfolg die Verpflichtung zum Erlass begehrt hat.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des [X.] vom 23.09.2020 - 3 K 2800/18, der Ablehnungsbescheid vom 13.07.2018 sowie die Einspruchsentscheidung vom 05.10.2018 aufgehoben.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.

Tatbestand

I.

1

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist der Vater der im März 1998 geborenen [X.], für die er Kindergeld bezog. Dieses wurde auf Leistungen nach dem [X.] angerechnet. [X.] wurde im September 2014 selbst Mutter einer [X.]ochter. Im Februar 2015 begann sie eine Ausbildung, ab dem ...11.2015 nahm sie Elternzeit in Anspruch.

2

Im März 2016 beantragte der Kläger erneut Kindergeld für [X.] bei der Familienkasse [X.] ([X.]) West. Diese setzte das Kindergeld nunmehr ab April 2016 fest. Später erfuhr die Familienkasse [X.] West, dass [X.] keine Ausbildung mehr absolvierte. Sie hob die Festsetzung durch Bescheid vom 17.10.2017 ab Dezember 2015 auf und forderte einen Betrag von 2.660 € zurück. Dagegen legte der Kläger Einspruch ein, der ohne Erfolg blieb.

3

Der Kläger beantragte mit Schreiben vom 21.02.2018, den Rückforderungsbetrag aus Billigkeitsgründen zu erlassen. Der Erlassantrag wurde an die [X.], [X.] Familienkasse ([X.] Familienkasse) weitergeleitet. Diese erließ einen [X.]eilbetrag für den Monat Dezember 2015 und lehnte den Antrag im Übrigen durch Bescheid vom 13.07.2018 ab. Dagegen wandte sich der Kläger mit Einspruch, den die Familienkasse [X.] Nord durch Einspruchsentscheidung vom 05.10.2018 als unbegründet zurückwies.

4

Im anschließenden Klageverfahren beantragte der Kläger zuletzt, das Kindergeld für den Zeitraum April 2016 bis Januar 2017 sowie Säumniszuschläge von 608 € zu erlassen. Das Finanzgericht (FG) behandelte die Familienkasse [X.] Nord als Beklagte und gab der Klage im Wesentlichen statt. Es war der Ansicht, der Rückforderungsanspruch sei aus sachlichen Billigkeitsgründen zu erlassen. Dem Kläger sei keine Verletzung der Mitwirkungspflicht vorzuwerfen.

5

Gegen das Urteil wendet sich die beklagte Familienkasse mit der Revision. Sie ist der Ansicht, die [X.] sei nicht aus sachlichen oder persönlichen Billigkeitsgründen zu erlassen.

6

Die Beteiligten sind mit Schreiben vom 07.12.2021 darauf hingewiesen worden, dass das Rubrum des Verfahrens dahin zu berichtigen ist, dass anstelle der Familienkasse [X.] Nord, die über den Einspruch entschieden hat, die [X.] Familienkasse, welche den Erlass weit überwiegend abgelehnt und damit den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassen hat (§ 63 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--), die Beklagte und Revisionsbeklagte ist.

7

Die [X.] Familienkasse beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

8

Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

9

Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil wird mit der Maßgabe aufgehoben, dass anstelle der Familienkasse [X.] Nord die [X.] Familienkasse die Beklagte und Revisionsbeklagte ist. Ebenso werden der Ablehnungsbescheid vom 13.07.2018 und die Einspruchsentscheidung vom 05.10.2018 aufgehoben (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 [X.]O). Das [X.] war zu Unrecht der Ansicht, der Kläger habe gegen die beklagte Familienkasse einen Anspruch auf Erlass des [X.].

1. Die Klage richtet sich infolge rechtsschutzgewährender Auslegung gegen die [X.] Familienkasse. Da diese den beantragten Erlass abgelehnt hat, ist die Klage gemäß § 63 Abs. 1 [X.]O gegen sie zu richten, weil sie den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassen hat. Daher ist sie und nicht die Familienkasse [X.] Nord als Rechtsmittelbehörde beteiligt ([X.]surteil vom 25.02.2021 - III R 36/19, [X.], 19, [X.] 2021, 712, Rz 13 ff.; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], § 63 [X.]O Rz 20), weil kein Fall des § 63 Abs. 2 Nr. 1 [X.]O vorliegt. Die Berichtigung des Rubrums kann daher noch im Revisionsverfahren vorgenommen werden; die Beteiligten haben keine Einwände erhoben.

2. Das [X.] hat zu Unrecht die --hierfür nicht zuständige-- Familienkasse [X.] Nord zum Erlass des [X.] verpflichtet. Es hat im Ergebnis zu Recht den Bescheid, mit dem der begehrte Erlass weit überwiegend abgelehnt wurde sowie die dazu ergangene Einspruchsentscheidung aufgehoben.

a) Nach § 227 Satz 1 der Abgabenordnung ([X.]) können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Die Zuständigkeit für die Entscheidung über den Erlass bestimmt sich nach der Verwaltungshoheit, welche sowohl die im Festsetzungsverfahren als auch die im Erhebungsverfahren zu treffenden Entscheidungen umfasst (Loose in Tipke/[X.], § 227 [X.] Rz 117).

b) Der [X.] hat bereits mehrfach entschieden, dass die Konzentration der Aufgaben des [X.] --insbesondere der Erlass und die Stundung von [X.] bei der [X.] Familienkasse und der Familienkasse [X.] Nord rechtswidrig ist ([X.]surteile in [X.], 19, [X.] 2021, 712; vom 25.02.2021 - III R 28/20, [X.], 1100, und vom 07.07.2021 - III R 21/18, [X.], 1457).

In den vorgenannten Urteilen, auf die hinsichtlich der Einzelheiten verwiesen wird, hat der [X.] dargelegt, dass für die örtliche Zuständigkeit der Grundsatz der [X.] gilt. Die Zuständigkeit der örtlich zuständigen Familienkasse umfasst daher grundsätzlich alle Verwaltungstätigkeiten der Finanzbehörde, die sich aus dem gesamten Besteuerungsverfahren ergeben (Festsetzung, Rechtsbehelfsverfahren, Erhebung und Vollstreckung); eine abweichende Regelung über die örtliche Zuständigkeit setzt mithin eine Übertragung der [X.] für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten voraus.

Der [X.] hat weiter entschieden, dass § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 des Finanzverwaltungsgesetzes (FVG) dem Vorstand der [X.] nur die Befugnis einräumt, innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten abweichend von den Vorschriften der [X.] über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden einer anderen Familienkasse zu übertragen. Die Übertragung lediglich einzelner Sachaufgaben für bestimmte Gruppen von Berechtigten von der örtlich und damit gesamtzuständigen Familienkasse auf eine andere Familienkasse oder Behörde betrifft demgegenüber den Gegenstand und Inhalt der der Finanzbehörde zugewiesenen Aufgaben und damit eine Frage der sachlichen Zuständigkeit. Für eine derartige Aufspaltung der [X.], wonach für Entscheidungen des [X.] weiterhin die [X.], für Entscheidungen des "[X.]" hingegen eine andere Familienkasse zuständig sein sollte, fehlt die erforderliche gesetzliche Grundlage.

3. Der [X.] hat in den Urteilen in [X.], 19, [X.] 2021, 712 und in [X.], 1100 weiter entschieden, dass § 127 [X.] einer Aufhebung des angegriffenen Verwaltungsakts, der von der --sachlich unzuständigen-- Revisionsbeklagten im Erhebungsverfahren getroffen wurde, nicht entgegensteht und es sich bei der Entscheidung über einen Erlass zudem um eine Ermessensentscheidung handelt, auf die § 127 [X.] grundsätzlich keine Anwendung findet.

4. Soweit der Kläger die Aufhebung des Ablehnungsbescheids sowie der dazu ergangenen Einspruchsentscheidung begehrt, hat die Klage aus den dargelegten Gründen Erfolg. Soweit der Kläger darüber hinaus die Verpflichtung zum Ausspruch des begehrten Erlasses der [X.] begehrt, hat die Klage keinen Erfolg, da die beklagte [X.] Familienkasse schon wegen ihrer Unzuständigkeit einen solchen Erlass nicht aussprechen kann. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Klage im Übrigen abzuweisen.

5. Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Familienkasse zu tragen (§ 135 Abs. 1 [X.]O). Der Kläger hat obsiegt, soweit er im Ergebnis die Aufhebung des Ablehnungsbescheids sowie der Einspruchsentscheidung erreicht hat. Der [X.] bleibt bei der Kostenverteilung außer Betracht. Der [X.] konnte nicht beurteilen, ob das [X.] in materiell-rechtlicher Hinsicht zu Recht diese Verpflichtung bejaht hat. Dies hat die [X.] zu verantworten. Ihr ist nach § 137 Satz 2 [X.]O ein vorprozessuales Verschulden zuzurechnen, weil der Ablehnungsbescheid und die Einspruchsentscheidung durch unzuständige Behörden erlassen wurden, sodass der Kläger, der den Erlassantrag bei der zuständigen Behörde gestellt hat, nach Abschluss des Revisionsverfahrens in die Ausgangsposition zurückversetzt wurde (vgl. [X.] in Tipke/[X.], § 137 [X.]O Rz 8).

Meta

III R 4/21

07.04.2022

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend FG Köln, 23. September 2020, Az: 3 K 2800/18, Urteil

§ 137 S 2 FGO, § 5 Abs 1 S 1 Nr 11 S 4 FVG

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 07.04.2022, Az. III R 4/21 (REWIS RS 2022, 3795)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 3795

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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