Bundesfinanzhof, Urteil vom 07.04.2022, Az. III R 33/20

3. Senat | REWIS RS 2022, 2864

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Gegenstand

Zuständigkeit von Familienkassen für das Erhebungsverfahren


Leitsatz

1. NV: Die örtlich zuständigen Familienkassen sind in Kindergeldsachen nach dem Grundsatz der Gesamtzuständigkeit auch für das Erhebungsverfahren zuständig; die Konzentration der Aufgaben des Erhebungsverfahrens (hier: Erlass einer Kindergeldrückforderung) beim Inkasso-Service Recklinghausen und der Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord war rechtswidrig (vgl. Senatsurteil vom 25.02.2021 - III R 36/19, BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712).

2. NV: Lehnt die hiernach unzuständige Familienkasse einen Erlassantrag ab, so hat sie die Kosten des anschließenden finanzgerichtlichen Verfahrens und des Revisionsverfahrens auch insoweit zu tragen, als der Kläger ohne Erfolg die Verpflichtung zum Erlass begehrt hat.

Tenor

Auf die Revision des [X.] werden das Urteil des [X.] vom [X.] - 5 K 5255/17, der Ablehnungsbescheid vom 09.06.2017 sowie die Einspruchsentscheidung vom 28.11.2017 aufgehoben.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.

Tatbestand

I.

1

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) bezog für seine im [X.]ahr 1990 geborene Tochter [X.]. Mit Bescheid vom 13.03.2014 hob die [X.] die Kindergeldfestsetzung ab November 2012 auf und forderte das für den Zeitraum November 2012 bis November 2013 gezahlte Kindergeld zurück, da die Anspruchsvoraussetzungen nicht mehr erfüllt waren. Der dagegen erhobene Einspruch des [X.] hatte keinen Erfolg.

2

Mit Schreiben vom 10.02.2017 beantragte der Kläger bei der [X.] den Erlass des zurückgeforderten Betrags aus Billigkeitsgründen. Er trug vor, das Kindergeld sei bei [X.] auf die von ihr bezogenen Grundsicherungsleistungen angerechnet worden. [X.] habe im Streitzeitraum nicht mehr in seinem Haushalt gelebt und er habe auch nicht gewusst, dass sie den Kontakt zum [X.]obcenter abgebrochen habe.

3

Die [X.] leitete den Erlassantrag an die [X.], [X.] Familienkasse ([X.] Familienkasse) weiter. Diese erließ einen Betrag von 160,50 € und lehnte den Erlassantrag im Übrigen durch Bescheid vom 09.06.2017 ab. Zur Begründung führte sie aus, der Kläger habe seine Mitwirkungspflicht verletzt, weil er nicht mitgeteilt habe, dass [X.] ihre Berufsausbildung abgebrochen habe. Dagegen wandte sich der Kläger mit Einspruch, den die Familienkasse [X.] ([X.]) Nord durch Einspruchsentscheidung vom 28.11.2017 zurückwies.

4

Im anschließenden finanzgerichtlichen Verfahren behandelte das Finanzgericht (FG) die Familienkasse [X.] Nord als Beklagte. Es wies die Klage ab, mit welcher der Kläger die Verpflichtung zum Erlass des [X.] von 2.231,50 € begehrte. Es war der Ansicht, die Familienkasse [X.] Nord sei örtlich unzuständig, was allerdings nicht zur Rechtswidrigkeit des Ablehnungsbescheids führe. Die Ablehnung eines Billigkeitserlasses sei rechtskonform.

5

Gegen das Urteil wendet sich der Kläger mit der Revision, mit welcher er vorträgt, die Entscheidung über den Billigkeitsantrag sei durch eine unzuständige Behörde getroffen worden, auch sei die Ablehnung des Billigkeitserlasses rechtswidrig.

6

Die Beteiligten sind mit Schreiben vom 07.12.2021 darauf hingewiesen worden, dass das Rubrum des Verfahrens dahin zu berichtigen ist, dass anstelle der Familienkasse [X.] Nord, die über den Einspruch entschieden hat, die [X.] Familienkasse, welche den Erlass weit überwiegend abgelehnt und damit den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassen hat (§ 63 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--), die Beklagte und Revisionsbeklagte ist.

7

Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil, den Ablehnungsbescheid vom 09.06.2017 sowie die Einspruchsentscheidung vom 28.11.2017 aufzuheben und die beklagte Familienkasse zum Erlass des [X.] von 2.231,50 € zu verpflichten.

8

Die [X.] Familienkasse beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

9

Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil wird mit der Maßgabe aufgehoben, dass anstelle der Familienkasse [X.] Nord die [X.] Familienkasse die Beklagte und Revisionsbeklagte ist. Ebenso werden der Ablehnungsbescheid vom 09.06.2017 und die Einspruchsentscheidung vom 28.11.2017 aufgehoben (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 [X.]O). Das [X.] war zu Unrecht der Ansicht, der Bescheid über die Ablehnung des Erlasses und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung seien im Ergebnis rechtlich nicht zu beanstanden.

1. Die Klage richtet sich infolge rechtsschutzgewährender Auslegung gegen die [X.] Familienkasse. Da diese den beantragten Erlass abgelehnt hat, ist die Klage gemäß § 63 Abs. 1 [X.]O gegen sie zu richten, weil sie den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassen hat. Daher ist sie und nicht die Familienkasse [X.] Nord als Rechtsmittelbehörde beteiligt ([X.]surteil vom 25.02.2021 - III R 36/19, [X.], 19, [X.] 2021, 712, Rz 13 ff.; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], § 63 [X.]O Rz 20), weil kein Fall des § 63 Abs. 2 Nr. 1 [X.]O vorliegt. Die Berichtigung des Rubrums kann daher noch im Revisionsverfahren vorgenommen werden; die Beteiligten haben keine Einwände erhoben.

2. Das [X.] hat es im Ergebnis zu Recht abgelehnt, eine Verpflichtung zum Erlass eines Betrags von 2.231,50 € auszusprechen. Es hat allerdings rechtsfehlerhaft den Bescheid, mit dem der begehrte Erlass weit überwiegend abgelehnt wurde, sowie die dazu ergangene Einspruchsentscheidung nicht aufgehoben. Beide Bescheide wurden von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen.

a) Nach § 227 Satz 1 der Abgabenordnung ([X.]) können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Die Zuständigkeit für die Entscheidung über den Erlass bestimmt sich nach der Verwaltungshoheit, welche sowohl die im Festsetzungsverfahren als auch die im Erhebungsverfahren zu treffenden Entscheidungen umfasst (Loose in Tipke/[X.], § 227 [X.] Rz 117).

b) Der [X.] hat bereits mehrfach entschieden, dass die Konzentration der Aufgaben des [X.] --insbesondere der Erlass und die Stundung von [X.] bei der [X.] Familienkasse und der Familienkasse [X.] Nord rechtswidrig ist ([X.]surteile in [X.], 19, [X.] 2021, 712; vom 25.02.2021 - III R 28/20, [X.], 1100, und vom 07.07.2021 - III R 21/18, [X.], 1457).

In den vorgenannten Urteilen, auf die hinsichtlich der Einzelheiten verwiesen wird, hat der [X.] dargelegt, dass für die örtliche Zuständigkeit (§§ 16 ff. [X.]) der Grundsatz der [X.] gilt. Die Zuständigkeit der örtlich zuständigen Familienkasse umfasst daher grundsätzlich alle Verwaltungstätigkeiten der Finanzbehörde, die sich aus dem gesamten Besteuerungsverfahren ergeben (Festsetzung, Rechtsbehelfsverfahren, Erhebung und Vollstreckung); eine abweichende Regelung über die örtliche Zuständigkeit setzt mithin eine Übertragung der [X.] für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten voraus.

Der [X.] hat weiter entschieden, dass § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 des Finanzverwaltungsgesetzes (FVG) dem Vorstand der [X.] nur die Befugnis einräumt, innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten abweichend von den Vorschriften der [X.] über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden einer anderen Familienkasse zu übertragen. Die Übertragung lediglich einzelner Sachaufgaben für bestimmte Gruppen von Berechtigten von der örtlich und damit gesamtzuständigen Familienkasse auf eine andere Familienkasse oder Behörde betrifft demgegenüber den Gegenstand und Inhalt der der Finanzbehörde zugewiesenen Aufgaben und damit eine Frage der sachlichen Zuständigkeit. Für eine derartige Aufspaltung der [X.], wonach für Entscheidungen des [X.] weiterhin die [X.], für Entscheidungen des "[X.]" hingegen eine andere Familienkasse zuständig sein sollte, fehlt die erforderliche gesetzliche Grundlage.

3. Der [X.] hat in den Urteilen in [X.], 19, [X.] 2021, 712 und in [X.], 1100 weiter entschieden, dass § 127 [X.] einer Aufhebung des angegriffenen Verwaltungsakts, der von der --sachlich unzuständigen-- Behörde im Erhebungsverfahren getroffen wurde, nicht entgegensteht und es sich bei der Entscheidung über einen Erlass zudem um eine Ermessensentscheidung handelt, auf die § 127 [X.] grundsätzlich keine Anwendung findet.

4. Soweit der Kläger die Aufhebung des Ablehnungsbescheids sowie der dazu ergangenen Einspruchsentscheidung begehrt, hat die Klage aus den dargelegten Gründen Erfolg. Denn das [X.] ist zu Unrecht von der Rechtmäßigkeit des Ablehnungsbescheids in Gestalt der dazu ergangenen Einspruchsentscheidung ausgegangen.

Soweit der Kläger darüber hinaus die Verpflichtung zum Ausspruch des begehrten Erlasses der [X.] begehrt, hat die Klage dagegen keinen Erfolg, da die beklagte [X.] Familienkasse schon wegen ihrer Unzuständigkeit einen solchen Erlass nicht aussprechen kann. Das angefochtenen Urteil war daher aufzuheben und die Klage im Übrigen abzuweisen.

5. Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Familienkasse zu tragen (§ 135 Abs. 1 [X.]O). Der Kläger hat obsiegt, soweit er im Ergebnis die Aufhebung des Ablehnungsbescheids sowie der Einspruchsentscheidung erreicht hat. Der [X.] bleibt bei der Kostenverteilung außer Betracht. Der [X.] konnte nicht beurteilen, ob das [X.] in materiell-rechtlicher Hinsicht zu Recht eine solche Verpflichtung abgelehnt hat. Dies hat die [X.] zu verantworten. Ihr ist nach § 137 Satz 2 [X.]O ein vorprozessuales Verschulden zuzurechnen, weil der Ablehnungsbescheid und die Einspruchsentscheidung durch unzuständige Behörden erlassen wurden, sodass der Kläger, der den Erlassantrag bei der zuständigen Behörde gestellt hat, nach Abschluss des Revisionsverfahrens in die Ausgangsposition zurückversetzt wurde (vgl. [X.] in Tipke/[X.], § 137 [X.]O Rz 8).

Meta

III R 33/20

07.04.2022

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 20. September 2019, Az: 5 K 5255/17, Urteil

§ 137 S 2 FGO, § 5 Abs 1 S 1 Nr 11 S 4 FVG, § 127 AO, § 16 AO, § 17 AO, § 135 Abs 1 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 07.04.2022, Az. III R 33/20 (REWIS RS 2022, 2864)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 2864

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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