Bundesgerichtshof, Beschluss vom 26.03.2024, Az. XIII ZB 29/21

13. Zivilsenat | REWIS RS 2024, 2566

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Leitsatz

1. Die gemeinsame persönliche Anhörung von Betroffenen, gegen die jeweils Haft zur Sicherung der Abschiebung beantragt worden ist, verstößt gegen die für die richterliche Anhörung vorgeschriebene Nicht-Öffentlichkeit; dieser Verstoß begründet einen absoluten Rechtsbeschwerdegrund, der zur Rechtswidrigkeit der auf Grund dieser Anhörung angeordneten Haft führt.

2. Die öffentliche Zustellung eines Ausweisungsbescheids ist unwirksam, wenn in dem Aushang ein unzutreffendes Datum des Bescheids angegeben wird.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 9. Zivilkammer des [X.] vom 29. April 2021 aufgehoben.

Es wird festgestellt, dass der Beschluss des [X.] vom 3. Dezember 2020 den Betroffenen im Zeitraum vom 3. bis 17. Dezember 2020 in seinen Rechten verletzt hat.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem [X.] auferlegt.

Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 5.000 €.

Gründe

1

I. Der Betroffene, ein [X.] Staatsangehöriger, reiste spätestens Anfang 2020 nach [X.] ein. Mit Bescheid vom 13. Mai 2020 (im Folgenden: Ausweisungsbescheid) stellte die beteiligte Behörde fest, dass der Betroffene kein Aufenthaltsrecht in [X.] hat, wies ihn für die Dauer von fünf Jahren aus der [X.] aus, verhängte für diesen Zeitraum ein Einreise- und Aufenthaltsverbot, forderte ihn auf, binnen zehn Tagen nach Bekanntgabe dieses Bescheids auszureisen, und drohte ihm für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung nach [X.] an. Da der Aufenthalt des Betroffenen unbekannt war, veranlasste die beteiligte Behörde durch Aushang eines Schreibens vom selben Tag die öffentliche Zustellung des [X.].

2

Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht nach Anhörung des Betroffenen mit Beschluss vom 3. Dezember 2020 Haft zur Sicherung seiner Abschiebung bis zum 19. Januar 2021 angeordnet. Die nach seiner krankheitsbedingten Haftentlassung am 17. Dezember 2020 mit dem Feststellungsantrag weiterverfolgte Beschwerde des Betroffenen hat das [X.] mit Beschluss vom 29. April 2021 zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde.

3

II. Die zulässige Rechtsbeschwerde hat Erfolg.

4

1. Das Beschwerdegericht hat angenommen, die Haftanordnung des Amtsgerichts sei rechtmäßig. Es habe ein zulässiger Haftantrag vorgelegen. Aufgrund der bestandskräftigen Abschiebungsandrohung sei die Ausreisepflicht unmittelbar vollziehbar gewesen. Die Bestandskraft sei eingetreten, weil der Ausweisungsbescheid dem Betroffenen wirksam durch öffentliche Bekanntmachung zugestellt worden sei und sich der Betroffene auf Mängel des [X.] nicht berufen könne. Dass der Betroffene vor dem Amtsgericht im Beisein seines Bruders angehört worden sei, stelle zwar einen Verfahrensfehler dar. Es könne jedoch nicht festgestellt werden, dass sich dieser ursächlich auf die Durchführung der Anhörung ausgewirkt habe.

5

2. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

6

a) Die Beschlüsse des Amtsgerichts und des [X.] sind gemäß § 72 Abs. 3 FamFG, § 547 Nr. 5 ZPO als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen, weil die Haftanordnung durch das Amtsgericht auf Grund einer Anhörung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt worden sind.

7

aa) Nach § 170 Abs. 1 Satz 1 [X.] sind Verhandlungen, Erörterungen und Anhörungen in Familiensachen sowie in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, wozu nach § 23a Abs. 2 Nr. 6 [X.] auch Freiheitsentziehungssachen zählen, nicht öffentlich. Wird in einem solchen Verfahren die Öffentlichkeit zu Unrecht zugelassen, begründet dies einen absoluten Rechtsbeschwerdegrund nach § 72 Abs. 3 FamFG, § 547 Nr. 5 ZPO ([X.], Beschluss vom 23. März 2021- [X.]/19, juris Rn. 6 mwN.).

8

bb) Das Amtsgericht hat bei der Anhörung des Betroffenen am 3. Dezember 2020 gegen die Vorschriften über die (Nicht-)Öffentlichkeit verstoßen, indem es den Betroffenen gemeinsam mit seinem Bruder [X.] angehört hat.

9

(1) Ausweislich des [X.] vom 3. Dezember 2020 erschienen vorgeführt als "die Betroffenen" der Betroffene und [X.], ferner eine Dolmetscherin sowie zwei Vertreter der beteiligten Behörde. Im [X.] wird festgestellt, "die Betroffenen" seien zum Antrag des Ausländeramts angehört worden. Es folgt die Wiedergabe der Erklärungen zunächst des Betroffenen, anschließend des [X.], sodann wird eine ergänzende Erklärung des Betroffenen festgehalten. Anschließend ist vermerkt, dass die Unterschrift "von beiden Betroffenen" verweigert wurde. Irgendeinen Hinweis darauf, dass [X.] während der Anhörung des Betroffenen den Raum verlassen hat oder umgekehrt, enthält der Vermerk nicht. Ebenso wenig wird im [X.] erwähnt, dass das Amtsgericht die Öffentlichkeit zugelassen oder der Betroffene sich mit seiner Anhörung im Beisein des [X.] einverstanden erklärt hat.

(2) Die im [X.] dokumentierten Vorgänge sind der rechtlichen Bewertung zugrunde zu legen, da diesem als öffentlicher Urkunde (§§ 415, 418 ZPO) Beweiskraft hinsichtlich der Richtigkeit der in ihm festgehaltenen Umstände und Vorgänge zukommt ([X.], Beschluss vom 23. März 2021- [X.]/19, juris Rn. 9 mwN). Aus ihnen ergibt sich zweifelsfrei, dass die Anhörung des Betroffenen im Beisein seines Bruders erfolgt ist.

(3) Die Anwesenheit von [X.] bei der Anhörung des Betroffenen stellt einen Verstoß gegen die Nicht-Öffentlichkeit der Anhörung in Freiheitsentziehungsverfahren dar. [X.] gehörte nicht zum Kreis der teilnahmeberechtigten Personen. Er war insbesondere nicht Beteiligter des hier zu beurteilenden Haftanordnungsverfahrens. Dieses wurde, wie sich auch aus den vorliegenden Gerichtsakten ergibt, allein gegen den Betroffenen geführt. Dem steht nicht entgegen, dass [X.] im [X.] vom 3. Dezember 2020 ebenfalls als "Betroffener" bezeichnet wird. Daraus mag allenfalls zu schließen sein, dass gegen ihn ebenfalls ein Haftanordnungsverfahren eingeleitet worden ist. Dieses würde indes ein eigenständiges Verfahren darstellen; eine Verbindung der Verfahren nach § 20 FamFG ist nicht erfolgt. Dafür, dass der Betroffene [X.] als Vertrauensperson nach § 418 Abs. 3 Nr. 2 FamFG benannt hat, was ihn zum Beteiligten machen würde, bestehen keine Anhaltspunkte.

cc) Der angefochtene Beschluss ist unmittelbar im [X.] an die Anhörung vom 3. Dezember 2020 und damit "auf Grund" der mündlichen Verhandlung, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt wurden, im Sinne von § 547 Nr. 5 ZPO in Verbindung mit § 72 Abs. 3 FamFG ergangen. Auf eine weitergehende Ursächlichkeit dieses Verfahrensfehlers für die angefochtene Entscheidung kommt es entgegen der Ansicht des [X.] nicht an, weil er einen absoluten Rechtsbeschwerdegrund begründet.

b) Rechtsfehlerhaft hat das Beschwerdegericht zudem angenommen, im Zeitpunkt der Haftanordnung durch das Amtsgericht habe eine bestandskräftige Abschiebungsandrohung nach § 59 AufenthG vorgelegen, da dem Betroffenen der Ausweisungsbescheid der beteiligten Behörde vom 13. Mai 2020 wirksam öffentlich zugestellt worden sei und sich dieser auf [X.] nicht berufen könne.

aa) In dem zum Zweck der öffentlichen Zustellung des [X.] ausgehängten Schreiben der beteiligten Behörde vom 13. Mai 2020, das als Aushang und Öffentliche Bekanntmachung bezeichnet war, wurde mitgeteilt, gegen den Betroffenen sei "mit Schreiben vom 27.02.2020" eine Ausweisung mit Abschiebungsandrohung erlassen worden. Dieses Schreiben werde hiermit gemäß § 10 Abs. 1 und 2 [X.] öffentlich zugestellt, da der Aufenthaltsort der betroffenen Person unbekannt beziehungsweise die anderweitige Zustellung wegen ausländischer Anschrift nicht möglich sei oder nicht erfolgversprechend erscheine.

bb) Damit ist eine wirksame öffentliche Zustellung nicht erfolgt.

(1) Gemäß § 1 Abs. 1 des [X.] finden auf das Zustellungsverfahren der Behörden des [X.] die Vorschriften der §§ 2 bis 10 des [X.] vom 12. August 2005 ([X.]) in der jeweils geltenden Fassung Anwendung. Nach § 10 [X.] in der am 13. Mai 2020 geltenden Fassung erfolgt die öffentliche Zustellung durch Bekanntmachung einer Benachrichtigung an der Stelle, die von der Behörde hierfür allgemein bestimmt ist, oder durch Veröffentlichung einer Benachrichtigung im [X.], und muss die Benachrichtigung unter anderem das Datum und das Aktenzeichen des Dokuments erkennen lassen. Diese Voraussetzungen waren im Streitfall nicht erfüllt, weil in der Benachrichtigung ein unrichtiges Datum des [X.] - der 27. Februar 2020 statt dem 13. Mai 2020 - angegeben war. Damit war der Aushang nicht entsprechend den gesetzlichen Vorgaben ordnungsgemäß vorgenommen.

(2) Dieser Mangel führt zur Unwirksamkeit der öffentlichen Zustellung des [X.] vom 13. Mai 2020 (vgl. [X.] in [X.]/[X.]/[X.], Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl., § 10 [X.] Rn. 12; [X.] in [X.]/App/[X.], VwVG, 12. Aufl., § 10 [X.] Rn. 19; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], Verwaltungsrecht, 5. Aufl., § 10 [X.] Rn. 7; zu § 186 Abs. 2 ZPO: KG, NJW 2012, 245 Rn. 8; [X.], [X.] 2006, 375 [juris Rn. 12]). Da das Beschwerdegericht nicht festgestellt hat, dass der Ausweisungsbescheid dem Betroffenen nach seiner Festnahme übergeben wurde, und dafür auch keine Anhaltspunkte bestehen, kommt eine Heilung des Zustellungsmangels, die durch den tatsächlichen Zugang des Dokuments hätte erfolgen können (vgl. [X.] in [X.]/[X.]/[X.], aaO, § 10 [X.] Rn. 12; [X.] in [X.]/App/[X.], aaO § 10 [X.] Rn. 19; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], aaO, § 10 [X.] Rn. 7), nicht in Betracht.

cc) Entgegen der Ansicht des [X.] ist es dem Betroffenen auch nicht verwehrt, sich auf die Unwirksamkeit der öffentlichen Zustellung des [X.] zu berufen. Zwar hat der [X.] im Hinblick auf öffentliche Zustellungen nach den - hier nicht anwendbaren - §§ 185 ff. ZPO entschieden, dass es sich im Einzelfall als rechtsmissbräuchlich darstellen kann, wenn sich der [X.] auf die Unwirksamkeit einer öffentlichen Zustellung beruft (vgl. [X.], Urteil vom 19. Dezember 2001 - [X.], [X.]Z 149, 311 [juris Rn. 36]; Beschluss vom 28. April 2008 - [X.], [X.], 995 Rn. 2). Von einem solchen Rechtsmissbrauch ist hier indes nicht auszugehen. Dass der Betroffene, wie das Beschwerdegericht meint, zielgerichtet versucht hat, die Zustellung des [X.] zu verhindern und mit dieser sicher rechnen musste, kann aus den getroffenen Feststellungen nicht gefolgert werden. Weder der Umstand, dass er sich zu diesem Zeitpunkt bereits geraume Zeit unberechtigt im [X.] aufhielt, noch, dass er illegal untergetaucht war und mehrfach gegen Rechtsvorschriften verstoßen hatte, was zu [X.] zweier Staatsanwaltschaften geführt hatte, vermögen die Annahme zu stützen, dass er gerade die Zustellung eines [X.] vereiteln wollte. Sein unerlaubter Aufenthalt bildet den Grund für seine Ausreisepflicht, sein Untertauchen war bei lebensnaher Betrachtung dadurch bedingt, dass er sich dem Zugriff der Strafverfolgungsbehörden entziehen wollte. Zudem hatte der Betroffene keine Kenntnis vom Tätigwerden der beteiligten Behörde und einer bevorstehenden Ausweisungsverfügung und verfügte während der gesamten Dauer seines Aufenthalts in [X.] über keinen festen Wohnsitz.

III. [X.] beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts ergibt sich aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

[X.]     

      

[X.]     

      

Tolkmitt

      

Picker     

      

Kochendörfer     

      

Meta

XIII ZB 29/21

26.03.2024

Bundesgerichtshof 13. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Wuppertal, 29. April 2021, Az: 9 T 7/21

§ 23a Abs 2 Nr 6 GVG, § 170 Abs 1 GVG, § 72 Abs 3 FamFG, § 547 Nr 5 ZPO, § 10 VwZG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 26.03.2024, Az. XIII ZB 29/21 (REWIS RS 2024, 2566)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2024, 2566

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

XIII ZB 80/19 (Bundesgerichtshof)

Überstellungshaft: Örtliche Zuständigkeit der Verwaltungsbehörde für Haftantragsstellung; wirksame Zustellung des Haftantrags


XIII ZB 93/19 (Bundesgerichtshof)

Abschiebungshaftverfahren: Anforderungen an einen zulässigen Haftantrag


L 7 BA 1487/19 B (Landessozialgericht Baden-Württemberg)


XII ZB 554/21 (Bundesgerichtshof)

Notwendigkeit der Benachrichtigung des Verfahrenspflegers von einer gerichtlichen Anhörung des Betroffenen in Unterbringungssachen


XIII ZB 97/19 (Bundesgerichtshof)

Rücküberstellungshaft: Abschiebungsanordnung bei Ablehnung eines Asylantrags als Grundlage der Ausreisepflicht


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Literatur & Presse BETA

Diese Funktion steht nur angemeldeten Nutzern zur Verfügung.

Anmelden
Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.