Bundesgerichtshof, Beschluss vom 06.12.2018, Az. 4 StR 424/18

4. Strafsenat | REWIS RS 2018, 770

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Gegenstand

Erörterung einer überlangen Verfahrensdauer in Urteilsgründen notwendig


Tenor

1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 17. April 2018 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine allgemeine Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

2. Die weiter gehenden Revisionen werden verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hatte die Angeklagten im ersten Rechtsgang mit Urteil vom 21. September 2016 wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen ([X.]) bzw. gefährlicher Körperverletzung ([X.].   C.   ) zu Freiheitsstrafen verurteilt. Mit Beschluss vom 13. April 2017 (4 StR 35/17) hob der Senat dieses Urteil mit den Feststellungen auf. Nunmehr hat das [X.] den Angeklagten [X.] wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten sowie den Angeklagten [X.].   C.    wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Ferner hat es Kompensationsentscheidungen getroffen.

2

Die hiergegen gerichteten Revisionen der Angeklagten haben mit der Sachrüge den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg und führen zur Aufhebung der [X.]. Im Übrigen sind die Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

3

1. Die formgerecht ausgeführte Verfahrensrüge einer Verletzung des § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO hat keinen Erfolg. Insoweit bemerkt der Senat:

4

a) Gemäß § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO ist nach der Vernehmung des Angeklagten zu seinen persönlichen Verhältnissen der [X.] durch den Staatsanwalt zu verlesen. Die Verlesung des [X.]es ist wesentliches Verfahrenserfordernis und elementarer Teil der Hauptverhandlung, deren Unterlassung im Allgemeinen schon deshalb die Revision begründet (vgl. [X.], Beschluss vom 23. August 2006 – 1 [X.], [X.], 3582, 3586). Darüber hinaus dient die Verlesung dem Zweck, den Angeklagten, [X.] und die Öffentlichkeit über die Einzelheiten des [X.] zu unterrichten (vgl. [X.], Urteil vom 24. April 2018 – 1 StR 481/17, juris Rn. 4). Dem Angeklagten soll durch die Verlesung der Anklage der Tatvorwurf in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht aktuell vor Augen geführt werden, damit klar wird, wogegen er sich verteidigen kann (vgl. [X.]/[X.], 26. Aufl., § 243 Rn. 39). Auf die Verlesung kann nicht verzichtet werden; sie hat grundsätzlich vor Eintritt in die Beweisaufnahme zu erfolgen ([X.]/[X.], aaO).

5

Diese Grundsätze gelten uneingeschränkt auch für eine Hauptverhandlung nach Zurückverweisung der Sache durch das Revisionsgericht (vgl. [X.]/[X.], aaO, § 243 Rn. 51). Einschränkungen können sich in dieser besonderen prozessualen Konstellation gegebenenfalls infolge eingetretener [X.] oder aufgrund sonstiger Beschränkungen oder Erweiterungen des [X.] nach § 154a Abs. 2 und 3 StPO ergeben (vgl. [X.], Urteil vom 24. April 2018, aaO). Nur bei Zurückverweisung der Sache allein im Strafausspruch sind statt des [X.]es das in [X.] erwachsene Urteil sowie die Revisionsentscheidung zu verlesen.

6

b) Gemessen hieran entsprach die vom Vorsitzenden gewählte Vorgehensweise, im Rahmen des Berichts über den bisherigen Verfahrensgang zunächst die Feststellungen aus dem im ersten Rechtsgang ergangenen Urteil vom 21. September 2016 sowie die Revisionsentscheidung des Senats und erst hieran anschließend – anstelle des [X.] der Staatsanwaltschaft – den [X.] zu verlesen, angesichts der gewählten Reihenfolge sowie des Umstands, dass nicht der [X.] der Staatsanwaltschaft, sondern der Vorsitzende den [X.] verlesen hat, nicht den gesetzlichen Vorgaben.

7

Der Senat vermag jedoch auszuschließen, dass das angegriffene Urteil auf dem Verfahrensfehler beruht (§ 337 Abs. 1 StPO). Die gewählte Verfahrensweise beeinträchtigte die der Verlesung des [X.]es zugedachte Funktion, die Angeklagten vor Eintritt in die Beweisaufnahme in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht vollständig über den Tatvorwurf zu informieren, um ihnen eine sachgerechte Verteidigung zu ermöglichen, nicht. Auch die Schöffen und die Öffentlichkeit wurden ausreichend über den Gegenstand des Verfahrens informiert.

8

Soweit die Revisionen darauf hinweisen, dass ein Beruhen des Urteils auf dem geltend gemachten Verfahrensfehler nicht auszuschließen sei, weil die Schöffen durch die Verlesung des aufgehobenen Urteils und die hierin liegende Vermittlung von [X.] zum Nachteil der Angeklagten beeinflusst worden sein könnten, wäre dies keine Folge eines [X.] gegen § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO. Dass der Vorsitzende (auch) das im ersten Rechtsgang ergangene Urteil sowie die darauf bezogene Entscheidung des Senats verlesen hat, begegnet unabhängig davon für sich genommen auch keinen rechtlichen Bedenken (vgl. [X.], Urteil vom 23. März 1976 – 1 StR 9/76, [X.] 1976, 368).

9

2. Hingegen halten die [X.] rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die [X.] sind lückenhaft.

Das [X.] hat nicht erkennbar bedacht, dass zwischen den verfahrensgegenständlichen Taten und dem Urteil ein langer zeitlicher Abstand von rund fünf Jahren liegt. Ein erheblicher zeitlicher Abstand zwischen Tat und Urteil ist neben dem strafmildernd wirkenden Gesichtspunkt überdurchschnittlich langer Verfahrensdauer und dem rechtsfehlerfrei festgestellten Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 MRK ein bestimmender Strafmilderungsgrund (vgl. [X.], Beschluss vom 21. Dezember 1998 – 3 [X.], [X.], 181, 182) und gemäß § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO in den Urteilsgründen zu erörtern (vgl. [X.], Urteil vom 24. März 2016 – 2 [X.], juris Rn. 49; Beschlüsse vom 29. September 2015 – 2 StR 128/15, [X.], 7; vom 27. Mai 2008 – 3 [X.], juris Rn. 7).

Der Senat vermag nicht auszuschließen, dass sich der aufgezeigte Rechtsfehler auf die Höhe der Einzelstrafen und die verhängte Gesamtfreiheitsstrafe ausgewirkt hat. Da es sich um einen reinen Wertungsfehler handelt, können die Feststellungen bestehen bleiben (vgl. [X.]/[X.], 7. Aufl., § 353 Rn. 23). Ergänzende Feststellungen sind möglich, sofern sie den bislang getroffenen Feststellungen nicht widersprechen.

Die Kompensationsentscheidung bleibt von der Aufhebung unberührt. Das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht wird erforderlichenfalls zu prüfen haben, ob die Kompensation zu erhöhen ist.

3. Der Senat hat das Verfahren gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO an eine allgemeine Strafkammer des [X.]s Dortmund verwiesen.

Sost-Scheible     

      

Roggenbuck     

      

Cierniak

      

Feilcke     

      

Bartel     

      

Meta

4 StR 424/18

06.12.2018

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Essen, 17. April 2018, Az: 27 KLs 27/17

§ 243 Abs 3 S 1 StPO, § 267 Abs 3 S 1 StPO, Art 6 Abs 1 MRK

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 06.12.2018, Az. 4 StR 424/18 (REWIS RS 2018, 770)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2018, 770

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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