Bundesgerichtshof, Beschluss vom 10.01.2024, Az. III ZR 57/23

3. Zivilsenat | REWIS RS 2024, 93

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Gegenstand

Haftung der BaFin im sog. Wirecard-Bilanzskandal: Konkrete Anhaltspunkte oder Zweifel; Vertretbarkeit der Maßnahmen der BaFin im Rahmen der Marktmissbrauchsüberwachung und Bilanzkontrolle


Leitsatz

1. Zur Haftung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) im Zusammenhang mit dem sogenannten "Wirecard-Bilanzskandal".

2. Ob aus der ex-ante-Sicht der BaFin "konkrete Anhaltspunkte" im Sinne des § 107 Abs. 1 Satz 1 WpHG aF (bis zum 31. Dezember 2021 geltende Fassung) oder "Zweifel" im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 WpHG aF zu bejahen waren, ist allein anhand des Maßstabs der Vertretbarkeit unter Berücksichtigung der Belange einer effektiven Bilanzkontrolle zu beurteilen.

3. Die Maßnahmen der BaFin im Rahmen der Marktmissbrauchsüberwachung und der Bilanzkontrolle bezüglich der Wirecard AG in dem Zeitraum von April 2015 bis Juni 2020 waren vertretbar.

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des 1. Zivilsenats des [X.] vom 30. März 2023 - 1 U 183/22 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen (§ 97 Abs. 1 ZPO).

Streitwert: 64.833,75 €

Gründe

I.

1

Der Kläger nimmt die beklagte [X.] ([X.]) aus eigenem und abgetretenem Recht seiner Ehefrau im Zusammenhang mit dem Erwerb von Aktien der inzwischen insolventen [X.] unter dem Gesichtspunkt der Amtshaftung und der unionsrechtlichen Staatshaftung auf Schadensersatz in Anspruch.

2

Der Beklagten, einer selbständigen Anstalt des öffentlichen Rechts, obliegt unter anderem die Aufsicht über die Einhaltung der Vorschriften des Wertpapierhandelsgesetzes ([X.]). Dies betrifft vor allem die Bilanzkontrolle und die Marktmissbrauchsüberwachung. In dem Zeitraum vom 21. Dezember 2004 bis zum 31. Dezember 2021 wurde die Bilanzkontrolle auf der Grundlage eines zweistufigen "Enforcement-Verfahrens" durchgeführt (§§ 37n [X.] bzw. - ab 3. Januar 2018 - §§ 106 [X.]). Auf dessen erster Stufe wurde die [X.] ([X.]) tätig. Dabei handelte es sich um eine vom [X.] anerkannte privatrechtlich organisierte Einrichtung in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins. Die Beklagte sollte grundsätzlich erst dann - auf der zweiten Stufe - unmittelbar zuständig sein, unter anderem wenn das geprüfte Unternehmen die Kooperation mit der Prüfstelle verweigerte oder erhebliche Zweifel an der ordnungsgemäßen Durchführung der Prüfung durch die Prüfstelle bestanden.

3

Die [X.] wurde 1999 gegründet und im September 2018 in den [X.] ([X.]) aufgenommen. Das Unternehmen erbrachte - gemeinsam mit diversen Tochterunternehmen - informationstechnische Dienstleistungen im Zusammenhang mit elektronischem Zahlungsverkehr, ohne selbst Zahlungsdienstleister oder Kreditinstitut zu sein. Als Emittent von Aktien unterlag die [X.] der [X.] und der Bilanzkontrolle durch die Beklagte. Die Jahres- und Konzernabschlüsse sowie Lageberichte der [X.] hatte der Abschlussprüfer, die [X.] Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, bis einschließlich für das Geschäftsjahr 2018 jeweils mit einem uneingeschränkten Bestätigungsvermerk testiert.

4

Nachdem die Veröffentlichung des Jahres- und Konzernabschlusses 2019 mehrfach verschoben worden war, veröffentlichte die [X.] am 18. Juni 2020 eine Ad-hoc-Mitteilung, wonach der Abschlussprüfer mitgeteilt habe, dass über die Existenz von im Konzernabschluss zu konsolidierenden Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insgesamt 1,9 Mrd. € (etwa ein Viertel der [X.]) noch keine ausreichenden [X.] vorlägen und Hinweise bestünden, dass dem Abschlussprüfer unrichtige Saldenbestätigungen zu Täuschungszwecken vorgelegt worden seien. Am 22. Juni 2020 gab der Vorstand der [X.] mittels einer weiteren Ad-hoc-Mitteilung bekannt, dass vermeintliches Vermögen in Höhe von 1,9 Mrd. € bei zwei Banken auf den [X.] mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestehe. Drei Tage darauf beantragte die [X.] die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen, das am 25. August 2020 durch das [X.] eröffnet wurde. Bereits in den Jahren zuvor hatte es immer wieder Medienberichte, insbesondere in der "[X.]", über (bilanzielle) Unregelmäßigkeiten im Wirecard-Konzern gegeben.

5

Der Kläger und seine Ehefrau erwarben am 27. Januar 2020 insgesamt 500 Inhaberaktien der [X.] zu [X.] von 132,97 € für insgesamt 66.475 €. Am 25. Juni 2020 veräußerten sie die Aktien zu [X.] von 3,3105 € für insgesamt 1.648,25 €.

6

Der Kläger hat geltend gemacht, die Beklagte habe über Jahre ihre gesetzlichen Pflichten zur Aufklärung, Untersuchung, Verhinderung und Anzeige von Marktmanipulationen der [X.] und zur zutreffenden und vollständigen Information der Öffentlichkeit und des Kapitalmarkts verletzt. Sie habe konkrete Hinweise auf Verstöße der [X.] gegen Rechnungslegungsvorschriften weder zum Anlass pflichtgerechter Prüfung noch sachgerechter Information der Öffentlichkeit genommen. Die Beklagte hätte die Bilanzkontrolle bei der [X.] an sich ziehen müssen.

7

Das [X.] hat die auf Zahlung von 64.833,75 € nebst Zinsen gerichtete Klage abgewiesen. Das [X.] hat die Berufung des [X.] durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Die Revision wurde nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde.

II.

8

Die Beschwerde des [X.] gegen die Nichtzulassung der Revision in dem angefochtenen Beschluss ist unbegründet, weil die Zulassungsvoraussetzungen des § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO nicht vorliegen.

9

Das Berufungsgericht hat einen Schadensersatzanspruch des [X.] aus Amtshaftung (§ 839 Abs. 1 Satz 1 [X.] i.V.m. Art. 34 GG) beziehungsweise unter dem Gesichtspunkt des unionsrechtlichen Staathaftungsanspruchs zu Recht verneint. Die von der Beschwerde als grundsätzlich aufgeworfenen Rechtsfragen, insbesondere zu Art. 24 Abs. 1 [X.]. 1, Abs. 4 Satz 2 lit. h) der Richtlinie 2004/109/EG des [X.] und des Rates vom 15. Dezember 2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, und zur Änderung der Richtlinie 2011/34/EG ([X.], ABl. L 390, 98) und zu Art. 22, 23 Abs. 2, Abs. 3 [X.]. 1 der Verordnung ([X.]) Nr. 596/2014 des [X.] und des Rates vom 16. April 2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchsverordnung, ABl. L 173/1), sind nicht entscheidungserheblich. Die Maßnahmen der Beklagten im Rahmen der Marktmissbrauchsüberwachung und der Bilanzkontrolle bezüglich der [X.] in dem Zeitraum von April 2015 bis Juni 2020 sind weder nach § 6 oder §§ 106 [X.] noch im Hinblick auf die Regelungen der [X.] oder der Marktmissbrauchsverordnung zu beanstanden und waren jedenfalls vertretbar. Eine Vorlage an den [X.] nach Art. 267 Abs. 1, 3 A[X.]V ist daher nicht veranlasst. Auch die weiteren [X.] des [X.] (Divergenz zur Senatsrechtsprechung, rechtliches Gehör) greifen nicht durch.

1. Die von der Beschwerde aufgeworfene Frage, ob das zweistufige "Enforcement-Verfahren" den Regelungen von Art. 24 der [X.] widersprach und § 108 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 [X.] aF (vom 3. Januar 2018 bis 31. Dezember 2021 geltende Fassungen der §§ 106 ff [X.]; im Folgenden nur: aF) deshalb dahingehend auszulegen ist, dass entgegen dem Wortlaut der Vorschrift bereits "einfache" Zweifel eine unmittelbare Prüfungspflicht der [X.] begründeten, ist vorliegend nicht entscheidungserheblich. Auch auf der Grundlage des Vorbringens des [X.] lagen die Voraussetzungen für eine Bilanzprüfung durch die Beklagte in eigener Zuständigkeit insbesondere zu Beginn des Jahres 2019 nicht vor, da weder "erhebliche Zweifel" im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 [X.] aF noch "einfache Zweifel", wie sie vom Kläger im Wege richtlinienkonformer Auslegung als ausreichend erachtet werden, durch den Sachvortrag belegt werden. Die Entscheidung der Beklagten, die Bilanzprüfung (zunächst) der [X.] zu überlassen, war jedenfalls vertretbar.

a) Nach § 108 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 107 Abs. 1 Satz 1 [X.] aF ordnete die [X.] eine Prüfung der Rechnungslegung in eigener Zuständigkeit an, soweit konkrete Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen Rechnungslegungsvorschriften vorlagen und zugleich ihr die Prüfstelle berichtete, dass ein Unternehmen seine Mitwirkung bei einer Prüfung verweigerte oder mit dem Ergebnis der Prüfung nicht einverstanden war (§ 108 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 [X.] aF) beziehungsweise erhebliche Zweifel an der Richtigkeit des Prüfungsergebnisses der Prüfstelle oder an der ordnungsgemäßen Durchführung der Prüfung durch die Prüfstelle bestanden (aaO Nr. 2). Durch die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe auf der Tatbestandsebene ("konkrete Anhaltspunkte", "erhebliche Zweifel") brachte das Gesetz zum Ausdruck, dass der [X.] ein Beurteilungsspielraum zustand mit der Folge, dass es bei der Subsumtion des Sachverhalts unter die vorgenannten Normen mehr als nur eine "richtige" Antwort geben konnte, weil zum Beispiel Erfahrungssätze zu verwerten oder unter Einbeziehung wertender Gesichtspunkte bestimmte tatsächliche Umstände zu würdigen waren, und deshalb verschiedene Betrachter, ohne pflichtwidrig zu handeln, zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen konnten.

Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats, dass staatsanwaltschaftliche Handlungen, bei denen ein Beurteilungsspielraum des Entscheidungsträgers besteht (z.B. Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, Erhebung der öffentlichen Klage, Beantragung eines Haftbefehls oder einer Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnung), im Amtshaftungsprozess nicht auf ihre Richtigkeit, sondern nur auf ihre Vertretbarkeit zu prüfen sind. Letztere darf nur dann verneint werden, wenn bei voller Würdigung auch der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege die betreffende Entscheidung nicht mehr verständlich ist (vgl. Senat, Urteil vom 15. Dezember 2016 - [X.], [X.], 200 Rn. 14, 17; BeckOGK/[X.], [X.], § 839 Rn. 160 ff [Stand: 1. August 2023]; jew. mwN).

Soweit § 106 [X.] aF die [X.] zu der Prüfung verpflichtete, ob bestimmte Unternehmensabschlüsse und -berichte den gesetzlichen Vorschriften, den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung oder den sonstigen durch Gesetz zugelassenen Rechnungslegungsstandards entsprachen, gilt kein anderer Prüfungsmaßstab. Ob "konkrete Anhaltspunkte" im Sinne des § 107 Abs. 1 Satz 1 [X.] aF gegeben oder "Zweifel" im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 [X.] aF zu bejahen waren, ist allein anhand des Maßstabs der Vertretbarkeit unter Berücksichtigung der Belange einer effektiven Bilanzkontrolle zu beurteilen.

Bei der nachfolgenden gerichtlichen Beurteilung der fachlichen und rechtlichen Vertretbarkeit kommt es auf die ex-ante-Perspektive an (vgl. [X.], Urteil vom 3. März 2008 - [X.], [X.]Z 175, 365 Rn. 19). Das Gericht darf sich nicht von einer rückschauenden ex-post-Wertung leiten lassen, die auf späteren Erkenntnissen beruht (vgl. [X.], Urteil vom 26. November 2019 - 2 [X.], [X.]St 64, 217 Rn. 25).

b) Nach diesen Maßstäben lagen die Voraussetzungen für eine Bilanzprüfung durch die Beklagte in eigener Zuständigkeit (§ 108 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, 2 i.V.m. § 107 Abs. 1 Satz 1 [X.] aF) insbesondere zu Beginn des Jahres 2019, worauf der Kläger in erster Linie abhebt, nicht vor.

aa) Am 15. Februar 2019 verlangte die Beklagte gemäß § 108 Abs. 2 [X.] aF die Prüfung des verkürzten Konzernabschlusses der [X.] einschließlich des Lageberichts zum 30. Juni 2018. Als Reaktion auf die Artikel der [X.] vom 15. Oktober 2019 wies die Beklagte die Prüfstelle an, die unter Bezugnahme auf interne Dokumente der [X.] konkretisierten Vorwürfe bei der laufenden Prüfung zu berücksichtigen.

Dass die [X.] bei der von der Prüfstelle durchgeführten und am 21. Juli 2020 abgeschlossenen Prüfung nicht mitgewirkt oder ihre Mitwirkung sogar verweigert habe (§ 108 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 [X.] aF), behauptet der Kläger nicht. Ebenso wenig lässt sich mangels entsprechenden Parteivortrags des [X.] feststellen, dass (erhebliche beziehungsweise nur einfache) Zweifel hinsichtlich der ordnungsgemäßen Durchführung der Prüfung durch die Prüfstelle bestanden (§ 108 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 [X.] aF; siehe auch den Hinweisbeschluss des Berufungsgerichts vom 24. Januar 2023, S. 13 Abs. 4). [X.] lag auch noch kein Prüfungsergebnis vor, mit dem sich die [X.] hätte nicht einverstanden erklären können oder das zu Zweifeln an seiner Richtigkeit hätte Anlass geben müssen.

bb) Der Kläger kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, die Prüfstelle sei von vornherein ungeeignet gewesen, Prüfungen durchzuführen. Zwar war die Prüfstelle ein privatrechtlicher Verein ohne Hoheitsbefugnisse. Vielmehr war sie bei der Prüfung auf die Kooperation der Unternehmen angewiesen. Allerdings bestimmte § 342b Abs. 4 Satz 1 HGB aF (bis zum 31. Dezember 2021 geltende Fassung), dass Unternehmen, soweit sie bei der Prüfung durch die Prüfstelle mitwirken, dieser auf Verlangen Auskünfte zu erteilen und Unterlagen vorzulegen haben (für die [X.] galt § 107 Abs. 5 [X.] aF). Weiterhin hatte die Prüfstelle Tatsachen, die den Verdacht einer Straftat im Zusammenhang mit der Rechnungslegung eines Unternehmens begründeten, anzuzeigen (§ 342b Abs. 8 HGB aF).

cc) Selbst dann, wenn man - wie die Beschwerde auch geltend macht - davon ausginge, dass die Beklagte bereits beim Vorliegen "konkreter Anhaltspunkte" im Sinne des § 107 Abs. 1 Satz 1 [X.] aF für einen Verstoß gegen Rechnungslegungsvorschriften europarechtlich zu einer eigenen Prüfungstätigkeit verpflichtet gewesen sei, genügte dies nicht zur Begründung einer Amtspflichtverletzung der Beklagten im konkreten Fall. Die Beklagte war nämlich nach § 37o Abs. 3 [X.] aF (vom 21. Dezember 2004 bis 2. Januar 2018 geltende Fassung) beziehungsweise § 107 Abs. 4 [X.] aF ausdrücklich berechtigt, sich auch im Rahmen einer eigenen Prüfungsanordnung der Prüfstelle sowie anderer Einrichtungen und Personen zu bedienen. Eine Heranziehung Dritter durch die Beklagte zur Erfüllung ihrer aufsichtsrechtlichen Aufgaben war zudem in den [X.]n des § 4 Abs. 11 [X.] aF (§ 4 [X.] in der bis 2. Januar 2018 geltenden Fassung) beziehungsweise § 6 Abs. 17 [X.] aF (§ 6 [X.] in den vom 3. Januar 2018 bis 31. Dezember 2021 geltenden Fassungen) ausdrücklich vorgesehen, wobei deren Wortlaut ("auch Wirtschaftsprüfer oder Sachverständige") nicht abschließend war, sondern vielmehr zum Ausdruck brachte, dass die Heranziehung Dritter zur Aufgabenerfüllung eher den Regelfall darstellen sollte (vgl. [X.]/[X.]/Döhmel, [X.], 7. Aufl., § 6 Rn. 245). Einen Verstoß dieser Regelungen gegen europäisches Recht macht der Kläger nicht geltend; ein solcher ist auch nicht ersichtlich. Es ist daher auch unionsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn sich die Beklagte bei der Durchführung der Bilanzprüfung der Prüfstelle bedient hat. Dazu war sie von Gesetzes wegen ausdrücklich befugt.

2. Wird zugunsten des [X.] unterstellt, dass die [X.] des § 6 [X.] aF nicht durch die §§ 106 [X.] als leges speciales verdrängt wird und beim Verdacht auf eine (auch) bilanzgestützte Marktmanipulation anwendbar ist, ist ein amtspflichtwidriges Verhalten der Beklagten dennoch nicht feststellbar. Soweit sie in dem Zeitraum von April 2015 bis Juni 2020 tätig geworden ist und Maßnahmen ergriffen hat, war ihr Verhalten vertretbar und verhältnismäßig. Für den insbesondere interessierenden Zeitraum ab Februar 2019 gilt Folgendes:

a) Februar 2019 bis zum 24. April 2019

aa) In Artikeln vom 30. Januar sowie vom 1. und 7. Februar 2019 (Anlagen [X.], [X.], [X.]) äußerte die [X.] unter Bezugnahme auf interne Dokumente der [X.] und Untersuchungen der [X.] den Verdacht, dass in Kenntnis von Vorstandsmitgliedern der [X.] Umsätze von asiatischen Tochtergesellschaften durch [X.] (sog. Round-Tripping) vorgetäuscht und zu Unrecht bilanziert worden seien. In [X.] wurden daraufhin Räumlichkeiten der [X.] durchsucht. Ein am 28. März 2019 veröffentlichter Artikel der [X.] (Anlage [X.]) betraf das [X.]geschäft der [X.] und stellte in Frage, ob die von der [X.] ausgewiesenen Umsätze mit auf den [X.] ansässigen [X.]n überhaupt angefallen sind.

Die Beklagte eröffnete bereits am 1. Februar 2019 Untersuchungen wegen Marktmanipulationen sowohl durch Marktteilnehmer (Short-Attacke) als auch durch die [X.] (unrichtige Angaben in der Finanzberichterstattung, Unterlassen der Veröffentlichung der von der [X.] erhobenen Vorwürfe als Insiderinformationen). Sie richtete Amtshilfeersuchen unter anderem an die Aufsichtsbehörde in [X.] und forderte die [X.] am 8. Februar 2019 und 28. März 2019 auf, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. Am 15. Februar 2019 verlangte die Beklagte von der Prüfstelle die Prüfung des verkürzten Konzernabschlusses der [X.] einschließlich des Lageberichts zum 30. Juni 2018. Am 29. März 2019 ersuchte sie die [X.] um Vorlage des Abschlussberichts der [X.], der ihr am 29. Juli 2019 übermittelt wurde.

bb) Die Beklagte hat somit zum einen gegenüber der [X.] Ermittlungsmaßnahmen im Sinne des § 6 Abs. 3 [X.] aF ergriffen und zum anderen von der Prüfstelle die Prüfung des verkürzten Konzernabschlusses zum 30. Juni 2018 gemäß § 108 Abs. 2 i.V.m. § 107 Abs. 1 Satz 1 [X.] aF verlangt. Vor dem Hintergrund, dass die [X.] gerade wegen der erhobenen Vorwürfe die [X.] mit externen Untersuchungen beauftragt hatte, war es jedenfalls nicht ermessensfehlerhaft, dass die Beklagte zunächst versuchte, unter Beteiligung der [X.] zu ermitteln und den Sachverhalt aufzuklären. Das Absehen von einer Durchsuchungsmaßnahme nach § 6 Abs. 12 [X.] aF, um Dokumente und Daten sicherzustellen beziehungsweise zu beschlagnahmen, war in diesem (frühen) Verfahrensstadium zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit vertretbar. Hinzukommt, dass sich die Ermittlungen auf Auslandsachverhalte bezogen und es deshalb zweckmäßig war, dass die Beklagte die Aufklärung durch die zuständigen Behörden in [X.] zunächst abwartete, da dort bereits Durchsuchungsmaßnahmen stattgefunden hatten. Zudem war die Prüfung durch die Prüfstelle noch im Gang. Weiterhin ist zugunsten der Beklagten zu berücksichtigen, dass der am 24. April 2019 aufgestellte Konzernabschluss für das Geschäftsjahr 2018 mit einem uneingeschränkten Bestätigungsvermerk des Abschlussprüfers versehen war. Die Beklagte konnte bei ihrer Entscheidung über das weitere Vorgehen die Bemerkung der E.    & Y.     GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft zugrunde legen, dass "sich keine Einwendungen gegen die bilanzielle Behandlung von Sachverhalten auf Grundlage der Erkenntnisse aus Untersuchungen, die aufgrund von Beschuldigungen eines Hinweisgebers in [X.] durchgeführt wurden, ergeben haben" (Anlage K 5 S. 7).

b) 24. April 2019 bis Juni 2020

aa) Die [X.] warf der [X.] zunächst am 24. April 2019 (Anlage [X.]) und sodann mit zwei am 15. Oktober 2019 veröffentlichten Artikeln (Anlagen [X.] und [X.]) vor, ein Großteil der Zahlungsabwicklungen des mit Gesellschaften in [X.], [X.] und auf den [X.] geführten [X.]geschäfts, das zur Hälfte der weltweiten Erträge der [X.] im [X.] beigetragen habe, habe tatsächlich nicht stattgefunden. Erhebliche Umsätze und Gewinne würden in den Bilanzen nur vorgetäuscht.

Zutreffend ist, dass die Beklagte keine weitergehenden Ermittlungsmaßnahmen auf den Artikel der [X.] vom 24. April 2019 ergriff, sondern erst auf die am 15. Oktober 2019 veröffentlichten Artikel reagierte und die Prüfstelle anwies, auch diese von der [X.] erhobenen Vorwürfe bei der laufenden Prüfung zu berücksichtigen.

bb) Dass die Beklagte den Artikel vom 24. April 2019 nicht zum Anlass für sofortige weitere Ermittlungsmaßnahmen (z.B. Durchsuchung der Geschäftsräume der [X.]) nahm, war vor dem Hintergrund nicht pflichtwidrig, dass der Abschlussprüfer den Konzernabschluss der [X.] für das Geschäftsjahr 2018 am 25. April 2019 mit einem uneingeschränkten Bestätigungsvermerk versehen hatte und zu diesem Zeitpunkt die Auswertung der Untersuchungen der [X.] sowie die Prüfung durch die Prüfstelle noch andauerten. Dabei war auch zu berücksichtigen, dass sich der Artikel vom 24. April 2019 allein auf das [X.] bezog und zu den aktuelleren Umsätzen der [X.] keine Angaben enthielt.

Nachdem die [X.] durch die Artikel vom 15. Oktober 2019 unter anderem unter Bezugnahme auf interne Dokumente der [X.] ihre Vorwürfe konkretisiert hatte, informierte die Beklagte - neben der Anweisung an die Prüfstelle - gemäß § 11 Satz 1 [X.] die Staatsanwaltschaft [X.] und bekam von dort die Mitteilung, der Sachverhalt werde geprüft. Damit hatte die Beklagte aber bei ihrem weiteren Vorgehen zu beachten, bei ihren Ermittlungen nicht den Untersuchungszweck von Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden zu gefährden (vgl. § 11 Satz 4 [X.]). Zudem war seit dem 21. Oktober 2019 durch eine entsprechende Pressemitteilung der [X.] bekannt, dass die [X.] Wirtschaftsprüfungsgesellschaft im Auftrag der [X.] eine unabhängige Sonderuntersuchung der von der [X.] erhobenen Vorwürfe durchführen sollte. Die Entscheidung der Beklagten, diese in dem Zeitraum vom 31. Oktober 2019 bis zum 24. April 2020 unter anderem durch Befragungen von Geschäftspartnern der [X.] in deren Räumen in [X.] und auf den [X.] sowie durch Einsichtnahme von Unterlagen in den Räumen des Abschlussprüfers durchgeführte Sonderuntersuchung (siehe Anlage [X.]) abzuwarten, war nicht unvertretbar. Zum einen hatte [X.]    weitergehende Möglichkeiten, die Sachverhalte - wie geschehen - auch im Ausland aufzuklären. Zum anderen hatte [X.]    Zugriff auf Unterlagen des Abschlussprüfers, den die Beklagte wegen dessen Verschwiegenheitspflicht nach § 6 Abs. 3 Satz 3 [X.] aF i.V.m. § 323 Abs. 1 Satz 1 HGB in dem Maße nicht gehabt hätte.

c) Nach alledem eröffnete die Beklagte unzweifelhaft Untersuchungen gegen die [X.] auch im Hinblick auf eine mögliche informationsgestützte Marktmanipulation durch unrichtige Angaben in der Finanzberichterstattung und ging den in den Artikeln der [X.] geäußerten Vorwürfen nach. Sie ergriff - wie ausgeführt - Ermittlungsmaßnahmen, zu denen sie nach der [X.] des § 4 [X.] aF beziehungsweise § 6 [X.] aF befugt war, um die in Rede stehenden Sachverhalte aufzuklären. Dass die Beklagte daneben von der Prüfstelle verlangte, den verkürzten Konzernabschluss und den Lagebericht zum 30. Juni 2018 zu prüfen, ist für den mit der Klage erhobenen Vorwurf, Ermittlungen im Rahmen der [X.] unterlassen zu haben, nicht relevant und war jedenfalls auch auf der Grundlage von § 4 Abs. 11 [X.] aF beziehungsweise § 6 Abs. 17 [X.] aF und § 37o Abs. 3 [X.] aF beziehungsweise § 107 Abs. 4 [X.] aF möglich.

3. Aus den vorstehenden Gründen ist auch die von der Beschwerde als rechtsgrundsätzlich bezeichnete und ihrer Ansicht nach zu einer Vorlage gemäß Art. 267 Abs. 1, 3 A[X.]V zwingende Frage, ob § 4 Abs. 4 [X.] im Hinblick auf unionsrechtliche Vorgaben der Marktmissbrauchsverordnung, insbesondere aus deren Art. 22, 23 Abs. 3 [X.]. 1, unanwendbar sei, nicht entscheidungserheblich.

Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 544 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO abgesehen.

[X.]     

      

Reiter     

      

Kessen

      

Herr     

      

Liepin     

      

Meta

III ZR 57/23

10.01.2024

Bundesgerichtshof 3. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZR

vorgehend OLG Frankfurt, 30. März 2023, Az: 1 U 183/22

§ 839 Abs 1 S 1 BGB, § 106 WpHG vom 12.08.2020, §§ 106ff WpHG vom 12.08.2020, § 107 Abs 1 S 1 WpHG vom 12.08.2020, § 108 Abs 1 S 2 Nr 2 WpHG vom 23.06.2017, Art 34 GG, Art 24 Abs 1 UAbs 1 EGRL 109/2004, Art 24 Abs 4 S 2 Buchst h EGRL 109/2004, Art 22 EUV 596/2014, Art 23 Abs 2 EUV 596/2014, Art 23 Abs 3 UAbs 1 EUV 596/2014

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 10.01.2024, Az. III ZR 57/23 (REWIS RS 2024, 93)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2024, 93

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