Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 23.05.2013, Az. 2 AZR 102/12

2. Senat | REWIS RS 2013, 5565

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Gegenstand

Außerordentliche Verdachtskündigung - Nachschieben von Kündigungsgründen - Anhörung des Arbeitnehmers


Tenor

Die Revision des [X.] gegen das Urteil des [X.] vom 31. August 2011 - 3 Sa 29/11 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Verdachtskündigung.

2

Die Beklagte betreibt Tankstellen. Der Kläger war bei ihr seit Juli 2003 als Bezirksleiter für den Vertrieb im Außendienst beschäftigt.

3

Im August 2010 entstand bei der [X.] der Verdacht, der Kläger könne an betrügerischen Auftragsvergaben zu ihren Lasten beteiligt gewesen sein. Am 20. August und 30. September 2010 hörte sie den Kläger zu den aus ihrer Sicht verdachtsbegründenden Umständen an. Er bestritt die Vorwürfe.

4

Mit Schreiben vom 5. Oktober 2010 sprach die Beklagte eine fristlose, hilfsweise ordentliche Verdachtskündigung aus. Gegen sie erhob der Kläger fristgerecht die vorliegende Klage. Am 14. Januar 2011 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis erneut fristlos. Auch dagegen erhob der Kläger - in einem eigenständigen Verfahren - Klage.

5

Am 28. Juli 2011 stellte ein Mitarbeiter der [X.] weitere Unregelmäßigkeiten fest. Im November 2009 hatte eine Baugesellschaft der [X.] für ein Bauvorhaben an einer Tankstelle 8.929,52 Euro in Rechnung gestellt. Darin waren ua. die Lieferung und das Verlegen von Terrassenplatten (terracotta, 40 x 40 für 80,64 m²) mit 2.056,32 Euro ausgewiesen. Aus den beigefügten Bautagesberichten, Gesprächsnotizen, Lieferangeboten, Aufträgen, Aufmaßskizzen und Lieferscheinen für das Bauvorhaben war ersichtlich, dass entsprechende Leistungen nicht auf einem Tankstellengelände der [X.], sondern auf dem Wohngrundstück des [X.] ausgeführt worden waren. Mit Schriftsatz vom 22. August 2011 hat die Beklagte diese tatsächlichen Erkenntnisse ohne erneute Anhörung des [X.] in den vorliegenden Rechtsstreit eingeführt.

6

Der Kläger hat bestritten, dass er auf Kosten der [X.] Terrassenplatten in seiner Grundstücksauffahrt habe verlegen lassen. Die abgerechneten Leistungen der Baugesellschaft ständen in keiner Verbindung zu seiner Wohnanschrift. Dies ergebe sich aus den Mengenangaben und dem Gesamtarbeitsaufwand. Im Übrigen hat der Kläger gemeint, weil sie ihn dazu zuvor nicht angehört habe, vermöge die Beklagte die Kündigung auf diesen Vorwurf ohnehin nicht zu stützen.

7

Der Kläger hat im vorliegenden Verfahren beantragt

festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der [X.] vom 5. Oktober 2010 nicht beendet worden ist, sondern zu unveränderten Bedingungen fortbesteht.

8

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgebracht, der Kläger habe sich betrügerisch zu ihren Lasten bereichert. Er habe auf seinem Privatgrundstück Baumaßnahmen ausführen lassen, die als Umbau einer Tankstelle deklariert worden seien. Den auf diesen tatsächlichen Umständen beruhenden Kündigungsgrund habe sie nachträglich in den Rechtsstreit einführen können, ohne dass sie den Kläger zuvor habe anhören müssen.

9

Das Arbeitsgericht hat der vorliegenden Klage mit Urteil vom 13. Januar 2011, der Klage gegen die Kündigung vom 14. Januar 2011 mit Urteil vom 17. März 2011 stattgegeben. Das [X.] hat über die Berufungen der [X.] in getrennten Verfahren am selben Tag verhandelt. Nach Verhandlung und Durchführung einer Beweisaufnahme im vorliegenden Verfahren hat es beschlossen, eine Entscheidung am Ende der Sitzung zu verkünden. In der sich anschließenden Verhandlung im Verfahren über die Kündigung vom 14. Januar 2011 hat es darauf hingewiesen, dass es sich bei dieser um eine unzulässige Wiederholungskündigung handeln dürfte. Die Beklagte hat daraufhin die Berufung gegen das Urteil des Arbeitsgerichts vom 17. März 2011 zurückgenommen. Der Kläger hat der Rücknahme ausdrücklich zugestimmt.

Im vorliegenden Rechtsstreit hat das [X.] das erstinstanzliche Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit seiner Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung der arbeitsgerichtlichen Entscheidung. Er bringt vor, der Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch die Kündigung vom 5. Oktober 2010 stehe schon die durch die Berufungsrücknahme eingetretene Rechtskraft der Entscheidung vom 17. März 2011 entgegen. Diese enthalte mittelbar die Feststellung, dass bei Zugang der Kündigung vom 14. Januar 2011 ein Arbeitsverhältnis mit der [X.] noch bestanden habe.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Die Kündigung der [X.] vom 5. Oktober 2010 hat das Arbeitsverhältnis der Parteien beendet. Das [X.] war trotz der Rechtskraft des arbeitsgerichtlichen Urteils vom 17. März 2011 nicht gehindert, die Wirksamkeit der Kündigung vom 5. Oktober 2010 zu überprüfen ([X.]). Seine Annahme, die nachgeschobenen Kündigungsgründe trügen diese Kündigung, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden (I[X.]).

[X.] Die Rechtskraft der Entscheidung des Arbeitsgerichts vom 17. März 2011, derzufolge die Kündigung vom 14. Januar 2011 das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht beendet hat, steht der Annahme nicht entgegen, das Arbeitsverhältnis sei schon durch die Kündigung vom 5. Oktober 2010 beendet worden.

1. Der Umfang der Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung im Kündigungsschutzprozess bestimmt sich nach dem Streitgegenstand. Streitgegenstand einer Kündigungsschutzklage mit einem Antrag nach § 4 Satz 1 KSchG ist, ob das Arbeitsverhältnis der Parteien aus Anlass einer bestimmten Kündigung zu dem in ihr vorgesehenen Termin aufgelöst worden ist. Die begehrte Feststellung erfordert nach dem Wortlaut der gesetzlichen Bestimmung eine Entscheidung über das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses zum Zeitpunkt der Kündigung. Mit der Rechtskraft des der Klage stattgebenden Urteils steht deshalb regelmäßig zugleich fest, dass jedenfalls im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung zwischen den streitenden Parteien ein Arbeitsverhältnis bestanden hat, das nicht schon zuvor durch andere Ereignisse aufgelöst worden ist ([X.] 22. November 2012 - 2 [X.] - Rn. 19; 5. Oktober 1995 - 2 [X.] 909/94 - zu II 1 der Gründe, [X.]E 81, 111). Die Rechtskraft schließt gemäß § 322 ZPO im Verhältnis der Parteien zueinander eine hiervon abweichende gerichtliche Feststellung in einem späteren Verfahren aus ([X.] 22. November 2012 - 2 [X.]- Rn. 19; 27. Januar 2011 - 2 [X.] 826/09 - Rn. 13).

2. Zu berücksichtigen ist aber, dass der Gegenstand der Kündigungsschutzklage und damit der Umfang der Rechtskraft eines ihr stattgebenden Urteils auf die Auflösung des Arbeitsverhältnisses durch die konkret angegriffene Kündigung beschränkt, dh. das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses im Zeitpunkt des Wirksamwerdens oder Zugangs der Kündigung einer Entscheidung entzogen werden kann ([X.] 22. November 2012 - 2 [X.] - Rn. 20; 26. März 2009 - 2 [X.] 633/07 - Rn. 16, [X.]E 130, 166). Eine solche Einschränkung des Streitgegenstands und Umfangs der Rechtskraft bedarf deutlicher Anhaltspunkte, die sich aus dem Antrag und der Entscheidung selbst ergeben müssen. Dabei ist nicht ausgeschlossen, für die Bestimmung des Streitgegenstands und des Umfangs der Rechtskraft Umstände heranzuziehen, die schon mit der Entscheidungsfindung zusammenhängen. So kann für die „Ausklammerung“ der Rechtsfolgen einer eigenständigen, zeitlich früher wirkenden Kündigung aus dem Gegenstand der Klage gegen eine später wirkende Kündigung der Umstand sprechen, dass dieselbe Kammer des (Landes-)Arbeitsgerichts am selben Tag über beide Kündigungen entscheidet. In einem solchen Fall wollen regelmäßig weder der Kläger noch das Gericht das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses bei Zugang der späteren Kündigung zum Gegenstand des über deren Wirksamkeit geführten Rechtsstreits machen (vgl. [X.] 20. Mai 1999 - 2 [X.] 278/98 - zu I der Gründe).

3. Im Streitfall kann dahinstehen, wie weit die Rechtskraft des arbeitsgerichtlichen Urteils vom 17. März 2011 reicht. Die Parteien haben mit der Zurücknahme der Berufung durch die Beklagte und der Annahme dieser Erklärung durch den Kläger nicht nur ihren Rechtsstreit mit der Folge beendet, dass die Unwirksamkeit der Kündigung vom 14. Januar 2011 feststeht. Ihre [X.] haben vielmehr zugleich einen materiellrechtlichen Inhalt. Der Kläger soll aus der rechtskräftig gewordenen Entscheidung über die Kündigung vom 14. Januar 2011 keine Rechte herleiten können, die einer inhaltlich eigenständigen Entscheidung des [X.]s über die Kündigung vom 5. Oktober 2010 entgegenstünden. Das ergibt die Auslegung der beiderseitigen Erklärungen (§§ 133, 157 BGB).

a) Die Wirkungen der materiellen Rechtskraft unterliegen zwar nicht der Disposition der Parteien (vgl. [X.] 28. Januar 1987 - [X.] - zu 2 a der Gründe; [X.]/[X.]/[X.] Zivilprozessrecht 17. Aufl. § 152 Rn. 17; [X.] ZPO 22. Aufl. § 322 Rn. 212; MünchKommZPO/[X.] 3. Aufl. § 322 Rn. 58). Die Parteien können diese Wirkungen aber durch Vereinbarungen beeinflussen. Bei solchen Abreden handelt es sich nicht um unzulässige „Eingriffe“ in die Rechtskraft, sondern um zulässige, ggf. nachträgliche Regelungen ihrer materiellen Folgen, die der Verfügung der Parteien unterliegen (vgl. [X.]/[X.]/[X.] aaO Rn. 18; [X.]/Vollkommer ZPO 29. Aufl. § 325 Rn. 43a).

b) Die Beklagte hat mit ihrer Berufungsrücknahme zum Ausdruck gebracht, sie sei bereit, die Unwirksamkeit der zweiten Kündigung hinzunehmen. Sie hat damit aus Sicht eines objektiven Empfängers - für den Kläger ohne Weiteres erkennbar - nicht zugleich erklärt, sie wolle auch den ungekündigten Bestand des Arbeitsverhältnisses bis zum Zugang der Kündigung vom 14. Januar 2011 anerkennen. Damit hätte sie dem nach wie vor anhängigen Rechtsstreit über die Kündigung vom 5. Oktober 2010 die Grundlage entzogen. Dies war ersichtlich nicht gewollt. Beide Parteien erwarteten insoweit vielmehr eine Sachentscheidung des [X.]s. In den [X.] der Parteien liegt danach die materiellrechtliche Abrede, den Fortbestand ihres Arbeitsverhältnisses allein von der Entscheidung über die Wirksamkeit der Kündigung vom 5. Oktober 2010 abhängig machen zu wollen. Der Kläger kann sich bereits aus diesem Grund nicht darauf berufen, es stehe rechtskräftig fest, dass das Arbeitsverhältnis noch im Januar 2011 bestanden habe.

I[X.] Das [X.] hat die außerordentliche Kündigung vom 5. Oktober 2010 zu Recht als wirksam angesehen.

1. Nach § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund außerordentlich gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann.

a) Auch der Verdacht einer schwerwiegenden Pflichtverletzung kann einen wichtigen Grund bilden. Ein solcher Verdacht stellt gegenüber dem Vorwurf, der Arbeitnehmer habe die Tat begangen, einen eigenständigen Kündigungsgrund dar. Eine Verdachtskündigung kann gerechtfertigt sein, wenn sich starke Verdachtsmomente auf objektive Tatsachen gründen, die Verdachtsmomente geeignet sind, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zu zerstören, und der Arbeitgeber alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen, insbesondere dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat (st. Rspr. [X.] 25. Oktober 2012 - 2 [X.] 700/11 - Rn. 13; 24. Mai 2012 - 2 [X.] 206/11 - Rn. 16).

b) Der Verdacht muss auf konkrete - vom Kündigenden darzulegende und ggf. zu beweisende - Tatsachen gestützt sein. Er muss ferner dringend sein. Es muss eine große Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass er zutrifft. Die Umstände, die ihn begründen, dürfen nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht ebenso gut durch ein Geschehen zu erklären sein, das eine außerordentliche Kündigung nicht zu rechtfertigen vermöchte. Bloße, auf mehr oder weniger haltbare Vermutungen gestützte Verdächtigungen reichen dementsprechend zur Rechtfertigung eines dringenden Tatverdachts nicht aus ([X.] 25. Oktober 2012 - 2 [X.] 700/11 - Rn. 14; 24. Mai 2012 - 2 [X.] 206/11 - Rn. 17).

2. Die Würdigung des [X.]s, der Kläger sei unter Berücksichtigung des im zweitinstanzlichen Verfahren „nachgeschobenen“ Kündigungsgrundes einer schwerwiegenden Pflichtverletzung dringend verdächtig, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

a) Das [X.] hat angenommen, die erstinstanzlich gegen den Kläger erhobenen Vorwürfe trügen die Kündigung vom 5. Oktober 2010 nicht. Es bestehe aber der - die Kündigung rechtfertigende - dringende Verdacht, der Kläger habe auf Kosten der [X.] Terrassenplatten an seine Privatanschrift liefern und dort verlegen lassen.

b) Das [X.] durfte die entsprechenden, von der [X.] in zweiter Instanz in das Verfahren eingeführten Indiztatsachen seiner Würdigung zugrunde legen.

aa) In einem Rechtsstreit über die Wirksamkeit einer Verdachtskündigung sind nicht nur die dem Arbeitgeber bei [X.] bekannten tatsächlichen Umstände von Bedeutung. So sind auch solche später bekannt gewordenen Umstände zu berücksichtigen - zumindest wenn sie bei [X.] objektiv bereits vorlagen -, die den ursprünglichen Verdacht abschwächen oder verstärken ([X.] 24. Mai 2012 - 2 [X.] 206/11 - Rn. 41). Daneben können selbst solche Tatsachen in den Prozess eingeführt werden, die den Verdacht eines eigenständigen - neuen - [X.] begründen. Voraussetzung ist, dass der neue Kündigungsgrund bei Ausspruch der Kündigung objektiv schon gegeben, dem Arbeitgeber nur noch nicht bekannt war (vgl. [X.] 6. September 2007 - 2 [X.] 264/06 - Rn. 21; 4. Juni 1997 - 2 [X.] 362/96 - zu II 3 a der Gründe, [X.]E 86, 88).

bb) Danach durfte das [X.] auf die von der [X.] nachgetragenen, den Verdacht auf einen eigenständigen Vertragsverstoß begründenden Tatsachen abstellen.

(1) Die Verlegung der Terrassenplatten auf dem Grundstück des [X.] war der [X.] im Zeitpunkt der Kündigung bereits in Rechnung gestellt und von ihr beglichen worden. Dies wurde ihr jedoch erst im Juli 2011 bekannt.

(2) Es bedurfte für die Beachtlichkeit des Vorbringens keiner neuerlichen Anhörung des [X.].

(a) Führt der Arbeitgeber lediglich verdachtserhärtende neue Tatsachen in den Rechtsstreit ein, bedarf es dazu schon deshalb keiner vorherigen Anhörung des Arbeitnehmers, weil dieser zu dem Kündigungsvorwurf als solchem bereits gehört worden ist. Er kann sich gegen den verstärkten Tatverdacht ohne Weiteres im bereits anhängigen Kündigungsschutzprozess verteidigen (vgl. [X.] 29. November 2007 - 2 [X.] 1067/06 - Rn. 34).

(b) Führt der Arbeitgeber neue Tatsachen in das Verfahren ein, die den Verdacht einer weiteren Pflichtverletzung begründen, bedarf es der - erneuten - Anhörung des Arbeitnehmers ebenfalls nicht (noch offengelassen in [X.] 13. September 1995 - 2 [X.] 587/94 - zu II 5 der Gründe, [X.]E 81, 27; wie hier: [X.]/Fischermeier 10. Aufl. § 626 BGB Rn. 216; [X.] Anm. [X.] BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 25; Moll/[X.] [X.] Arbeitsrecht 3. Aufl. § 44 Rn. 110; [X.] [X.] 2011, 6; wohl auch [X.] [X.]). Das ergibt sich aus Sinn und Zweck des Anhörungserfordernisses.

(aa) Die Notwendigkeit der Anhörung des Arbeitnehmers vor Ausspruch einer Verdachtskündigung ist Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Sie gründet in der Verpflichtung des Arbeitgebers, sich um eine Aufklärung des Sachverhalts zu bemühen. Sie soll den Arbeitgeber vor voreiligen Entscheidungen bewahren und der Gefahr begegnen, dass ein Unschuldiger von der Kündigung betroffen wird (vgl. [X.] 24. Mai 2012 - 2 [X.] 206/11 - Rn. 32; 23. Juni 2009 - 2 [X.] 474/07 - Rn. 51, [X.]E 131, 155). Ist aber - wie beim „Nachschieben“ von [X.] - die Kündigung dem Arbeitnehmer bereits zugegangen, kann dessen Stellungnahme sie in keinem Fall mehr verhindern. Die vorherige Anhörung des Arbeitnehmers ist damit auch mit Blick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht unverzichtbar. Die Rechte des Arbeitnehmers werden gleichermaßen dadurch gewahrt, dass er sich im anhängigen Kündigungsschutzprozess gegen den neuen Tatverdacht verteidigen kann ([X.]/Fischermeier 10. Aufl. § 626 BGB Rn. 216).

(bb) Dieses Ergebnis steht nicht im Widerspruch zu dem Erfordernis, den Betriebsrat analog § 102 Abs. 1 BetrVG zu den erweiterten [X.] anzuhören ([X.] 4. Juni 1997 - 2 [X.] 362/96 - zu II 4 der Gründe, [X.]E 86, 88; 11. April 1985 - 2 [X.] 239/84 - zu [X.] der Gründe, [X.]E 49, 39). Die Anhörung des Betriebsrats dient - anders als die Anhörung des Arbeitnehmers - nicht (nur) der Aufklärung des Sachverhalts. Sie soll dem Betriebsrat vielmehr Gelegenheit geben, auf den auf einem bestimmten Sachverhalt beruhenden Kündigungsentschluss des Arbeitgebers aktiv einzuwirken (vgl. [X.] 11. April 1985 - 2 [X.] 239/84 - aaO). Das lässt sich bezogen auf nachgeschobene Gründe nur erreichen, wenn diese dem - anders als der Arbeitnehmer am Rechtsstreit nicht beteiligten - Betriebsrat vor ihrer Einführung in den laufenden Prozess zur Kenntnis gebracht werden. Zwar kann auch der Betriebsrat die schon erfolgte Kündigung als solche nicht mehr verhindern. Er kann aber nur so seine - den Arbeitnehmer uU entlastende - Sicht der Dinge zu Gehör bringen.

(3) § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB steht der Berücksichtigung nachgeschobener Tatsachen nicht entgegen. Neu bekannt gewordene, bei [X.] objektiv aber bereits gegebene Gründe können noch nach Ablauf der [X.] in den Prozess eingeführt werden. Diese Frist gilt nach dem Wortlaut der Bestimmung allein für die Ausübung des Kündigungsrechts. Ist die Kündigung als solche rechtzeitig erklärt, schließt § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB ein Nachschieben nachträglich bekannt gewordener Gründe nicht aus ([X.] 4. Juni 1997 - 2 [X.] 362/96 - zu II 3 b der Gründe, [X.]E 86, 88).

c) Die Würdigung des [X.] durch das Berufungsgericht ist, soweit sie auf tatsächlichem Gebiet liegt, vom [X.] nur daraufhin zu überprüfen, ob sie in sich widerspruchsfrei ist und nicht gegen Denkgesetze, Erfahrungssätze oder andere Rechtssätze verstößt (vgl. [X.] 24. Mai 2012 - 2 [X.] 206/11 - Rn. 29; 27. Januar 2011 - 8 [X.] 580/09 - Rn. 30). Einen Rechtsfehler des [X.]s dieser Art hat der Kläger nicht aufgezeigt. Das [X.] hat aus dem Umstand, dass hinsichtlich der von der Baugesellschaft gelieferten Materialien der Lieferort, die Flächen, die Art der Pflasterung und Bauskizzen mit der Auffahrt des [X.] übereinstimmten, widerspruchsfrei gefolgert, es bestehe der dringende Verdacht, der Kläger habe sich auf Kosten der [X.] rechtswidrig bereichert. Es hat nachvollziehbar angenommen, jedenfalls ein Teil der den [X.] zu entnehmenden Arbeitsstunden habe sich auf das Bauprojekt auf dem Grundstück des [X.] bezogen. Der Kläger ist den tatsächlichen Grundlagen dieses Verdachts nicht substanziiert entgegengetreten. Seinem Vortrag lässt sich auch nicht etwa entnehmen, er habe die auf seinem Grundstück ausgeführten Arbeiten selbst bezahlt.

d) Die Interessenabwägung des [X.]s ist frei von [X.]. Es hat alle vernünftigerweise in Betracht zu ziehenden Umstände des Einzelfalls berücksichtigt und vertretbar gegeneinander abgewogen.

II[X.] [X.] hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO der Kläger zu tragen.

        

    Kreft    

        

    Berger    

        

    Rinck    

        

        

        

    Beckerle    

        

    [X.]    

                 

Meta

2 AZR 102/12

23.05.2013

Bundesarbeitsgericht 2. Senat

Urteil

Sachgebiet: AZR

vorgehend ArbG Elmshorn, 13. Januar 2011, Az: 3 Ca 1526 d/10, Urteil

§ 626 Abs 2 S 1 BGB

Zitier­vorschlag: Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 23.05.2013, Az. 2 AZR 102/12 (REWIS RS 2013, 5565)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 5565

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