Bundesfinanzhof, Beschluss vom 22.11.2019, Az. II S 11-13/19 und II S 15-20/19, II S 11/19, II S 12/19, II S 13/19, II S 15/19, II S 16/19, II S 17/19, II S 18/19, II S 19/19, II S 20/19

2. Senat | REWIS RS 2019, 1248

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Gegenstand

Anhörungsrüge und Gegenvorstellung


Leitsatz

1. NV: Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist erst dann verletzt, wenn das Gericht den Hinweis auf einen entscheidungserheblichen rechtlichen Gesichtspunkt unterlässt, mit dem auch ein gewissenhafter und rechtskundiger Prozessbeteiligter nicht zu rechnen braucht .

2. NV: Mit Rügen gegen die inhaltliche Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung kann der Rügeführer, ohne eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend zu machen, im Verfahren der Anhörungsrüge nicht gehört werden .

3. NV: Eine Gegenvorstellung ist allenfalls zulässig, wenn substantiiert dargelegt wird, die angegriffene Entscheidung beruhe auf schwerwiegenden Grundrechtsverstößen oder erscheine unter keinem denkbaren Gesichtspunkt vertretbar und entbehre jeder gesetzlichen Grundlage .

Tenor

Die Verfahren [X.]-13/19 und [X.]-20/19 werden zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.

Die Anhörungsrügen der Klägerin gegen die Beschlüsse des [X.] vom [X.] - [X.]-5/19 und [X.]-12/19 werden als unbegründet zurückgewiesen.

Die Gegenvorstellungen der Klägerin gegen die Beschlüsse des [X.] vom [X.] - [X.]-5/19 und [X.]-12/19 werden als unzulässig verworfen.

Die Kosten des Verfahrens hinsichtlich der Anhörungsrügen hat die Klägerin zu tragen.

Tatbestand

I.

1

Mit Beschlüssen vom [X.] - II B 3-5/19 und II B 7-12/19 verwarf der [X.] ([X.]) die Beschwerden der Klägerin, Beschwerdeführerin und Rügeführerin (Klägerin) gegen die Urteile des [X.] vom 22.11.2018 - 4 K 793/17, 4 K 2652/17, 4 K 2811/17, 4 K 2975/17, 4 K 129/18, 4 K 212/18, 4 K 538/18, 4 K 629/18 und 4 K 823/18 mangels ordnungsgemäßer Vertretung als unzulässig. Gegen diese Beschlüsse erhob die Klägerin durch ihre Bevollmächtigte mit Schriftsatz vom 02.07.2019 Anhörungsrügen und Gegenvorstellungen. Sie macht geltend, der [X.] habe ihren Vortrag, sie sei ordnungsgemäß vertreten und die Befugnis zur Vertretung ergebe sich direkt aus Art. 56 des Vertrags über die Arbeitsweise der [X.] ([X.]), nicht beachtet. Außerdem habe es der [X.] unterlassen, in diesen entscheidenden Rechtsfragen einen richterlichen Hinweis nach § 76 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zu erteilen. Die Beschlüsse enthielten schwere formelle und materielle Mängel.

Entscheidungsgründe

II.

2

1. Die Anhörungsrügen führen nicht zum Erfolg.

3

a) Der Zulässigkeit der Anhörungsrügen steht nicht entgegen, dass die Klägerin bei Einlegung nicht ordnungsgemäß vertreten war i.S. des § 62 Abs. 4 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 FGO. Zwar gilt der nach § 62 Abs. 4 FGO vor dem [X.] bestehende [X.] grundsätzlich auch für Anhörungsrügen, wenn für das der beanstandeten Entscheidung zugrunde liegende Verfahren --im Streitfall die Beschwerden wegen Nichtzulassung der Revision ([X.])-- [X.] galt (dies bejahend z.B. [X.]-Beschluss vom 16.08.2016 - II S 16/16, [X.]/NV 2016, 1746, Rz 3). Die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs bezieht sich jedoch gerade auf die Frage, ob eine ordnungsgemäße Vertretung bestand. Zur Vermeidung einer Rechtsschutzverkürzung ist nur zur Prüfung dieser Frage vorläufig von einer Befugnis der Klägerin auszugehen, sich selbst zu vertreten (vgl. [X.]-Beschlüsse vom 11.03.2015 - IX S 6/15, [X.]/NV 2015, 850, Rz 1, und vom 25.07.2016 - X S 10/16, [X.]/NV 2016, 1739, Rz 4, jeweils zur Prüfung der Frage, ob eine Ausnahme vom [X.] besteht).

4

b) Die Anhörungsrügen sind jedoch unbegründet.

5

aa) Der Anspruch auf rechtliches Gehör i.S. von Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) und § 96 Abs. 2 FGO verpflichtet das Gericht u.a., die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen, in Erwägung zu ziehen und sich mit [X.] des Vorbringens auseinanderzusetzen. Dabei ist das Gericht naturgemäß nicht verpflichtet, der Rechtsansicht eines Beteiligten zu folgen (vgl. Beschluss des [X.] vom 11.06.2008 - 2 BvR 2062/07, [X.], 1056). Art. 103 Abs. 1 GG und § 96 Abs. 2 FGO sind erst dann verletzt, wenn sich aus den besonderen Umständen des Einzelfalls ergibt, dass das Gericht Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung gezogen hat ([X.]-Beschluss vom 28.08.2019 - IX S 18/19, Rz 2).

6

bb) Aus der Begründung der Anhörungsrügen ergeben sich jedenfalls keine Anhaltspunkte dafür, dass der [X.] entscheidungserhebliches Vorbringen der Klägerin nicht zur Kenntnis genommen oder in Erwägung gezogen hat.

7

(1) Das Vorbringen der Klägerin in den [X.], sie sei ordnungsgemäß vertreten und die ordnungsgemäße Vertretung ergebe sich aus den Regelungen des europäischen Rechts, insbesondere den Bestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr (Art. 56 AEUV) und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der [X.] ([X.]), hat der [X.] in seinem Beschluss vom [X.] - II B 3-5/19, II B 7-9/19 und II B 11-12/19 unter 1. und 2., und in seinem Beschluss vom [X.] - II B 10/19 unter 2. und 3. behandelt.

8

(2) Der [X.] musste der Klägerin vor seiner Entscheidung über die [X.] auch keinen richterlichen Hinweis nach § 76 FGO erteilen, dass die in den Beschlüssen angeführten Rechtsgrundsätze für seine Entscheidung erheblich seien. Der [X.] hat diese Rechtsgrundsätze bereits in vorangegangenen Entscheidungen entsprechend angewandt (vgl. z.B. [X.]-Beschluss vom 08.08.2017 - V B 12/17, [X.]/NV 2017, 1464). Diese Rechtsprechung musste die Klägerin kennen.

9

Der Anspruch auf rechtliches Gehör wäre erst dann verletzt, wenn das Gericht den Hinweis auf einen entscheidungserheblichen rechtlichen Gesichtspunkt unterlässt, mit dem auch ein gewissenhafter und rechtskundiger [X.] nicht zu rechnen braucht (vgl. z.B. [X.] vom 14.07.1998 - 1 BvR 1640/97, [X.] 98, 218; vgl. [X.]-Beschluss vom 16.04.2015 - XI S 7/15, [X.]/NV 2015, 1096, Rz 11).

cc) Im Übrigen wendet sich die Klägerin mit ihrem Vorbringen, eine Vertretungsbefugnis könne direkt auf Art. 56 AEUV gestützt werden, der [X.] Gesetzgeber hätte die nationalen Regelungen u.a. des § 62 FGO und § 3a des [X.] anpassen müssen und der [X.] hätte die Verfahren aussetzen und dem [X.] zur Vorabentscheidung vorlegen müssen, gegen die inhaltliche Richtigkeit der angegriffenen Beschlüsse. Damit kann sie im Verfahren der Anhörungsrüge nicht gehört werden. Eine Anhörungsrüge dient nicht dazu, die angegriffene Entscheidung nochmals einer vollen inhaltlichen Überprüfung zuzuführen. Ebenso wenig kann mit der Anhörungsrüge eine Begründungsergänzung der zugrundeliegenden Entscheidung herbeigeführt werden (vgl. [X.]-Beschluss in [X.]/NV 2015, 1096, Rz 13).

c) Von einer weiteren Begründung der Entscheidung über die Anhörungsrügen sieht der [X.] ab (§ 133a Abs. 4 Satz 4 FGO).

2. Die zeitgleich von der Klägerin erhobenen Gegenvorstellungen sind nicht statthaft.

a) Der [X.] kann offenlassen, ob Gegenvorstellungen ausnahmsweise nicht dem [X.] nach § 62 Abs. 4 FGO unterliegen, wenn zwar das eingelegte Rechtsmittel, über das der [X.] entschieden hat --im Streitfall die [X.]-- ihrerseits dem [X.] unterlagen und daher auch für die Gegenvorstellungen [X.] bestünde (vgl. [X.]-Beschluss vom 24.04.2012 - IX E 4/12, [X.]/NV 2012, 1798, Rz 2), hiervon aber eine Ausnahme in Frage käme, weil die Klägerin sich mit den Gegenvorstellungen gerade dagegen wendet, dass der [X.] ihre [X.] wegen Nichtbeachtung des [X.]s als unzulässig verworfen hat (zur Zulässigkeit einer den [X.] nicht beachtenden Anhörungsrüge bei Einwendungen gegen den [X.] vgl. oben unter [X.]). Selbst wenn man davon ausgeht, dass eine Gegenvorstellung gegen abänderbare gerichtliche Entscheidungen --wie Beschlüsse, durch die [X.] als unzulässig verworfen wurden-- überhaupt statthaft sein kann (vgl. BVerfG-Beschluss vom 05.11.2013 - 1 BvR 2544/12, Neue Juristische Wochenschrift 2014, 681, unter II.3.; [X.]-Beschluss vom 07.04.2017 - IX S 3/17, [X.]/NV 2017, 1049, Rz 6), wäre sie allenfalls dann zulässig, wenn substantiiert dargelegt würde, die angegriffenen Entscheidungen beruhten auf schwerwiegenden Grundrechtsverstößen oder erschienen unter keinem denkbaren Gesichtspunkt vertretbar und entbehrten jeder gesetzlichen Grundlage (vgl. [X.]-Beschluss in [X.]/NV 2017, 1049, Rz 6).

b) Dem werden die Gegenvorstellungen der Klägerin nicht gerecht. Sie macht keine solchen qualifizierten Rechtsfehler substantiiert geltend. Sie behauptet lediglich, die angefochtenen Beschlüsse würden schwere formelle und materielle Mängel aufweisen, da sie gegen Art. 56 AEUV und die dazu ergangene Rechtsprechung des [X.] verstießen.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO. Für die Entscheidung über die Anhörungsrüge wird eine Gebühr in Höhe von 60 € erhoben (Nr. 6400 des [X.], Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes). Die Entscheidung über die Gegenvorstellung ergeht gerichtsgebührenfrei, da für das Verfahren betreffend einer Gegenvorstellung kein Gebührentatbestand vorgesehen ist (vgl. z.B. [X.]-Beschluss in [X.]/NV 2017, 1049, Rz 8).

Meta

II S 11-13/19 und II S 15-20/19, II S 11/19, II S 12/19, II S 13/19, II S 15/19, II S 16/19, II S 17/19, II S 18/19, II S 19/19, II S 20/19

22.11.2019

Bundesfinanzhof 2. Senat

Beschluss

vorgehend BFH, 8. Mai 2019, Az: II B 3-5/19, Beschluss

Art 56 AEUV, § 62 Abs 2 FGO, § 62 Abs 4 FGO, § 76 FGO, § 96 Abs 2 FGO, § 133a FGO, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 22.11.2019, Az. II S 11-13/19 und II S 15-20/19, II S 11/19, II S 12/19, II S 13/19, II S 15/19, II S 16/19, II S 17/19, II S 18/19, II S 19/19, II S 20/19 (REWIS RS 2019, 1248)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 1248

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