Bundessozialgericht, Urteil vom 05.12.2017, Az. B 12 P 2/16 R

12. Senat | REWIS RS 2017, 1280

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Versäumung der Revisionseinlegungsfrist - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - Rechtsanwaltsverschulden - Fristberechnung - Berechnung von Routinefristen durch Büropersonal - Revisionsverfahren keine Routineangelegenheit


Tenor

Die Revision des [X.] gegen das Urteil des [X.] vom 10. Dezember 2015 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Der Kläger wendet sich gegen die Erhebung des Beitragszuschlags für Kinderlose in der [X.] Pflegeversicherung.

2

Die beklagte Pflegekasse lehnte den Antrag des [X.] auf Erstattung gezahlter Beitragszuschläge für Kinderlose ab (Bescheid vom 7.2.2014; Widerspruchsbescheid vom 10.4.2014). Das [X.] hat der Klage teilweise stattgegeben (Urteil vom [X.]). Auf die Berufung der Beklagten hat das [X.] die Klage insgesamt abgewiesen (Urteil vom 10.12.2015). Das Berufungsurteil ist dem Kläger am 22.12.2015 zugestellt worden. Die Prozessbevollmächtigten des [X.] haben am 29.1.2016 per Telefax mit Schriftsatz vom selben Tag Revision eingelegt.

3

Der Kläger begehrt Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung der Revision und rügt in der Sache die Verletzung des § 55 Abs 3 [X.] SGB XI.

4

Der Kläger beantragt,
das Urteil des [X.] vom 10. Dezember 2015 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des [X.] vom 21. April 2015 zurückzuweisen.

5

Die Beklagte beantragt,
die Revision des [X.] zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

6

Die Revision ist als unzulässig zu verwerfen (§ 169 [X.] SGG), weil sie nicht fristgemäß eingelegt worden ist (dazu 1.) und ein Wiedereinsetzungsgrund nicht vorliegt (dazu 2.).

7

1. Die Revision ist bei dem [X.] innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich einzulegen (§ 164 Abs 1 [X.] SGG). Da das angegriffene Urteil des [X.] dem Kläger am 22.12.2015 gegen [X.] zugestellt worden ist, hätte die Revision bis zum 22.1.2016 bei dem [X.] eingehen müssen. Die [X.] ist aber erst am 29.1.2016 und damit verspätet eingegangen.

8

2. War jemand ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 67 Abs 1 [X.] SGG). Dabei sollen die Tatsachen zur Begründung des [X.] glaubhaft gemacht werden (§ 67 Abs 2 [X.] SGG). Das Verschulden eines Prozessbevollmächtigten steht dem des Beteiligten selbst gleich (§ 73 Abs 6 [X.] SGG iVm § 85 Abs 2 ZPO). Ohne Verschulden iS des § 67 Abs 1 SGG ist eine Frist nur versäumt, wenn der Beteiligte diejenige Sorgfalt angewendet hat, die einem gewissenhaft Prozessführenden nach den gesamten Umständen zuzumuten ist ([X.] Urteil vom 7.10.2004 - B 3 KR 14/04 R - [X.] 4-1750 § 175 [X.] Rd[X.]5; [X.] Beschluss vom [X.] - B 2 U 230/00 B - [X.] 3-1500 § 67 [X.]9, jeweils mwN). Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.

9

Der Kläger macht zur Begründung seines [X.] geltend, die mit der Bearbeitung des Posteingangs in der von ihm für das Revisionsverfahren mandatierten Rechtsanwaltssozietät betraute Rechtsanwaltsfachangestellte habe seine Sache mit einer vom [X.] ebenfalls am 10.12.2015 verhandelten und entschiedenen Parallelsache, für die bereits eine Revisionsfrist im anwaltlichen Fristenkalender notiert gewesen sei, verwechselt. Die betreffende Mitarbeiterin habe das Vorliegen von Parallelverfahren nicht erkannt und daher keine weitere Frist notiert. Da sich die bisher mit der Eintragung und Überwachung der Fristen betraute Mitarbeiterin als überaus sorgfältig erwiesen habe, hätten seine Prozessbevollmächtigten keine Veranlassung gehabt, die Eintragung im Fristenkalender infrage zu stellen. Mit diesem Vortrag ist ein Wiedereinsetzungsgrund nicht dargetan.

Zwar hat ein Rechtsanwalt grundsätzlich nicht für Versäumnisse seines [X.] einzustehen. An einem Verschulden des Prozessbevollmächtigten fehlt es daher, wenn er darlegen kann, dass ein Büroversehen vorliegt und er alle Vorkehrungen getroffen hat, die nach vernünftigem Ermessen die Nichtbeachtung von Fristen auszuschließen geeignet sind, und dass er durch regelmäßige Belehrung und Überwachung seiner Bürokräfte für die Einhaltung seiner Anordnungen Sorge getragen hat. Ein Rechtsanwalt darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass eine Büroangestellte, die sich bisher als zuverlässig erwiesen hat, eine konkrete Einzelanweisung befolgt und ist deshalb im Allgemeinen nicht verpflichtet, sich anschließend über die Ausführung zu vergewissern ([X.] Beschluss vom 1.11.2017 - [X.] A[X.]6/17 R - Juris RdNr 5 f mwN). Dem Kläger ist aber ein ihm zuzurechnendes Organisationsverschulden seiner Prozessbevollmächtigten zur Last zu legen. Ein solches Organisationsverschulden ist gegeben, wenn die Nichteinhaltung einer Frist darauf beruht, dass versäumt worden ist, durch eine zweckmäßige Büroorganisation, insbesondere hinsichtlich der Fristen- und Terminüberwachung und der [X.] und Ausgangskontrolle, ausreichende Vorkehrungen zur Vermeidung von Fristversäumnissen zu treffen. [X.] sind nur Routineangelegenheiten. Die Berechnung von Fristen, die nicht zu den Routinefristen gehören, muss der Rechtsanwalt selbst übernehmen ([X.] aaO RdNr 6 f mwN). Zu den Routinefristen, deren Feststellung und Berechnung gut ausgebildetem und sorgfältig beaufsichtigtem Büropersonal überlassen werden darf, gehört indes die in Verfahren vor dem [X.] zu beachtende Rechtsmittelfrist im Allgemeinen nicht.

Die Führung von Revisionsverfahren ist für Rechtsanwälte typischerweise keine Routineangelegenheit. Daher kann regelmäßig nicht davon ausgegangen werden, dass ihrem Büropersonal die teilweise voneinander abweichenden Regelungen des Revisionsverfahrensrechts der einzelnen Verfahrensordnungen hinreichend vertraut sind ([X.] Beschluss vom [X.] - B 3 P 4/99 R - [X.] 3-1500 § 67 [X.]3 S 40; offengelassen in [X.] Beschluss vom 29.4.2014 - [X.] ÜG 5/13 R - Juris RdNr 6; vgl zur [X.] [X.] Beschluss vom 28.12.1999 - [X.] KA 18/99 R - [X.] 3-1500 § 67 [X.]5 S 43 f; zur Nichtzulassungsbeschwerdefrist [X.] Beschluss vom [X.] 11a [X.] 93/05 B - Juris RdNr 4). So ist die Revision innerhalb eines Monats nach Zustellung der angegriffenen Entscheidung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren entweder beim [X.] oder beim Revisionsgericht einzulegen (§ 139 Abs 1 [X.] und 2 VwGO), nach den übrigen Verfahrensordnungen hingegen beim Revisionsgericht (§ 164 Abs 1 [X.] SGG; § 549 Abs 1 [X.] ZPO; § 120 Abs 1 [X.] FGO; § 72 Abs 5 ArbGG iVm § 549 Abs 1 [X.] ZPO). Darüber hinaus sehen allein das zivil- und das arbeitsgerichtliche Verfahren eine "Höchstfrist" für die [X.] von fünf Monaten nach der Verkündung vor (§ 548 ZPO; § 74 Abs 1 [X.] ArbGG). Nach einer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision beginnt im sozialgerichtlichen Verfahren mit der Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Revision die [X.]sfrist (§ 164 Abs 1 [X.] iVm § 160a Abs 4 [X.] oder § 161 Abs 3 [X.] SGG; nur zur Sprungrevision ebenso § 134 Abs 3 [X.] VwGO; § 76 Abs 3 [X.] ArbGG), während nach den übrigen Verfahrensordnungen das Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde mit der Zulassung der Revision als Revisionsverfahren fortgesetzt wird (§ 139 Abs 2 VwGO; § 544 Abs 6 ZPO; § 72a Abs 6 ArbGG; § 116 Abs 7 FGO; entsprechendes gilt auch für die im Zivilprozess beim Revisionsgericht zu beantragende Zulassung der Sprungrevision, § 566 Abs 7 ZPO). Schließlich wird zwischen der [X.]s- und der [X.] unterschieden (§ 164 Abs 1 [X.], [X.] und 2 SGG; § 139 Abs 1 [X.] und 2, Abs 3 [X.] und 3 VwGO; § 120 Abs 1 [X.], [X.] und 3 FGO; §§ 548, 551 Abs 2 [X.] bis 6 ZPO; § 74 Abs 1 ArbGG). Dass dem Büropersonal der Prozessbevollmächtigten des [X.] diese unterschiedlichen Verfahrensregelungen vertraut sind und damit für sie die hier einschlägige [X.]sfrist des § 164 Abs 1 [X.] SGG eine Routinefrist wäre, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.

Ob der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch deshalb ohne Erfolg bleiben muss, weil zudem nicht dargetan ist, dass und weshalb die von den Prozessbevollmächtigten des [X.] mit der Eintragung und Überwachung von Fristen betraute Mitarbeiterin hinreichend qualifiziert wäre, kann daher dahinstehen.

3. [X.] beruht auf §§ 183, 193 Abs 1 SGG.

Meta

B 12 P 2/16 R

05.12.2017

Bundessozialgericht 12. Senat

Urteil

Sachgebiet: P

vorgehend SG Mainz, 21. April 2015, Az: S 14 P 39/14, Urteil

§ 164 Abs 1 S 1 SGG, § 67 Abs 1 SGG, § 67 Abs 2 S 2 SGG, § 73 Abs 6 S 7 SGG, § 85 Abs 2 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 05.12.2017, Az. B 12 P 2/16 R (REWIS RS 2017, 1280)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 1280

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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