Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29.08.2023, Az. 1 StR 211/23

1. Strafsenat | REWIS RS 2023, 7254

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Gegenstand

Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung: Mitteilungspflicht über Rechtsgespräch zur Verfahrenserledigung


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 30. Juni 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in neun Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Zudem hat es gegen ihn die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 3.483.242,39 Euro angeordnet. Die auf eine Verfahrensrüge und die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Verfahrensbeanstandung Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

2

1. Der Verfahrensrüge liegt im Wesentlichen folgendes Prozessgeschehen zugrunde:

3

Nachdem eine erste Hauptverhandlung wegen der Erkrankung einer Schöffin ausgesetzt worden war, teilte der Vorsitzende zu Beginn der neuen Hauptverhandlung im Termin vom 8. September 2021 den wesentlichen Inhalt eines bereits am 9. April 2019 vor der [X.] mit den Verteidigern aller Angeklagten, der Vertreterin der Staatsanwaltschaft und des Vertreters des Finanzamtes für [X.] und Steuerfahndung geführten Verständigungsgesprächs anhand des dazu gefertigten Gesprächsprotokolls mit. Er erörterte desweiteren, dass in der ersten Hauptverhandlung am 7. Februar 2020 der Sach- und Streitstand auf Initiative des Vorsitzenden erneut eingehend besprochen und eine Verständigung auf der Basis einer bewährungsfähigen Gesamtfreiheitsstrafe betreffend den Angeklagten angesprochen, eine solche jedoch nicht erzielt worden sei. Darüber hinaus informierte der Vorsitzende über einen weiteren Erörterungstermin vom 24. November 2020, in dem er auf die engen Voraussetzungen einer bewährungsfähigen Freiheitsstrafe bei einem Steuerschaden im Millionenbereich hingewiesen, diese Voraussetzungen jedoch hier als möglich erachtet habe, sollte der Angeklagte ein Geständnis ablegen und dieses durch die Rücknahme der Klage im finanzgerichtlichen Verfahren oder Abschluss des dort vorgeschlagenen Vergleichs bekräftigen. Dieser Vorschlag habe von keiner Seite Zustimmung gefunden. Sodann gab der Verteidiger für den Angeklagten im Termin vom 8. September 2021 eine Einlassung zur Sache ab, die sich dieser vollumfänglich zu eigen machte.

4

Nach dem 21. Verhandlungstag (19. Mai 2022) kam es mit Blick auf den Gesundheitszustand des Angeklagten erneut zu einem Verständigungsgespräch, dessen Verlauf und Inhalt im damals noch vorläufigen [X.] vom 19. Mai 2022 niedergelegt wurden. Danach regte der Verteidiger eine Verständigung auf der Basis an, dass der Angeklagte einen Teil der Tatvorwürfe einräumt und bezüglich des Rests seitens der Staatsanwaltschaft ein Antrag nach § 154 Abs. 2 StPO gestellt wird. Dem durch die Verteidigung dabei angestrebten [X.] in einem bewährungsfähigen Bereich konnte die Staatsanwaltschaft nicht nähertreten. Auch über ein Teilgeständnis und eine Teileinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO ohne Verständigung wurde gesprochen.

5

Am nächsten [X.] (3. Juni 2022) informierte der Vorsitzende über [X.] außerhalb der Hauptverhandlung geführte Gespräch durch Verlesung des diesbezüglichen Auszugs aus dem damals noch vorläufigen [X.]. Der Vorsitzende teilte desweiteren mit, die Vertreterin der Staatsanwaltschaft habe ihn mit einer E-Mail darüber informiert, dass sie den angesprochenen Antrag nach § 154 Abs. 2 StPO nicht stellen werde; hierüber habe er den Verteidiger am 30. Mai 2022 telefonisch in Kenntnis gesetzt. Er fragte ferner mit Rücksicht auf eine im Termin vom 19. Mai 2022 gesetzte Frist an, ob weitere Beweisanträge gestellt würden oder eine Einlassung des Angeklagten beabsichtigt sei. Der Verteidiger gab hierzu eine Stellungnahme ab.

6

Im darauffolgenden Hauptverhandlungstermin (21. Juni 2022) beantragte der Verteidiger, das Verfahren insgesamt bzw. hilfsweise nach § 206a StPO einzustellen, sofern die Anklagevorwürfe betroffen sind, die vor dem Jahr 2020 liegen, hilfsweise, festzustellen, dass wegen überlanger Verfahrensdauer die [X.] zwei Drittel einer etwaigen zu verhängenden Gesamtfreiheitsstrafe als vollstreckt ansehe. Nach Stellungnahme aller Verfahrensbeteiligten teilte der Vorsitzende hierzu mit, dass über sämtliche Fragen, sofern es darauf ankomme, im Urteil entschieden werde. Der Verteidiger gab sodann für den Angeklagten eine Einlassung zur Sache ab, deren Richtigkeit dieser bestätigte. Dabei räumte der Angeklagte den modus operandi und einen überwiegenden Teil der Tatvorwürfe ein. Nach Schluss der Beweisaufnahme teilte der Vorsitzende mit, dass keine verfahrensverkürzenden Absprachen getroffen worden seien.

7

Nach Wiedereintritt in die Beweisaufnahme am nächsten [X.] (30. Juni 2022) verlas der Verteidiger eine schriftlich vorformulierte Einlassung zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Angeklagten. Der Angeklagte schloss sich dieser an und äußerte sich ergänzend selbst.

8

Nach abermaligem Schluss der Beweisaufnahme stellte der Vorsitzende erneut fest, dass "keine auf [X.] zielenden Gespräche im Sinne des § 257c StPO stattgefunden haben". Der Verteidiger wiederholte seine vorstehend näher dargelegten Anträge auf Einstellung des Verfahrens bzw. Anrechnung.

9

2. Die Revision rügt, das [X.] habe gegen seine sich aus § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO ergebenden Mitteilungspflichten verstoßen; auf der unzureichenden Transparenz eines am 14. Juni 2022 außerhalb der Hauptverhandlung ohne den Angeklagten geführten Gesprächs beruhe das Urteil, obschon dieser von seinem Verteidiger darüber unterrichtet worden sei.

Jedenfalls in einem Telefonat vom 14. Juni 2022 zwischen dem Verteidiger und dem Vorsitzenden sei das Einlassungsverhalten des Angeklagten im Kontext zu einer möglichen Strafe und deren Bemessung erörtert worden. Die Revision stützt sich insoweit, da ein Aktenvermerk zu dem Telefonat nicht gefertigt wurde, auf eine E-Mail des [X.] vom 15. Juni 2022, mit der er seinen Mandanten über das Gespräch informierte. Danach habe der [X.] den Vorsitzenden angerufen und mitgeteilt, dass über eine teilgeständige Einlassung nachgedacht werde. Es sei angefragt worden, welchen Umfang ein Geständnis aus der Sicht des Vorsitzenden haben müsse, um eine bewährungsfähige Gesamtfreiheitsstrafe verhängen zu können. Hierzu habe der Vorsitzende geäußert, dass das Teilgeständnis zwei Drittel des vorgeworfenen Steuerschadens abdecken solle. Seine Kollegen und er machten sich intensiv Gedanken darüber, wie eine etwaige Bewährungsstrafe revisionssicher für den [X.] begründet werden könne. Wichtige Argumente seien die lange Verfahrensdauer und der Gesundheitszustand des Angeklagten. Der Verteidiger habe mitgeteilt, neben einer Bewährungsstrafe könne auch eine Geldstrafe akzeptiert werden.

3. In seinen dienstlichen Stellungnahmen vom 21. November 2022 und 6. April 2023 bestätigte der Vorsitzende, am 14. Juni 2022 ein Telefonat mit dem [X.] geführt zu haben. Dieser habe ihn mit dem "großen Anliegen" kontaktiert, um zu eruieren, unter welchen Voraussetzungen für seinen Mandanten im Falle eines Schuldspruchs eine zur Bewährung ausgesetzte Gesamtfreiheitsstrafe möglich sei. Er habe die fernmündliche Unterredung aufgrund eines langjährigen Vertrauensverhältnisses mit dem [X.] nicht sofort beendet und in einem "vertraulichen Hintergrundgespräch" erörtert, dass die [X.] zu der Frage des Schuldspruchs und der zu verhängenden Strafe noch keine Entscheidung getroffen habe. Es sei über einzelne potentielle Strafzumessungsgründe – darunter auch ein etwaiges Geständnis – gesprochen worden, die allesamt bereits in der Hauptverhandlung bzw. den mitgeteilten Verständigungsgesprächen erörtert worden seien. Aus seiner Sicht habe das Gespräch keinen Verständigungsbezug gehabt, weshalb er keine Veranlassung gesehen habe, hierüber nach § 243 Abs. 4 StPO zu informieren. Denn eine Verständigung sei spätestens nach dem 22. [X.] (3. Juni 2022) endgültig gescheitert gewesen, was für den [X.] und ihn klar gewesen sei. Über das Thema „Absprachen und Verständigung“ sei auch nicht gesprochen worden. Ob die Möglichkeit eines Teilgeständnisses erörtert worden sei, könne er nicht mehr verlässlich erinnern.

4. Die – zulässige – Verfahrensrüge ist begründet. Das [X.] hat seine Informationspflicht aus § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO dadurch verletzt, dass es in der Hauptverhandlung über das Telefonat vom 14. Juni 2022 nicht informiert hat. Unter den konkret gegebenen Umständen kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass das Urteil auf dem Rechtsverstoß beruht.

a) Nach § 243 Abs. 4 Satz 2, 1 StPO ist über Erörterungen zu berichten, die außerhalb einer laufenden Hauptverhandlung geführt worden sind und deren Gegenstand die "Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c StPO) gewesen ist". Der Umstand und der Inhalt des Verständigungsgesprächs sind damit auch dann mitzuteilen, wenn die Bemühungen erfolglos geblieben sind (st. Rspr.; [X.], Urteil vom 18. November 2020 – 2 StR 317/19 Rn. 45; Beschlüsse vom 6. Oktober 2020 – 2 [X.] Rn. 6 und vom 16. Juni 2021 – 1 [X.] Rn. 10; jeweils mwN). Von einem solchen Bemühen um Verständigung ist auszugehen, sobald bei den Gesprächen ausdrücklich oder konkludent Fragen des prozessualen Verhaltens in Verbindung zum Verfahrensergebnis gebracht werden und damit die Frage nach oder die Äußerung zu einer Straferwartung naheliegt (st. Rspr.; [X.], Beschlüsse vom 23. Juli 2019 – 1 StR 2/19 Rn. 10; vom 10. Januar 2017 – 3 [X.], [X.]R StPO § 243 Abs. 4 Mitteilungspflicht 10 Rn. 12 und vom 16. Juni 2021 – 1 [X.] Rn. 10; jeweils mwN).

Ein bloßes [X.] über die (vorläufige) Einschätzung der Sach-, Beweis- und Rechtslage (vgl. § 257b StPO) oder ein allgemeiner Hinweis etwa auf die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses zielt solange nicht auf eine einvernehmliche und damit mitteilungspflichtige Verfahrenserledigung ab, wie das Gericht nicht eine "Gegenleistung" für eine vom Angeklagten angebotene "Leistung" in Aussicht stellt ([X.], Beschlüsse vom 23. Juli 2019 – 1 StR 2/19 Rn. 11 f., 14 und vom 14. April 2015 – 5 StR 9/15 Rn. 15 f.). Es genügt indes, wenn die Erörterungen von den Verfahrensbeteiligten als Vorbereitung einer Verständigung verstanden werden können; im Zweifel wird über das Gespräch zu berichten sein (vgl. [X.], Beschlüsse vom 6. Dezember 2018 – 1 StR 343/18 Rn. 12; vom 24. Januar 2018 – 1 [X.] Rn. 7 und vom 16. Juni 2021 – 1 [X.] Rn. 11; jeweils mwN).

b) An diesen Grundsätzen gemessen haben der Vorsitzende und der [X.] am 14. Juni 2022 ein erneut mitteilungspflichtiges Verständigungsgespräch geführt, mag dieses angesichts des Scheiterns der bisherigen Bemühungen auch ersichtlich aussichtslos gewesen sein. Denn in dem durch den Vorsitzenden selbst als "vertrauliches Hintergrundgespräch" bezeichneten Telefonat wurde jedenfalls auch darüber gesprochen, dass ein (Teil-)Geständnis dazu beitragen könne, eine bewährungsfähige Strafe zu verhängen. Damit wurde ein Konnex zwischen einem Prozessverhalten des Angeklagten und dem Verfahrensergebnis hergestellt. Die Äußerungen des Vorsitzenden konnten schon deshalb nicht als bloßer allgemeiner Hinweis auf die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses verstanden werden, weil es das offen ausgesprochene Anliegen des Verteidigers war, die [X.] trotz der bislang gescheiterten Verständigungsbemühungen dazu zu bewegen, im Falle einer Verurteilung eine bewährungsfähige Strafe zu verhängen. Sinn des in § 243 Abs. 4 Satz 2, 1 StPO normierten [X.] ist es gerade, informellen "vertraulichen Hintergrundgesprächen" über ein mögliches an ein bestimmtes Prozessverhalten des Angeklagten geknüpftes Verfahrensergebnis einen "Riegel" vorzuschieben (vgl. [X.], Urteil vom 14. Juni 2023 – 1 StR 304/22 Rn. 20 mwN). Dies gilt auch für die Konstellation, in der der Verteidiger den Angeklagten über den Inhalt eines geführten Verständigungsgespräches informiert hat ([X.], Beschluss vom 15. Januar 2015 – 1 [X.], [X.]St 60, 150, 155).

c) Es ist nicht auszuschließen, dass das angefochtene Urteil auf der unterlassenen Mitteilung beruht (§ 337 Abs. 1 StPO), auch wenn der Schuldspruch für sich genommen auf einer [X.] Beweiswürdigung gründet. Der Verstoß ist nicht etwa als gering zu werten. Denn die Mitteilung ist gänzlich unterblieben (vgl. [X.], Beschluss vom 23. Juni 2020 – 5 [X.] Rn. 16).

5. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

Sollte das neue Tatgericht zu dem Ergebnis kommen, die Einziehung des Wertes von Taterträgen sei anzuordnen, wird es zu berücksichtigen haben, dass die auf eine Steuerschuld erbrachten Zahlungen die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis – ungeachtet der Bestandskraft der zugrunde liegenden Verwaltungsakte – zum Erlöschen bringen können (§ 47 [X.], § 73e Abs. 1 Satz 1 StGB; vgl. [X.], Beschluss vom 6. April 2022 – 1 StR 466/21 unter 1.b)).

Jäger     

  

Bellay     

  

      Wimmer

  

Leplow     

  

Richterin am [X.]
Dr. [X.] ist urlaubsbedingt
ortsabwesend und daher gehindert
zu unterschreiben.

  

  

  

  

Jäger

  

Meta

1 StR 211/23

29.08.2023

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Aachen, 30. Juni 2022, Az: 86 KLs 2/15

§ 257c StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29.08.2023, Az. 1 StR 211/23 (REWIS RS 2023, 7254)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 7254

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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