Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 23.12.2021, Az. 2 BvR 1106/21

2. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2021, 55

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung der Rechtsschutzgarantie (Art 19 Abs 4 S 1 GG) durch verfehlte Behandlung eines Rechtsmittels (Antrag auf gerichtliche Entscheidung gem § 30a EGGVG ) als unstatthaft


Tenor

Der Beschluss des [X.] vom 1. April 2021 - 29 C 46/21 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes.

Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

Das [X.] hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe

1

1. Der Beschwerdeführer wurde vom [X.] mit Urteil vom 26. Mai 2016 - 12 C 292/14 - unter anderem in die Kosten eines [X.]s verurteilt.

2

2. Mit Kostenrechnung vom 31. Mai 2016, in der Folgezeit mehrfach geändert, machte die [X.] - [X.] - des [X.] die in diesem Zivilverfahren entstandenen Gerichtskosten gegenüber dem Beschwerdeführer geltend.

3

3. Unter dem 18. Dezember 2016 beantragte der Beschwerdeführer bei dem Präsidenten des [X.] den Erlass eines - auf Zustellungen entfallenden - [X.] von 28 Euro aus der Kostenrechnung der [X.].

4

4. Mit Bescheid vom 14. August 2019 lehnte der Präsident des [X.] den Antrag des Beschwerdeführers ab, da die [X.] nach § 8 Abs. 2 des [X.] ([X.]) nicht vorlägen. Insbesondere entspreche ein Erlass nicht der Billigkeit, da das Urteil des [X.] rechtskräftig geworden und der Beschwerdeführer nach diesem Urteil [X.] der entstandenen Gerichtskosten sei.

5

5. Unter dem 19. Oktober 2019 erhob der Beschwerdeführer Einwendungen gegen den Bescheid vom 14. August 2019, die der Präsident des [X.] mit Bescheid vom 20. Februar 2020 unter Verweis auf die zutreffende Prüfung im angegriffenen Bescheid zurückwies. Die Richtigkeit des [X.] sei zudem durch den zuständigen Bezirksrevisor festgestellt worden.

6

6. Mit Schriftsatz vom 11. März 2021 beantragte der Beschwerdeführer richterliche Entscheidung über den Bescheid vom 14. August 2019 und den Bescheid vom 20. Februar 2020, der ihm erstmals am 2. März 2021 zugegangen sei, beim [X.]. Beide Bescheide verletzten ihn in seinen Rechten, da er zur Zahlung einzelner Kostenansätze, insbesondere wegen vorgenommener Zustellungen, verpflichtet bleibe, die er richtigerweise nicht zu zahlen habe.

7

7. Mit Beschluss vom 1. April 2021 - 29 C 46/21 - verwarf das [X.] den Antrag des Beschwerdeführers als unzulässig. Gegen den Bescheid des Präsidenten des [X.] vom 20. Februar 2020 sei ein Rechtsmittel nicht statthaft.

8

8. Einer Gegenvorstellung des Beschwerdeführers half das [X.] nicht ab.

9

1. Mit seiner am 27. April 2021 erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG durch den Beschluss des [X.] vom 1. April 2021, weil es zu Unrecht den Bescheid des Präsidenten des [X.] vom 20. Februar 2020 als mit Rechtsmitteln nicht angreifbar angesehen habe.

2. Das [X.] und das [X.] des [X.] hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem [X.] vorgelegen.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.] zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c [X.]). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das [X.] bereits entschieden.

Der angegriffene Beschluss des [X.] verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.

1. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG eröffnet den Rechtsweg gegen jede behauptete Verletzung subjektiver Rechte durch ein Verhalten der öffentlichen Gewalt, garantiert gerichtlichen Rechtsschutz mithin sowohl dann, wenn jemand geltend macht, durch die öffentliche Gewalt mittels einer belastenden Maßnahme in seinen Rechten verletzt zu sein - "[X.]" -, als auch bei der Unterlassung oder Ablehnung einer beantragten Amtshandlung - "[X.]" - (vgl. [X.] 46, 166 <177 f.>). Dabei ist der Begriff der öffentlichen Gewalt nicht auf die Exekutive im organisatorischen Sinne begrenzt. Vielmehr garantiert Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG effektiven Rechtsschutz auch für den Fall, dass das Handeln einer nicht zur Exekutive gehörenden, aber auch nicht in richterlicher Unabhängigkeit handelnden Instanz als rechtswidrig angegriffen wird, so insbesondere auch Akte der Rechtspfleger (vgl. [X.] 101, 397 <407>) und [X.] (vgl. für [X.] der Kostenbeamten in den Geschäftsstellen der Gerichte [X.] 28, 10 <14 f.>; 107, 395 <405 f.>).

Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG überlässt dabei zwar die nähere Ausgestaltung des Rechtswegs den jeweils geltenden Prozessordnungen (vgl. [X.] 10, 264 <267 f.>; 27, 297 <310>) und gewährleistet nicht, dass diese einen Instanzenzug zur Verfügung stellen (vgl. [X.] 11, 232 <233>; 28, 21 <36>). Jedoch darf der Rechtsweg nicht ausgeschlossen werden ([X.] 22, 49 <81 f.>; 27, 297 <310>; 40, 272 <274>) und er darf auch durch den [X.] bei Auslegung und Anwendung des Prozessrechts nicht in unzumutbarer, aus [X.] nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. [X.] 74, 228 <234>; 77, 275 <284>; 112, 185 <208>).

2. Eine derartige Erschwerung liegt mit dem angegriffenen Beschluss des [X.] vor. Das Amtsgericht hat mit dem durch § 30a Abs. 1 Satz 1 Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz ([X.]) vorgesehenen Antrag auf gerichtliche Entscheidung einen dem Beschwerdeführer offensichtlich zu Gebote stehenden Rechtsbehelf in aus [X.] nicht zu rechtfertigender Weise nicht berücksichtigt und so für den Beschwerdeführer ausgeschlossen.

a) Nach § 30a Abs. 1 Satz 1 [X.] können Verwaltungsakte, die im Bereich der Justizverwaltung beim Vollzug des Gerichtskostengesetzes, des Gesetzes über Kosten in Familiensachen, des Gerichts- und Notarkostengesetzes, des [X.], des Justizvergütungs- und -entschädigungsgeset-zes oder sonstiger für gerichtliche Verfahren oder Verfahren der Justizverwaltung geltender Kostenvorschriften, insbesondere hinsichtlich der Einforderung oder Zurückzahlung ergehen, durch einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung auch dann angefochten werden, wenn es nicht ausdrücklich bestimmt ist. Die Regelung des § 30a [X.] enthält damit eine Auffanggeneralklausel für die Anfechtbarkeit von Verwaltungsakten auf dem Gebiet des Kostenrechts, die etwa bestehende Regelungslücken schließen soll. Für den Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit führt sie zu einer Zuständigkeit der sachnäheren Amtsgerichte anstelle der Verwaltungsgerichte. Zum nach Berücksichtigung vorrangiger, hier aber nicht eingreifender Spezialregelungen verbleibenden Anwendungsbereich des § 30a [X.] gehören - nach einhelliger Auffassung in Rechtsprechung und Literatur - insbesondere Entscheidungen über den Erlass oder die Stundung von Gerichtskosten (vgl. etwa OVG Berlin-[X.], Beschluss vom 10. Januar 2011 - [X.] -, juris, Rn. 6; [X.], Beschluss vom 5. November 2018 - 6 VA 12/18 -, juris, Rn. 4).

b) Dem trägt auch die Rechtslage in [X.] ausdrücklich Rechnung. So bestimmt § 8 Abs. 1, Abs. 2 [X.], für welchen Kreis von [X.] und unter welchen Voraussetzungen ein Erlass in Betracht kommt. § 8 Abs. 4 [X.] überträgt die Zuständigkeit für die Entscheidung über den Erlass solcher Ansprüche grundsätzlich auf das [X.] (Satz 1), ermächtigt es in Satz 2 aber auch zur Delegation der Zuständigkeit. Von dieser Delegationsbefugnis hat das Ministerium durch Erlass der Verordnung zur Übertragung von Befugnissen zum Erlass von Kosten nach § 8 des [X.] (Kostenerlassübertragungsverordnung - [X.]) vom 24. Juli 2014 Gebrauch gemacht. In § 1 Abs. 1 bis Abs. 3 [X.] wird die Zuständigkeit für den Erlass von Gerichtskosten aus dem Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Staatsanwaltschaften in Abhängigkeit von der Höhe der zu erlassenden Kosten und dem betroffenen Justizorgan differenziert bestimmt; aus § 1 Abs. 1 Nr. 2 [X.] folgt danach vorliegend die Zuständigkeit des Präsidenten des [X.] für die Entscheidung über den Erlass der aus dem [X.] vor dem [X.] resultierenden Gerichtskosten in Höhe von 28 Euro. § 1 Abs. 4 Satz 1 [X.] sieht sodann die Zuständigkeit des Präsidenten des [X.] für Einwendungen gegen Erlassentscheidungen des Präsidenten des [X.] oder der Präsidenten der [X.] vor. § 1 Abs. 5 [X.] hebt aber hervor, dass der Rechtsweg unberührt bleibt und verweist damit in der Sache auf § 30a [X.].

c) Vor diesem Hintergrund stand dem Beschwerdeführer gegen die Bescheide des Präsidenten des [X.] und des Präsidenten des [X.] der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 30a Abs. 1 Satz 1 [X.] offen. Dem steht insbesondere auch das Einwendungsverfahren bei dem Präsidenten des [X.] nach § 1 Abs. 4 Satz 1 [X.] nicht entgegen, weil es sich dabei um einen förmlichen Rechtsbehelf im Verwaltungsverfahren handelt, vergleichbar dem von § 24 Abs. 2 [X.] benannten Beschwerdeverfahren. Der in diesem Verfahren ergangene Bescheid des Präsidenten des [X.] ist danach seinerseits Justizverwaltungsakt, vermittelt also gerade nicht den von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG geforderten gerichtlichen Rechtsschutz. Die abweichende, allerdings nicht weiter begründete Auffassung des Amtsgerichts im angegriffenen Beschluss ist danach weder mit § 30a Abs. 1 Satz 1 [X.] noch mit den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG in Einklang zu bringen.

d) Der angegriffene Beschluss des [X.] beruht auch auf der Verletzung von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Amtsgericht, hätte es den Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung nicht bereits als unstatthaft behandelt, zu einer anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gelangt wäre. Zwar ergeben sich aus der Akte des Ausgangsverfahrens Zweifel daran, ob der Bescheid des Präsidenten des [X.] vom 20. Februar 2020 dem Beschwerdeführer erst, wie von ihm im fachgerichtlichen Verfahren vorgetragen, am 2. März 2021 zugegangen ist, ob ein etwaiger, erheblich früherer Zugang dieses Bescheids Auswirkungen auf die Zulässigkeit des Antrags auf gerichtliche Entscheidung hat und ob das im Wesentlichen auf die Richtigkeit des [X.] zielende Vorbringen des Beschwerdeführers zu einer Rechtsverletzung durch die Entscheidungen über den Erlass der Gerichtskosten führt. Es ist aber nicht Aufgabe des [X.]s, diesen die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts und die Anwendung des einfachen Rechts betreffenden Zweifeln weiter nachzugehen.

1. Der Beschluss des [X.] vom 1. April 2021 war daher aufzuheben und die Sache war an das Amtsgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 [X.]).

2. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 [X.].

Meta

2 BvR 1106/21

23.12.2021

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend AG Potsdam, 1. April 2021, Az: 29 C 46/21, Beschluss

Art 19 Abs 4 S 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 30a Abs 1 S 1 GVGEG, § 1 Abs 1 Nr 2 JKostG§8V BB 2014, § 1 Abs 4 JKostG§8V BB 2014, § 8 Abs 2 JKostG BB

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 23.12.2021, Az. 2 BvR 1106/21 (REWIS RS 2021, 55)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 55

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