Bundessozialgericht, Beschluss vom 07.04.2011, Az. B 9 VG 16/10 B

9. Senat | REWIS RS 2011, 7817

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz - ohne hinreichende Begründung unterlassenen Beweiserhebung - Zurückverweisung


Tenor

Auf die Beschwerde der Kläger wird das Urteil des [X.] vom 22. Juli 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Streitig ist die Zuerkennung verschiedener Versorgungsleistungen an die Kläger nach dem Opferentschädigungsgesetz ([X.]) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz.

2

Die Kläger sind die Eltern des am 23.9.1991 geborenen und am [X.] unter bisher nicht vollständig aufgeklärten Umständen in dem Fluss [X.] Insbesondere ist nicht vollständig geklärt, wie [X.] in den Hochwasser führenden Fluss geraten ist. Die Kläger machen geltend, er sei von dem am [X.] geborenen [X.] in den Fluss gestoßen worden.

3

Im Zuge der polizeilichen Ermittlungen wurden von verschiedenen Beamten mehrere Kinder vernommen, die [X.] und [X.] auf bzw in der Nähe einer Brücke über die N. gesehen hatten. Ferner wurden der Bruder sowie die Mutter von [X.] über dessen Äußerungen nach dem Vorfall befragt.

4

Die im Juni 1998 von den Klägern gestellten Versorgungsanträge lehnte das beklagte Land mit Bescheiden vom [X.] und [X.] in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom [X.] und [X.] ab, weil ein vorsätzlich tätlicher Angriff auf [X.] nicht feststellbar nachgewiesen sei. Es sei nicht bewiesen, dass [X.] den [X.] gewaltsam und in feindlicher Absicht in den Fluss geschubst habe.

5

Das von den Klägern angerufene [X.] ([X.]) hat durch Urteil vom 10.6.2004 ([X.] VG 31/00) und Gerichtsbescheid vom 23.3.2005 ([X.] VG 29/00) die Klagen abgewiesen. Mit Urteilen vom 19.7.2006 hat das [X.] [X.] (L[X.]) die Berufungen zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Ansprüche scheiterten daran, dass es sich bei dem Ereignis vom [X.] nach allen drei denkbaren Sachverhaltsvarianten nicht um einen vorsätzlichen tätlichen Angriff gehandelt habe. Selbst wenn [X.] den [X.] in den Fluss geschubst haben sollte, fehle es an einem tätlichen Angriff oder zumindest am Vorsatz. In diesem Fall liege nach Auffassung der gehörten Sachverständigen aus entwicklungspsychologischer Sicht keine willentliche Handlung des [X.] vor.

6

Auf die dagegen eingelegten Revisionen der Kläger hat das [X.] (B[X.]) mit zwei Urteilen vom 8.11.2007 (- [X.]/9a [X.] - und - [X.]/9a [X.] - = SozR 4-3800 § 1 [X.]) die Urteile des L[X.] aufgehoben und die Sachen zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen: Entgegen der Auffassung des L[X.] lasse sich ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff des [X.] auf [X.] nach dem Stand der Sachverhaltsaufklärung nicht aus Rechtsgründen ausschließen. Mit natürlichem Vorsatz vermöge auch zu handeln, wer weder seine Tat moralisch bewerten noch seine Impulse kontrollieren könne. Die Unfähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen, betreffe die Schuldfähigkeit des [X.], auf die es nach § 1 [X.] nicht ankomme. Dass es sich bei dem Vorfall am [X.] lediglich um eine unter Kindern übliche Rangelei oder Schubserei gehandelt habe, sei bisher nicht festgestellt. Danach komme es entscheidend auf den äußeren Ablauf des Geschehens an, den das L[X.], allein gestützt auf polizeiliche Vernehmungsprotokolle von Zeugen - nicht aber des [X.]-, noch nicht hinreichend aufgeklärt und auch mit den von ihm angenommenen Sachverhaltsvarianten nicht erschöpfend beschrieben habe.

7

           

Das L[X.] hat danach die beiden Rechtsstreite zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Sodann hat es in der mündlichen Verhandlung vom 22.4.2010 die Zeugen [X.] und [X.] sowie [X.] vernommen. Durch seine Berichterstatterin hat es im Termin am [X.] die [X.] (vormals W.) und S. gehört. In der mündlichen Verhandlung des L[X.] vom [X.] haben die Kläger neben ihren Sachanträgen hilfsweise beantragt,

die damals aufnehmenden Polizeibeamten [X.], POK B. und [X.] sowie den Polizisten namens [X.], wie im Schriftsatz vom [X.] benannt, zeugenschaftlich zu vernehmen zu dem Beweisthema, dass ihr [X.] zum Vorfallszeitpunkt gestoßen wurde bzw Opfer eines tätlichen Angriffs war.

8

Durch Urteil vom [X.] hat das L[X.] die Berufungen der Kläger zurückgewiesen. Es hat seine Entscheidung im Wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt: Nach Ausschöpfung sämtlicher Beweismittel habe der Ablauf des Geschehens am [X.] nicht mehr aufgeklärt werden können. Bedeutende Beweismittel seien die polizeilichen Vernehmungsprotokolle, die im unmittelbaren bzw zeitnahen [X.] an das Geschehen aufgrund der Aussagen der Kinder [X.], [X.] und M. angefertigt worden und im vorliegenden Rechtsstreit urkundsbeweislich heranzuziehen seien. Aus diesen zeitnahen polizeilichen Vernehmungsprotokollen lasse sich nicht eindeutig auf einen bestimmten Geschehensablauf schließen. Auch die Vernehmung der Zeugen durch den [X.] habe keine weitere Aufklärung des Geschehenshergangs erbringen können. Die Vernehmung weiterer Zeugen erachte der [X.] nicht für erforderlich. Insbesondere sei die von den Klägern hilfsweise beantragte Vernehmung der namentlich genannten Polizeibeamten nicht geboten. Denn insoweit könne der [X.] unterstellen, dass die Aussagen der Kinder von diesen Beamten richtig und vollständig in den Protokollen niedergelegt worden seien. Anhaltspunkte dafür, dass die Polizeibeamten selbst Zeugen des Geschehens am [X.] gewesen seien, lägen nicht vor. Dies sei auch von den Klägern nicht behauptet worden.

9

Mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Nichtzulassungsbeschwerde machen die Kläger als Verfahrensmangel die Verletzung des § 103 [X.]G geltend. Das L[X.] sei ohne hinreichende Begründung ihrem mit Schriftsatz vom [X.] und erneut in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag auf Vernehmung der Polizeibeamten nicht gefolgt, die im Februar 1997 die Kinder vernommen hätten. Diese hätten als Zeugen auch Angaben über das Verhalten der Kinder während der Vernehmungen machen können. Dies gelte insbesondere für [X.], der den Augenzeugen [X.] vernommen habe. Zudem habe das L[X.] die vorliegenden Beweismittel unzutreffend gewürdigt.

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des L[X.] vom [X.] ist unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 [X.]G) ergangen. Dieser Verfahrensmangel ist von den Klägern schlüssig gerügt worden. Er führt, anders als die gemäß § 160 Abs 2 [X.] [X.]G im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde ausgeschlossene Rüge unzutreffender Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 [X.]G), gemäß § 160 Abs 2 [X.] iVm § 160a Abs 5 [X.]G zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das L[X.].

Das L[X.] hat seine in § 103 [X.]G normierte Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts dadurch verletzt, dass es entgegen dem von den Klägern in der mündlichen Verhandlung aufrechterhaltenen Beweisantrag, die im Februar 1997 im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen tätig gewesenen Polizeibeamten nicht als Zeugen ua dazu befragt hat, wie sich die Kinder während ihrer damaligen Vernehmungen verhalten haben.

Zwar ist das im Rahmen des [X.] aufgeführte Beweisthema, dass [X.]"zum Vorfallszeitpunkt gestoßen wurde bzw Opfer eines tätlichen Angriffs war", einerseits zu allgemein formuliert und andererseits nicht allein auf die Aufklärung von Tatsachen gerichtet ("tätlicher Angriff" ist ein Rechtsbegriff). Die Kläger hatten jedoch mit Schriftsatz vom [X.], auf den sie in ihrem Beweisantrag ausdrücklich verwiesen haben, hinreichend deutlich gemacht, dass insbesondere [X.] zu seinen Erinnerungen an die Aussagen der Kinder befragt werden sollte. Danach ging es nicht um die Frage, ob die Aussagen der Kinder seinerzeit vollständig und richtig protokolliert worden sind und/oder ob die Polizeibeamten etwa selbst Augenzeugen des Vorfalls gewesen sind, sondern um die näheren Umstände der Vernehmungen, insbesondere das dabei von den Kindern gezeigte Verhalten.

Soweit das L[X.] die Befragung der Polizeibeamten für nicht geboten erachtet hat, weil es unterstelle, dass die protokollierten Aussagen richtig und vollständig niedergelegt worden seien, und Anhaltspunkte dafür nicht vorlägen, dass die Beamten selbst Augenzeugen des Geschehens am [X.] gewesen seien, hat es das mit dem Beweisantrag erkennbar verfolgte Anliegen der Kläger nicht hinreichend berücksichtigt. Etwaige Zweifel betreffend das genaue Beweisthema hätte es ausräumen müssen (vgl § 106 Abs 1, § 112 Abs 2 [X.]G). Das L[X.] ist damit dem Beweisantrag schon ohne hinreichende "Begründung" nicht gefolgt.

Überdies bestand auch in der Sache kein hinreichender Grund, den Beweisantrag abzulehnen. Ohne hinreichende Begründung iS des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G bedeutet, dass die Revision zuzulassen ist, wenn das L[X.] sich hätte gedrängt fühlen müssen, den beantragten Beweis zu erheben (B[X.] SozR 1500 § 160 [X.], 49). Es bestand hier zwingende Veranlassung, dem Beweisantrag zu folgen. Das L[X.] hat entgegen seiner Pflicht aus § 103 [X.]G eine Beweislastentscheidung zu Lasten der Kläger getroffen, ohne alle verfügbaren Beweismittel ausgeschöpft zu haben. Dem Verhalten der Kinder während ihrer polizeilichen Vernehmung könnten durchaus Anhaltspunkte zur Beurteilung ihrer persönlichen Glaubwürdigkeit und zur Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen entnommen werden. Das gilt insbesondere in Bezug auf den von [X.] befragten Augenzeugen [X.] Insoweit hat das L[X.] noch nicht alle geeigneten Möglichkeiten zur Aufklärung des Sachverhalts genutzt.

Auf diesem Verfahrensmangel kann das angefochtene Urteil iS des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G beruhen, denn es ist nicht auszuschließen, dass bei Durchführung der beantragten Zeugenvernehmungen der Rechtsstreit einer anderen, für die Kläger günstigeren Lösung hätte zugeführt werden können.

Das L[X.] wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu befinden haben.

Meta

B 9 VG 16/10 B

07.04.2011

Bundessozialgericht 9. Senat

Beschluss

Sachgebiet: VG

vorgehend SG Hildesheim, 10. Juni 2004, Az: S 7 VG 31/00, Urteil

§ 103 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG, § 160a Abs 5 SGG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 07.04.2011, Az. B 9 VG 16/10 B (REWIS RS 2011, 7817)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 7817

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

B 9 V 43/15 B (Bundessozialgericht)

Nichtzulassungsbeschwerde - grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache - soziales Entschädigungsrecht - Gewaltopferentschädigung - mittelbarer Schockschaden des …


B 5 R 206/15 B (Bundessozialgericht)

Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - gerügter Verstoß gegen die tatrichterliche Sachaufklärungspflicht - Darlegungspflicht eines im Berufungsverfahren …


B 5 RS 55/10 B (Bundessozialgericht)

Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - gerügter Verstoß gegen die tatrichterliche Sachaufklärungspflicht - Darlegungspflicht eines im Berufungsverfahren …


B 1 KR 33/22 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Beweisantrag - Beweisaufnahme - schriftliche Zeugenvernehmung


B 9 V 13/15 B (Bundessozialgericht)

Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - Amtsermittlungspflicht - Übergehen eines Beweisantrags - Vorliegen eines prozessordnungsgemäßen Beweisantrags - …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.