Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 22.12.2015, Az. VI ZR 67/15

VI. Zivilsenat | REWIS RS 2015, 170

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[X.]:[X.]:[X.]:2015:221215BVIZR67.15.0

BUN[X.]SGERICHTSHOF

BESCHLUSS
VI [X.]/15
vom

22. Dezember 2015

in dem Rechtsstreit

Nachschlagewerk:
ja
[X.]Z:
nein
[X.]R:
ja
BGB § 823 Aa; ZPO § 529 Abs. 1 Nr. 1
a)
Einwendungen einer [X.] gegen die erstinstanzliche Überzeugungsbildung können in der
Berufungsinstanz nicht mit der Begründung als unbeachtlich angesehen werden, die [X.] setze lediglich in unzulässiger Weise ihre ab-weichende Bewertung an die Stelle derjenigen des gerichtlichen [X.] und des [X.]s.
b)
[X.] von einer ärztlichen Maßnahme ist nicht erst dann behandlungs-fehlerhaft, wenn die Maßnahme "zwingend" geboten war, sondern bereits dann, wenn ihr Unterbleiben dem im [X.]punkt der Behandlung bestehenden medizinischen Standard zuwiderlief.
[X.], Beschluss vom 22.
Dezember 2015 -
VI [X.]/15 -
OLG [X.]

[X.]

-

2

-

Der VI.
Zivilsenat des [X.] hat am
22. Dezember 2015 durch den Vorsitzenden [X.], [X.], die Richterinnen von
Pentz, Dr.
[X.] und Müller

beschlossen:

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird der Be-schluss des 11. Zivilsenats des [X.] vom 9.
Januar 2015 aufgehoben.

Die Sache wird zur Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde,
an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Die Klägerin nimmt die Beklagten aus eigenem und übergegangenem Recht ihres verstorbenen Ehemannes wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch. Der am 26.
April 1932 geborene Ehemann der Klägerin hatte im Jahre 1995 nach ei-nem Hinterwandinfarkt und der Diagnose einer Herzkranzgefäßerkrankung eine [X.]. Seitdem stellte er sich einmal jährlich zur kardiologischen Kontrolle bei dem Beklagten zu
2 vor. [X.] wurde eine mäßiggradige 1
-

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-

Mitralklappeninsuffizienz und eine Trikuspidalklappeninsuffizienz II diagnosti-ziert. Darüber hinaus litt der Ehemann der Klägerin unter Bluthochdruck, Fett-wechselstörungen, einer chronisch obstruktiven Bronchitis und einem [X.]. Im November 2007 suchte er den Beklagten zu
2 auf und klagte über Atemnot. Am 14.
November 2007 wurde er in dem von der Beklagten zu
1 be-triebenen Krankenhaus wegen des Verdachts eines Herzinfarktes stationär auf-genommen. Dort befand er sich bis zum 21.
November 2007. Nach Einstellung auf [X.] wurde er am 21.
November 2007 entlassen. Am 23.
November 2007 erfolgte nach erneuter Verschlimmerung der Beschwerden eine erneute Einweisung in das von der Beklagten zu
1 betriebene Krankenhaus. Es erfolgte eine ambulante Behandlung und er erhielt eine neue Medikation. Am 20.
Dezember 2007 stellte sich der Ehemann der Klägerin bei dem Beklagten zu
2 aufgrund weiterhin bestehender Kurzatmigkeit vor. Der Beklagte zu
2 [X.] eine Röntgenaufnahme der Lunge und am nächsten Tag ein CT we-gen des Verdachts einer Zwerchfellentzündung. Die Auswertung des [X.] ergab, dass sich Wasser in der Lunge befand, weshalb der Beklagte zu
2 den Ehemann der Klägerin zur Punktion in das von der Beklagten zu
1 betriebene Krankenhaus überwies. Außerdem diagnostizierte der Beklagte zu
2 eine Blut-senkung, die auf eine Entzündung hinwies. Er verschrieb dem Ehemann der Klägerin deshalb das Antibiotikum [X.]. Die Punktion konnte wegen der Einnahme von [X.] erst am
27.
Dezember 2007 durchgeführt werden. Dabei wurden 1500 ml Wasser entzogen. Am 29.
Dezember 2007 wurde der Ehemann der Klägerin entlassen. Nach einer weiteren Verschlechterung seines gesundheitlichen Zustands stellte er sich erneut am 24.
Januar 2008 bei
dem Beklagten zu
2 vor. Dieser veranlasste die Überweisung in die Thoraxchirurgie der A.

Klinik H.

zur Abklärung von [X.]. Dort befand sich der Ehemann der Klägerin in der [X.] vom 7.
Februar bis zum 20.
Februar 2008. Es wurde eine erneute Pleurapunktion durchgeführt. Der Ehemann der -

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-

Klägerin erhielt darüber hinaus Antibiotika. Eine pulmologisch zu erklärende Pathologie konnte nicht gefunden werden. Am 14.
März 2008 stellte sich der Ehemann der Klägerin erneut beim Beklagten zu
2 vor. Dieser veranlasste die notfallmäßige Einweisung in das von der Beklagten zu
1 betriebene Kranken-haus wegen des Verdachts auf Darmverschluss. Dort wurden erhöhte Entzün-dungswerte diagnostiziert und Antibiotika verordnet. Am 1. und 2. April 2008 erfolgten in dem von der Beklagten zu
1 betriebenen Krankenhaus [X.]. Diese erbrachten den Befund einer schweren operationsbedürftigen Mitralklappeninsuffizienz. Eine am 4.
April 2008 vorgenommene [X.] bestätigte diesen Befund und ergab die Notwendigkeit einer er-neuten [X.] wegen verstopfter Zugänge. Diese sollte im [X.] durchgeführt werden. Der Ehemann der Klägerin wurde zunächst am 4.
April 2008 nach [X.] entlassen und stellte sich am 8.
April 2008 im [X.] vor. Zu der geplanten [X.] kam es aber nicht mehr, weil der Ehemann der Klägerin am 10.
April 2008 verstarb.

Die Klägerin macht u.a. geltend, die Beklagten hätten die [X.] wesentlich früher veranlassen müssen. Die
Beklagte zu 1 habe den Ehemann der Klägerin am 4. April 2008 nicht aus dem Krankenhaus [X.] dürfen, sondern diesen stationär in das [X.] überweisen müssen. Darüber hinaus sei die weitere Verordnung des Medikaments Spirono-lacton fehlerhaft gewesen. Das [X.] hat die Klage abgewiesen. Das [X.] hat die Berufung der Klägerin durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde.

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5

-

II.

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß §
544 Abs.
7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückver-weisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die Beurteilung des [X.], den Beklagten könne nicht vorgeworfen werden, dass sie nicht bereits vor dem 4.
April 2008 eine Herzkatheteruntersuchung veranlasst hätten, beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf Gewährung rechtli-chen Gehörs aus Art.
103 Abs.
1 GG.

1. Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet zu
Recht, dass das Be-rufungsgericht den Vortrag der Klägerin in der Berufungsbegründung und in ihrem Schriftsatz vom 17.
Dezember 2014, wonach bei ihrem Ehemann bereits in der [X.] vom 27. bis 29.
Dezember 2007 eine massiv gestaute [X.] vor-gelegen habe, die als Indiz für eine höhergradige Klappeninsuffizienz zu sehen sei, für nicht berücksichtigungsfähig gehalten hat, weil die von der Klägerin in Bezug genommenen Stellungnahmen ihres Privatsachverständigen keine diese Behauptung stützenden Aussagen enthielten. Abgesehen davon, dass eine [X.] ihre -
wie im Streitfall -
ausreichend konkret vorgetragenen und unter Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens gestellten Behaup-tungen nicht vorab durch Vorlage eines Privatsachverständigengutachtens be-legen muss, hat das Berufungsgericht bei seiner Entscheidungsfindung die von der Klägerin mit Schriftsatz vom 17.
Dezember 2014 vorgelegte und auf S.
4 ihres Schriftsatzes ausdrücklich in Bezug genommene Stellungnahme des Prof. Dr. S.

vom 29.
November 2014 unter Verstoß gegen Art.
103 Abs.
1 GG übergangen. Darin hatte der Privatsachverständige ausgeführt: "Bei der [X.] "massiv gestauten [X.]" als Indiz "für eine höhergradige Klap-peninsuffizienz" handelt es sich nicht um eine Behauptung meinerseits. Viel-3
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-

mehr ist dieser Befund im Arztbrief des [X.] [Beklagte zu 1] vom 13.
Februar 2008 über den stationären Behandlungszeitraum vom 27.
Dezember 2007 bis 29.
Dezember 2007 in der [X.] dokumentiert. Da die Akten ja Gegenstand des Verfahrens
sind und dem Gericht bekannt, kann ich in dem Fehlen früherer Stellungnahmen diesbezüglich meinerseits keine Argumentation gegen den Befund und seine Wertung erkennen". Diesen Ausführungen ist zweifelsfrei zu entnehmen, dass der Privatsachverständige einer massiv gestauten [X.] Indizwirkung für eine höhergradige Klappeninsuffizienz beimisst.

2. [X.] ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Berück-sichtigung des Vorbringens der Klägerin und bei der dementsprechend gebote-nen Ergänzung der Beweisaufnahme unter Berücksichtigung aller Umstände des gesamten Falles zu einer anderen Beurteilung gelangt wäre.

III.

Bei der neuen Verhandlung wird das Berufungsgericht Gelegenheit ha-ben, sich auch mit den weiteren Einwänden der Nichtzulassungsbeschwerde in der Beschwerdebegründung zu befassen und auf die weitere Aufklärung des Sachverhalts hinzuwirken.

Es wird dabei insbesondere zu berücksichtigen haben, dass es sich
bei der Berufungsinstanz auch nach Inkrafttreten des [X.] um eine zweite -
wenn auch eingeschränkte -
Tatsacheninstanz handelt, deren Aufgabe in der Gewinnung einer "fehlerfreien und überzeugenden" und damit "richtigen" Entscheidung des Einzelfalles, besteht ([X.], Urteile vom 9. März 5
6
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7

-

2005 -
VIII ZR 266/03, [X.]Z 162, 313 Rn. 5; vom 18. November 2004 -
IX ZR 229/03, [X.]Z 161, 138, Rn. 1 ff.; vom 14. Juli 2004 -
VIII ZR 164/03, [X.]Z 160, 83 Rn. 18 ff.; Begründung des [X.] eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses, BT-Drucks. 14/4722 S. 59 f.; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 14/6036, [X.], 124). Die Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts hinsichtlich der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung ist insbesondere nicht auf Verfahrensfehler und damit auf den Umfang beschränkt, in dem eine zweitinstanzliche Tatsachenfeststellung der Kontrolle durch das Revisionsgericht unterliegt ([X.], Urteil vom 9. März 2005 -
VIII ZR 266/03, [X.]Z 162, 313, Rn. 5). Einwendungen der [X.]en ge-gen die erstinstanzliche Überzeugungsbildung können deshalb in der [X.] nicht mit der Begründung als unbeachtlich angesehen werden, die [X.] setze lediglich "in unzulässiger Weise ihre abweichende Bewertung
an die Stelle derjenigen des Gerichtssachverständigen und des [X.]s". Das Berufungsgericht wird sich deshalb erneut mit der im Hinweisbeschluss auf S.
6
h) ausdrücklich wiedergegebenen Behauptung der Klägerin zu befassen haben, eine frühere Herzkatheteruntersuchung sei angesichts der Beschwerden ihres Ehemannes bereits deshalb zwingend notwendig gewesen, weil nach zehn Jahren mehr als 50
% der Bypässe verschlossen seien. Gleiches gilt für die Behauptung der Klägerin, wonach die Entlassung ihres Ehemannes aus dem von der Beklagten zu
1 betriebenen Krankenhaus im [X.] an die Herzkatheteruntersuchung am 4.
April 2008 im Hinblick auf die weitere Verord-nung des Medikamentes Spironolacton fehlerhaft gewesen sei, da aufgrund der Kombination der ihrem Ehemann verabreichten Medikamente Spironolacton und Atacand (AT
1-Blocker) die Gefahr des Auftretens einer Hyperkaliämie be-standen habe, welche zu Herzrhythmusstörungen führen könne und als [X.] in Betracht komme.

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-

Schließlich wird das Berufungsgericht zu beachten haben, dass das [X.] von einer ärztlichen Maßnahme -
anders als es jedenfalls das [X.] meint -
nicht erst dann [X.] ist, wenn die Maßnahme "zwingend" geboten war, sondern bereits dann, wenn ihr Unterbleiben dem im [X.]punkt der Behandlung bestehenden medizinischen Standard zuwiderlief (vgl. Senatsurteil vom 15. April 2014 -
VI [X.], [X.], 879 Rn. 11). Der Standard gibt Auskunft darüber, welches Verhalten von einem [X.] und aufmerksamen Arzt
in der konkreten Behandlungssituation aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs im [X.]punkt der Behandlung erwar-tet werden kann. Er repräsentiert den jeweiligen Stand der naturwissenschaftli-chen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrung, der zur
Erreichung des ärztli-chen [X.] erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat (vgl. Senatsurteile vom 22. September 1987 -
VI [X.], [X.]Z 102, 17, 24
f.; vom 15. April 2014 -
VI [X.], [X.], 879 Rn. 11).

Galke
[X.]
von Pentz

[X.]
Müller

Vorinstanzen:
[X.], Entscheidung vom 21.08.2014 -
4 [X.]/09 -

OLG [X.], Entscheidung vom 09.01.2015 -
11 [X.]/14 -

8

Meta

VI ZR 67/15

22.12.2015

Bundesgerichtshof VI. Zivilsenat

Sachgebiet: ZR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 22.12.2015, Az. VI ZR 67/15 (REWIS RS 2015, 170)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 170

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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VI ZR 67/15

VI ZR 382/12

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