Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 11.07.2012, Az. 10 AZR 287/11

10. Senat | REWIS RS 2012, 4815

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Psychiatriezulage - halbgeschlossene Station


Tenor

1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des [X.] vom 21. Februar 2011 - 12 Sa 1249/10 - wird zurückgewiesen. Der Tenor des angefochtenen Urteils wird wie folgt neu gefasst:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des [X.] vom 17. Juni 2010 - 3 Ca 663/09 - wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Beklagte verurteilt wird, an die Klägerin 828,36 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 19. Dezember 2009 sowie 276,12 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 9. Juni 2010 zu zahlen.

Auf die Berufung der Klägerin wird die Beklagte verurteilt, an die Klägerin weitere 322,14 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 19. Dezember 2009 zu zahlen.

Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über eine Zulage (Psychiatriezulage).

2

Die Klägerin ist für die Beklagte als [X.]ankenschwester tätig. Nach § 2 des Dienstvertrags gelten für das Dienstverhältnis die „Richtlinien für Arbeitsverträge in den Einrichtungen des [X.]“ ([X.]) in ihrer jeweils geltenden Fassung. Die Klägerin bezieht eine [X.]ergütung aus der [X.]ergütungsgruppe [X.] 5a.

3

Anmerkung [X.]I Nr. 1 (1) der Anlage 2a der [X.] (Anmerkungen zu den Tätigkeitsmerkmalen der [X.]ergütungsgruppen [X.] 1 bis [X.] 14) regelt Folgendes:

        

„(1) Pflegepersonen der [X.]ergütungsgruppen [X.] 1 bis [X.] 7, die die Grund- und Behandlungspflege zeitlich überwiegend bei

        

a) …   

        

b) [X.]anken in geschlossenen oder halbgeschlossenen (Open-door-system) psychiatrischen Abteilungen oder Stationen,

        

...     

        

ausüben, erhalten für die Dauer dieser Tätigkeit eine monatliche Zulage von 46,02 Euro.“

4

Die Klägerin arbeitet auf der allgemeinpsychiatrischen [X.] mit maximal 22 Betten. Nach richterlicher Anordnung einer geschlossenen Unterbringung eines Patienten wird die Station stunden-, tage- oder wochenlang vollständig und unabhängig davon geschlossen, ob mehrere Patienten oder nur ein Patient einem solchen Stationsgebot unterliegen. In den Schließzeiten übt das Pflegepersonal die Schlüsselgewalt über die Station aus. Patienten mit einer richterlichen Anordnung auf geschlossene Unterbringung können die Station nicht verlassen, den übrigen Patienten muss in dieser Zeit auf Bitten geöffnet werden. In den Monaten Mai 2008, August bis Dezember 2008 und November 2009 wurde keine Unterbringung richterlich angeordnet.

5

Die Klägerin begehrt Zahlung der Zulage für den Zeitraum November 2007 bis Mai 2010. Sie vertritt die Auffassung, die Station [X.] sei eine halbgeschlossene Station im Sinne der Anmerkung [X.]I Nr. 1 (1) Buchst. b der Anlage 2a zu den [X.].

6

Die Klägerin hat beantragt,

        

1.    

die Beklagte zu verurteilen, an sie 1.150,50 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

        

2.    

die Beklagte zu verurteilen, an sie weitere 276,12 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

7

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

8

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, soweit sie auf Zahlung der Zulage für Monate ohne Schließzeiten gerichtet ist, und ihr im Übrigen stattgegeben. Das [X.] hat der Klage in vollem Umfang entsprochen. Mit der zugelassenen Revision begehrt die Beklagte weiterhin Abweisung der Klage.

Entscheidungsgründe

9

Die Revision ist unbegründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zahlung der Zulage gemäß Anmerkung VI Nr. 1 (1) Buchst. b der Anlage 2a zu den [X.]. Sie ist Pflegeperson der Vergütungsgruppen [X.] 1 bis [X.] 7 und übt zeitlich überwiegend Grund- und Behandlungspflege an [X.]anken in einer halbgeschlossenen (Open-door-system) psychiatrischen Abteilung aus. Die Station V der Beklagten ist eine halbgeschlossene Station im Sinne der Vorschrift.

I. Der Senat hat zur wortgleichen Tarifnorm der Protokollerklärung Nr. 1 (1) Buchst. b der Anlage 1b zum [X.] die Auffassung vertreten, es sei im Hinblick auf die in der Station betreuten Patienten zu beurteilen, ob eine Station geschlossen oder halbgeschlossen sei. In beiden Fällen stehe die Schlüsselgewalt ausschließlich dem Pflegepersonal zu. Auf einer geschlossenen Station dürften die Patienten die Station grundsätzlich nicht verlassen, während auf einer halbgeschlossenen Station der einzelne Patient mit Zustimmung einer verantwortlichen Person die Station verlassen dürfe.Die von psychisch kranken Menschen ausgehende Gefahr für sie selbst, für andere Patienten und für das Pflegepersonal müsse es erforderlich machen, die Station in gewissem Umfange geschlossen zu halten, um so eine ständige Übersicht über den Aufenthalt der Patienten und die Anwesenheit von Personen zu haben, die durch die Patienten gefährdet werden können. Ausreichend sei, dass die Station sich nur für einen Teil der Patienten als geschlossene Station darstelle. Die Pflegezulage diene der Abgeltung der durch diese besonderen Gegebenheiten bedingten Erschwernisse der Arbeit ([X.] 14. Januar 2004 - 10 [X.] - zu II 2 a der Gründe, [X.] [X.] §§ 22, 23 Zulagen Nr. 39; 12. November 1997 - 10 [X.] - zu II 2 der Gründe, [X.] [X.] § 33 Nr. 15; 6. November 1996 - 10 [X.] - zu II 2 der Gründe, [X.] 1997, 129; 6. Dezember 1995 - 10 [X.] - zu II 2 a der Gründe, [X.] 1996, 219).

II. Daran hält der Senat fest. Davon ausgehend liegt eine halbgeschlossene Station (Open-door-system) im Sinne der Vorschrift auch dann vor, wenn die Station nach Konzeption und Praxis nicht ständig, sondern (aufgrund richterlicher oder ärztlicher Anordnung) nur zeitweise geschlossen ist.

1. Bereits der Wortlaut der Regelung, von dem bei der Auslegung von [X.] wie bei der Tarifauslegung zunächst auszugehen ist (zu den Grundsätzen der Auslegung von [X.]: [X.] 21. Oktober 2009 - 10 [X.] 786/08 - Rn. 28, [X.] [X.] Caritasverband Anlage 1 Nr. 5; 17. Juli 2008 - 6 [X.] 635/07 - Rn. 9, [X.] [X.] Caritasverband Anlage 1 Nr. 4), legt nahe, dass eine zeitweise aufgrund richterlicher (oder ärztlicher) Anordnung geschlossene Station „halbgeschlossen“ im Sinne der Vorschrift ist. Der erläuternde Klammerzusatz („Open-door-system“), der für eine offene stationäre Psychiatriebehandlung steht ([X.]Meyer/[X.] 2003, 20, 21), schließt eine Station, die grundsätzlich offen geführt, aber im Bedarfsfall jederzeit geschlossen werden kann, als teiloffene Station mit ein ([X.]Meyer/Hell aaO). Dem Adverb „halb“ kommt nach gängigem Sprachgebrauch auch die Bedeutung „teilweise“ zu ([X.] [X.] [X.] 3. Aufl. Stichwort „halb“).

2. Nach der Regelungssystematik der Vorschrift wird der Anspruch sowohl in einer geschlossenen wie in einer halbgeschlossenen Station in gleicher Höhe ausgelöst. Die Systematik der Vorschrift erfordert die Abgrenzung gegenüber einer offenen Station, in der ein Anspruch auf die Zulage nicht entstehen kann. Eine offene Station (Tagesklinik, psychiatrische Wohngruppen etc.) wird nach medizinischer Konzeption und praktischer Umsetzung nicht oder nur in Notfällen geschlossen (zB weil eine angeordnete Unterbringung in einer dafür vorgesehenen geschlossenen oder halbgeschlossenen Station nicht realisiert werden kann), sie ist aber nicht für die Behandlung von Patienten mit richterlichem oder ärztlichem [X.] ausgelegt. In einer offenen Station kann ein Anspruch auf die Zulage auch für gelegentliche Zeiten einer Schließung nicht entstehen, weil die Unterbringung von Patienten mit [X.] nach der Konzeption einer offenen Station nicht vorgesehen ist und tatsächlich auch nicht in nennenswertem Umfang vorkommt. Gibt dagegen die Behandlung von Patienten mit richterlichem oder ärztlichem [X.] einer Station nach Konzeption und praktischer Umsetzung das Gepräge, so ist sie „halbgeschlossen“ im Sinne der Vorschrift. Es ist nicht erforderlich, dass Schließzeiten zeitlich überwiegen, sie müssen aber die Arbeit auf der Station mit prägen. Eine rein rechnerische Betrachtung greift dabei zu kurz; es unterliegt tatrichterlicher Würdigung, ob nach Konzeption und praktischer Umsetzung im Einzelfall eine halbgeschlossene Abteilung oder Station vorliegt. Aus der gebotenen Abgrenzung zu einer offenen Station ergibt sich, dass geringfügige Schließzeiten den Anspruch auf die Zulage nicht begründen können (vgl. [X.] 6. November 1996 - 10 [X.] - zu II 2 der Gründe, [X.] 1997, 129).

3. Entgegen der Auffassung der Revision ist nicht erheblich, ob eine bestimmte Anzahl von Patienten oder nur ein Patient dem [X.] unterliegt. Auch ein einzelner Patient kann ein erhebliches Gefahrenpotenzial für sich, andere Patienten oder das Pflegepersonal darstellen. Das Pflegepersonal muss auch bei nur einem untergebrachten Patienten erhöhte Achtsamkeit walten lassen, um die ständige Übersicht über dessen Aufenthalt sowie den möglicherweise gefährdeter weiterer Personen zu behalten und in Konfliktfällen eingreifen zu können. Da mit der Zulage Erschwernisse ausgeglichen werden sollen, die mit typischerweise notwendigen Zwangsmaßnahmen zusammenhängen ([X.] 14. Januar 2004 - 10 [X.] - zu II 4 der Gründe, [X.] [X.] §§ 22, 23 Zulagen Nr. 39), ist [X.] Verständnis der Vorschrift auch nach Sinn und Zweck der Regelung geboten.

4. Diese Auslegung führt zu vernünftigen, sachgerechten und praktisch brauchbaren Lösungen. Die Anzahl der Patienten, die aufgrund richterlicher Anordnung untergebracht werden müssen, ist nicht vorhersehbar, ein solcher Fall kann aber nach der medizinischen Konzeption in einer halbgeschlossenen Station jederzeit eintreten. Das Pflegepersonal muss immer mit einer Unterbringung rechnen und hat darauf keinen Einfluss. Entgegen der Auffassung der Revision verliert eine halbgeschlossene Station deshalb bei zwischenzeitlicher Öffnung ihren Charakter nicht, wenn auf Dauer erhebliche Schließzeiten vorliegen bzw. zu erwarten sind; eine nach Monaten mit und ohne Schließzeiten differenzierende Betrachtung greift zu kurz.

III. Die tatrichterliche Würdigung des [X.], dass die psychiatrische Akutstation V der Beklagten halbgeschlossen im Sinne der Vorschrift ist, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Station ist nach dem für die Beklagte maßgeblichen § 15 Abs. 2 Satz 1 des [X.] über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch [X.]anke (NPsychKG) vom 16. Juni 1997 so ausgestattet, dass eine auf unterschiedliche Anforderungen abgestimmte Behandlung und Betreuung der untergebrachten Personen ermöglicht und deren Wiedereingliederung in die [X.] gefördert wird; die nach § 15 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 NPsychKG geforderten Voraussetzungen für eine geschlossene Unterbringung, insbesondere im Hinblick auf die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen, liegen vor. Nach den Feststellungen des [X.] war die Station im Streitzeitraum auch in nicht unerheblichem Umfang geschlossen.

IV. Die Höhe der Forderung steht zwischen den Parteien nicht im Streit. Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB. Die Klägerin hat [X.] geltend gemacht. [X.] sind in entsprechender Anwendung von § 187 Abs. 1 BGB erst ab dem Tag zu zahlen, der auf den Tag der Zustellung der Klage sowie einer Klageerweiterung folgt ([X.] 19. Dezember 2007 - 5 [X.] 1008/06 - Rn. 35, EzA BGB 2002 § 306 Nr. 3). Der Tenor des Berufungsurteils war wegen der Zinsentscheidung und der unterbliebenen Zurückweisung der Berufung der Beklagten klarstellend neu zu fassen.

V. Die Beklagte hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten der Revision zu tragen.

        

    Mikosch    

        

    Schmitz-Scholemann    

        

    Mikosch    

        

        

        

    Rigo Züfle    

        

    A. Effenberger    

                 

Meta

10 AZR 287/11

11.07.2012

Bundesarbeitsgericht 10. Senat

Urteil

Sachgebiet: AZR

vorgehend ArbG Nienburg, 17. Juni 2010, Az: 3 Ca 663/09, Urteil

Anl 2a Anm VI Nr 1 DCVArbVtrRL

Zitier­vorschlag: Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 11.07.2012, Az. 10 AZR 287/11 (REWIS RS 2012, 4815)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 4815

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

12 Sa 1071/02 (Landesarbeitsgericht Düsseldorf)


10 AZR 1035/08 (Bundesarbeitsgericht)

Anspruch einer Arzthelferin in der Funktionsdiagnostik auf Zahlung der Zulage nach § 43 Nr 8 …


6 AZR 768/14 (Bundesarbeitsgericht)

Geriatriezulage bei ambulanter Pflege


10 AZR 387/17 (Bundesarbeitsgericht)

Tarifvertragliche Pflegezulage ("Geriatriezulage") - Altenpflegeheim


7 Sa 80/17 (Landesarbeitsgericht Düsseldorf)


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.