Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 21.09.2017, Az. I ZB 125/16

I. Zivilsenat | REWIS RS 2017, 4928

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[X.]:[X.]:[X.]:2017:210917BIZB125.16.0

BUN[X.]SGERICHTSHOF

BESCHLUSS
I ZB 125/16

vom

21. September
2017
in dem Zwangsvollstreckungsverfahren

-
2
-
Der [X.]
Zivilsenat des [X.] hat am
21.
September
2017
durch [X.] Dr.
Büscher, die Richter Prof. Dr.
Schaffert, [X.], Prof. Dr. Koch
und Feddersen

beschlossen:

Auf die Rechtsbeschwerde der Gläubigerin
wird der
Beschluss der Zivilkammer 51 des [X.] vom 5.
Dezember 2016 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Beschwerdegericht zurückverwie-sen.
Gründe:
[X.] Die Gläubigerin betreibt gegen die Schuldnerin die Vollstreckung aus einem
Versäumnisurteil des [X.] vom 28.
Januar 2014, mit dem die Schuldnerin verurteilt
worden ist, die von ihr genutzte Wohnung [X.] an die Gläubigerin herauszugeben. Das Amtsgericht hat
der Schuldnerin mehrfach befristet [X.] bis zuletzt zum 27. November 2015 ge-währt. Das Betreuungsgericht hat für die Schuldnerin durch Beschluss vom 9.
November 2015 einen Betreuer für die [X.] der Aufenthaltsbe-stimmung und der Gesundheitssorge bestellt. Der Gerichtsvollzieher hat den Räumungstermin auf den 20. April 2016 festgesetzt.
Die Schuldnerin hat erneut [X.] für die Dauer von [X.] sechs Monaten beantragt. Sie hat geltend gemacht, sie sei im Falle einer 1
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Räumung aufgrund einer schweren irreversiblen chronifizierten psychischen Erkrankung akut suizidgefährdet. Die Gläubigerin ist dem entgegengetreten.
Das Amtsgericht
hat den Antrag
zurückgewiesen. Auf die sofortige Be-schwerde der Schuldnerin hat das Beschwerdegericht die Zwangsvollstreckung bis zum 31. Dezember 2019 eingestellt.
Dagegen
richtet sich die vom Beschwerdegericht zugelassene Rechts-beschwerde der Gläubigerin, mit der sie ihren Antrag auf Zurückweisung des [X.] weiterverfolgt.
I[X.] Die gemäß §
574 Abs.
1 Satz
1 Nr.
2, Abs. 3 Satz 2
ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde hat
in der Sache Erfolg.
1. Nach § 765a Abs. 1 Satz 1 ZPO kann das Vollstreckungsgericht eine Maßnahme der Zwangsvollstreckung auf Antrag des Schuldners ganz oder teilweise aufheben, untersagen oder einstweilen einstellen, wenn die [X.] unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses
des Gläubigers wegen ganz besonderer Umstände eine Härte bedeutet, die mit den guten Sitten nicht ver-einbar ist.
2. Die Vorschrift des § 765a ZPO ermöglicht den Schutz gegen [X.], die wegen ganz besonderer Umstände eine Härte für den Schuldner bedeuten, die mit den guten Sitten unvereinbar ist. Die Anwendung von § 765a ZPO kommt nur in Betracht, wenn im Einzelfall die Zwangsvoll-streckungsmaßnahme nach Abwägung der beiderseitigen Belange zu einem untragbaren Ergebnis für den Schuldner führen würde ([X.], Beschluss vom 14.
Januar 2010 -
I
ZB
34/09, [X.], 250 Rn.
7 mwN; Beschluss vom 20.
Januar 2011 -
I ZB 27/10, NJW-RR 2011, 300 Rn.
6).
Ist mit einer Zwangsvollstreckungsmaßnahme eine konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit des Schuldners verbunden, kann dies die Untersagung 3
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-
oder einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 765a ZPO [X.]. Dabei ist aber stets eine Abwägung der Interessen des Schuldners mit den Vollstreckungsinteressen des Gläubigers vorzunehmen. Der Schuldner kann sich auf sein Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) berufen. Der Gläubiger kann geltend machen, dass seine
Grundrechte
auf Schutz des
Eigentums (Art.
14 Abs.
1 GG) und effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) beeinträchtigt
werden, wenn sein Räumungs-titel nicht durchsetzbar ist. Ferner ist zu berücksichtigen, dass dem Gläubiger keine Aufgaben überbürdet werden
dürfen, die nach dem Sozialst[X.]tsprinzip dem St[X.]t und damit der Allgemeinheit obliegen.
Es ist deshalb auch dann, wenn bei einer Räumungsvollstreckung eine konkrete Lebensgefahr für einen Betroffenen besteht, sorgfältig zu prüfen, ob dieser Gefahr nicht auf andere Weise als durch Einstellung der Zwangsvollstreckung wirksam begegnet wer-den kann
(st. Rspr.; vgl. [X.], Beschluss vom 4. Mai 2005 -
I [X.], [X.]Z 163, 66, 73 f.; Beschluss vom 22. November 2007 -
I [X.], [X.], 1000 Rn.
8
f.; Beschluss vom 13. März 2008 -
I [X.], [X.], 1742 Rn.
9; [X.], [X.], 250
Rn.
8; [X.], Beschluss vom 15.
Juli 2010

V
ZB
1/10, NJW-RR 2010, 1649 Rn.
10; [X.], NJW-RR 2011, 300 Rn.
6; [X.], Beschluss vom 12.
November 2014 -
I
ZB
99/14, NJW-RR 2015, 393 Rn.
7; Beschluss vom 21. Januar 2016 -
I [X.], NJW-RR 2016, 583 Rn.
17; Beschluss vom 28. Januar 2016 -
V [X.], NJW-RR 2016, 336 Rn.
6).
Dabei kann
vom Schuldner erwartet werden, dass er alles ihm Mögliche und Zumutbare unternimmt, um Gefahren für Leben und Gesundheit möglichst auszuschließen (vgl. [X.],
[X.], 1000 Rn.
9; [X.], 1742 Rn.
9; [X.], 250 Rn.
8; NJW-RR 2011, 300 Rn.
6; NJW-RR 2016, 583 Rn.
17). Insbesondere ist es ihm, soweit er dazu in der Lage ist, zuzumuten, fachliche Hilfe -
erforderlichenfalls
auch durch einen stationären Aufenthalt in einer Klinik -
in Anspruch zu nehmen, um die Selbsttötungsgefahr auszuschließen oder zu verringern
(vgl. [X.]Z 163, 66, 74; [X.], NJW-RR 2010, 1649 Rn.
11).
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-
5
-
Andere mögliche Maßnahmen betreffen die Art und Weise, wie die Zwangsvollstreckung durchgeführt wird, die Ingewahrsamnahme des suizidge-fährdeten Schuldners nach polizeirechtlichen Vorschriften
oder seine Unterbrin-gung nach den einschlägigen Landesgesetzen
sowie die betreuungsrechtliche Unterbringung (§ 1906 BGB). Kann der Gefahr eines Suizids des Schuldners auf diese Weise entgegengewirkt werden, scheidet eine
Einstellung der Zwangsvollstreckung aus. Der Verweis auf die für den Lebensschutz primär zuständigen Behörden und Gerichte ist verfassungsrechtlich allerdings nur trag-fähig, wenn diese entweder Maßnahmen zum Schutz des Lebens des Schuld-ners getroffen oder eine erhebliche Suizidgefahr gerade für das diese Gefahr auslösende Moment (die Rechtskraft des [X.] oder -
hier -
die Räumung) nach sorgfältiger Prüfung abschließend verneint haben
([X.], NJW-RR 2010, 1649 Rn.
11; NJW-RR 2015, 393 Rn.
8; NJW-RR 2016, 336 Rn.
7, jeweils mwN).
Im Hinblick auf eine mögliche Unterbringung ist nach dem auch im Zwangsvollstreckungsverfahren zu beachtenden Grundsatz der [X.] zu prüfen, ob deren Dauer außer Verhältnis steht zu dem damit verfolg-ten Zweck der Fortführung des [X.]. Steht fest oder
ist aller Voraussicht nach davon auszugehen, dass die Anordnung der Un-terbringung zu einer bloßen Verwahrung auf Dauer führte, ist eine Freiheitsent-ziehung zur Ermöglichung der Zwangsvollstreckung unverhältnismäßig und das Verfahren einzustellen. Gleiches gilt, wenn der Gefahr der Selbsttötung nur durch eine außer Verhältnis stehende jahrelange Unterbringung ohne erkenn-baren therapeutischen Nutzen begegnet werden kann. Anders verhält es sich, wenn die Aussicht besteht, dass die Freiheitsentziehung innerhalb eines über-schaubaren [X.]raums zu einer Stabilisierung des [X.] führen und durch therapeutische Maßnahmen während der Unterbringung die Grundlage für ein Leben in Freiheit ohne konkrete Suizidgefährdung gelegt werden kann 10
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(vgl. [X.], NJW-RR 2010, 1649 Rn.
14; NJW-RR 2016, 336 Rn.
8, jeweils
mwN).

Kann die beim Schuldner bestehende Gefahr eines Suizids zum [X.]-punkt der Entscheidung des Vollstreckungsgerichts weder durch
seine Unter-bringung noch durch andere Maßnahmen beseitigt werden, kommt grundsätz-lich allein
eine befristete Einstellung des [X.] in Betracht. Das Interesse des Gläubigers an der Fortsetzung des Verfahrens ver-bietet regelmäßig eine dauerhafte Einstellung, weil die st[X.]tliche Aufgabe, das Leben des Schuldners zu schützen, nicht auf unbegrenzte [X.] durch ein Voll-streckungsverbot gelöst werden kann
(vgl. [X.], [X.], 250 Rn.
10
f.;
NJW-RR 2015, 393 Rn.
9, jeweils mwN).
Nur in besonders gelagerten Einzelfällen kann eine unter
Beachtung der Wertentscheidungen des Grundgesetzes und der dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte vorgenommene Würdigung aller Umstände dazu
führen, dass die Zwangsvollstreckung für einen längeren [X.]raum und -
in absoluten Ausnahmefällen -
auf unbestimmte [X.] einzustellen ist ([X.], NJW-RR 2014, 1290 Rn.
11; NJW-RR 2015, 393 Rn.
9; NJW 2016, 3090 Rn.
11, jeweils mwN; [X.], [X.], 1000 Rn.
9). Auch bei erheblichen Gefahren für Leben und Gesundheit wird regelmäßig die Einstellung der Voll-streckung für einen längeren [X.]raum ausreichen, weil solche Gefahren meist mit zunehmendem [X.]ablauf ausgeräumt werden können. Nur wenn die fragli-chen Umstände ihrer Natur nach keiner Änderung zum Besseren zugänglich
sind, kann die Gewährung von Vollstreckungsschutz auf Dauer geboten sein ([X.], NJW 2016, 3090 Rn.
17 mwN). Das kann etwa der Fall sein, wenn eine Verringerung der Suizidgefahr auch unter Berücksichtigung einer etwaigen Mitwirkung des Schuldners und st[X.]tlicher Stellen in Zukunft ausgeschlossen erscheint ([X.],
NJW-RR 2016, 583 Rn.
17).
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Eine befristete Einstellung der Zwangsvollstreckung ist regelmäßig mit Auflagen zu versehen, die das Ziel haben, die Gesundheit des Schuldners wie-derherzustellen. Das gilt auch, wenn die Aussichten auf eine Besserung des Gesundheitszustands des Schuldners gering sind. Im Interesse des Gläubigers ist es dem Schuldner grundsätzlich zuzumuten, auf eine
Verbesserung seines Gesundheitszustands hinzuwirken und den Stand seiner Behandlung dem [X.] nachzuweisen (vgl. [X.], [X.], 250 Rn.
10 f.
mwN).
Nur in absoluten Ausnahmefällen kann die befristete Einstellung des Verfahrens ohne derartige Auflagen erfolgen ([X.], NJW-RR 2015, 393 Rn.
9). So haben Auflagen zu unterbleiben, wenn sie keine -
auch keine noch so geringe -
Aus-sicht auf Erfolg haben ([X.], NJW-RR 2015, 393 Rn.
13).
3. Das Beschwerdegericht hat angenommen, nach diesen Grundsätzen sei unter Zugrundelegung des von ihm eingeholten Gutachtens und der
ergän-zenden Stellungnahme der Sachverständigen sowie von
Stellungnahmen des [X.] davon auszugehen, dass die Räumung für die suizidgefährdete Schuldnerin auch unter Würdigung der Gläubigerinteressen eine sittenwidrige Härte im Sinne von § 765a ZPO darstelle, der nicht anders als durch die Gewährung von [X.] über einen längeren [X.]raum begegnet werden könne. Die Rechtsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das Be-schwerdegericht die Voraussetzungen für eine weitere Einstellung der Zwangs-vollstreckung über einen [X.]raum von mehr als drei Jahren bis zum 31. [X.] nicht rechtsfehlerfrei festgestellt hat.
a) Das Beschwerdegericht ist allerdings ohne Rechtsfehler davon aus-gegangen, dass im Falle der Räumungsvollstreckung eine konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit der Schuldnerin besteht.
[X.]) Das Beschwerdegericht hat
aufgrund der Ausführungen der Sach-verständigen angenommen, im Falle einer Räumung müsse mit suizidalen Handlungen der Schuldnerin gerechnet werden. Diese
leide an einer schweren 14
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chronifizierten Zwangsstörung, die sich nach einer politisch motivierten Inhaftie-rung in der ehemaligen [X.] entwickelt habe. Sie
lebe
seit ihrer
Übersiedlung aus der [X.] in der zu räumenden Wohnung, die ihre einzige Existenzgrundla-ge
bilde und deren Verlust einer Entwurzelung gleichkäme. Sie würde dem [X.] in einer anderen Wohnung den Tod in seiner abstrakten Form vorziehen, weil es ihr gänzlich ausgeschlossen erscheine, ihre
Zwangshandlungen
in an-deren Räumen
auszuführen.
bb) Die Rechtsbeschwerde rügt
vergeblich, das Beschwerdegericht habe Ausführungen der Sachverständigen nicht zur Kenntnis genommen, aus denen deutlich werde, dass diese
für den Fall einer Zwangsräumung keine akut dro-hende Suizidgefahr gesehen habe, oder die jedenfalls gegen deren Annahme
sprächen, dass im Falle einer Räumung der Wohnung mit suizidalen Handlun-gen gerechnet werden müsse.
(1) Das Beschwerdegericht hat entgegen der Darstellung der
Rechtsbe-schwerde die Ausführungen der Sachverständigen berücksichtigt, bei Zwangserkrankungen
seien
impulshafte suizidale Handlungen weniger zu er-warten. Es ist allerdings aufgrund der weiteren Ausführungen der [X.] davon ausgegangen, bei der Schuldnerin sei die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer suizidalen Handlung komme, wegen der psychischen Traumatisie-rung in der Haft und der
dadurch bestehenden
Persönlichkeitsveränderung hö-her zu bewerten. Diese Beurteilung lässt keinen Rechtsfehler erkennen.
(2) Die Rechtsbeschwerde rügt ohne Erfolg, das Beschwerdegericht ha-be die Ausführungen im Gutachten der Sachverständigen nicht ausreichend berücksichtigt, wonach aktuell kein Anhalt für eine
akute oder latente Suizidge-fahr der Schuldnerin bestehe
und diese
Fragen zur Planung und Durchführung eines Suizids im Falle einer Räumung nicht beantwortet habe. Der Umstand, dass zum [X.]punkt der Begutachtung keine Suizidgefahr und keine Anhalts-punkte für die Planung eines Suizids für den Fall einer Räumung
bestanden, 18
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spricht nicht gegen die Annahme der Sachverständigen, dass im Falle einer Räumung der Wohnung mit (impulshaften) suizidalen Handlungen der Schuld-nerin gerechnet werden muss.
b) Die vom Beschwerdegericht getroffenen Feststellungen rechtfertigen jedoch nicht seine Annahme, einem Suizid der Schuldnerin könne allein durch eine Einstellung der Räumungsvollstreckung begegnet werden.
[X.]) Das Beschwerdegericht hat angenommen, eine Unterbringung in [X.] psychiatrischen Klinik könne die Suizidgefahr nicht wirksam verhindern. Sowohl die Sachverständige als auch der Sozialpsychiatrische Dienst gingen davon aus, dass die Suizidgefahr nicht erst mit der konkreten Räumung eintre-te, sondern eine vulnerable Phase vor und nach der Räumung bestehe, die Ta-ge
bis Wochen betragen könne. In dieser [X.] müsste die Schuldnerin immer wieder untersucht werden. Dies könne nach Auskunft des [X.] jedoch nicht gewährleistet werden. Das [X.] bei psychischen Krankheiten (PsychKG) lasse eine vorsorgliche Einweisung nicht zu,
und eine Kontaktaufnahme zur Schuldnerin sei aufgrund der Erkrankung überwiegend unmöglich. Eine vorsorgliche Unter-bringung über das Betreuungsrecht sei ausgeschlossen. Nach der ergänzenden Stellungnahme der Sachverständigen könne eine Unterbringung über einen längeren [X.]raum aufgrund der Überwachung das Suizidrisiko zwar verringern, aber nicht ausschließen. Eine weitere medikamentöse Behandlung sei nicht möglich. Eine Verhaltenstherapie setze den Wunsch der Schuldnerin nach Ver-änderung voraus, der jedoch krankheitsbedingt fehle. Im Übrigen sei der [X.]-raum einer Unterbringung schwer abzuschätzen. Eine vorsorgliche Unterbrin-gung brächte zudem die große Gefahr einer Retraumatisierung mit sich, die eine weitere Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustandes wahr-scheinlich machte.
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bb) Mit dieser Begründung kann die Möglichkeit einer betreuungsrechtli-chen Unterbringung nach § 1906 Abs.
1 Nr. 1 BGB nicht ausgeschlossen wer-den. Nach dieser Vorschrift ist eine Unterbringung des Betreuten durch den [X.], die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, (nur) zulässig, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Ge-fahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Scha-den zufügt. Eine solche Unterbringung setzt im Gegensatz zu einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung keine akute, unmittelbar bevorstehende Gefahr für den Betreuten voraus. Notwendig ist vielmehr nur eine ernstliche und konkrete Gefahr für Leib und Leben, wobei die Anforderungen an die Voraussehbarkeit einer Selbsttötung oder einer erheblichen Eigenschädigung nicht überspannt werden dürfen (vgl. [X.], NJW-RR 2016, 336 Rn. 15). Die Rechtsbeschwerde macht zutreffend geltend, dass nach den vom Beschwerdegericht getroffenen Feststellungen nicht angenommen werden kann, dass diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind.
(1) Die vom Beschwerdegericht gegebene Begründung lässt nicht erken-nen, weshalb einer bereits vor der Räumung infolge deren
Ankündigung beste-henden Gefahr für Leib oder Leben der Schuldnerin nicht durch eine betreu-ungsrechtliche Unterbringung begegnet werden kann. Das [X.] hat als Betreuungsgericht durch Beschluss vom 9. November 2015 den Aufgabenkreis des für die Schuldnerin bestellten Betreuers, der die Vertretung vor Behörden, Sozialleistungsträgern und Gerichten sowie Wohnungsangele-genheiten umfasste, um die Gesundheitssorge und Aufenthaltsbestimmung er-weitert. Zur Begründung hat es ausgeführt, im Hinblick auf das ärztliche [X.] des [X.] vom 30. September 2015 sei davon auszugehen, dass im Falle der Ankündigung einer Räumung bereits in deren
Vorfeld eine Suizidgefahr und somit Handlungsbedarf bestehe. Der [X.] hatte in seinem ärztlichen Zeugnis ausgeführt, es sei damit 23
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zu rechnen, dass die Betroffene nicht nur während der Räumung, sondern be-reits einige Tage oder wenige Wochen vor und nach der Räumung, wenn ihr klar sei, welche Auswirkungen diese auf sie habe, in einen depressiven und suizidalen Zustand fallen werde. Da auch diese [X.] vor und nach der Räumung vulnerabel sei, dann jedoch niemand anwesend sei, der eine
Gefährdung mel-den könne, so dass das Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychi-schen Krankheiten nicht greifen könne, sei eine Erweiterung der Betreuung auf die Wirkkreise der Aufenthaltsbestimmung und der Gesundheitssorge unab-dingbar. Der Betreuer
hat in seinem Übernahmebericht vom 9. November 2015 erklärt, sofern sich die Lage im Falle einer konkret bevorstehenden Räumung als selbstgefährdend darstellen sollte, werde er unverzüglich in Absprache mit dem [X.] einen Unterbringungsantrag stellen. Im vor-liegenden Verfahren hat das Amtsgericht den Antrag der Schuldnerin auf Ge-währung von [X.] im Hinblick auf die danach bestehende Möglich-keit
zurückgewiesen, der bei einer Räumungsvollstreckung konkret bestehen-den Suizidgefahr durch eine Unterbringung der Schuldnerin zu begegnen. Es hat angenommen, soweit im Falle der Ankündigung der Räumung bereits in deren Vorfeld eine Suizidgefahr bestehe, werde der Betreuer umgehend einen Antrag auf Unterbringung nach den Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetz-buchs stellen.
(2) Eine betreuungsrechtliche Unterbringung ist zwar ausgeschlossen, wenn ihre Dauer außer Verhältnis zu dem damit verfolgten Zweck der Fortfüh-rung des [X.] stünde. Die Feststellungen des Be-rufungsgerichts, der [X.]raum der Unterbringung sei schwer abzuschätzen und eine Unterbringung bringe die große Gefahr einer Retraumatisierung mit sich, rechtfertigen jedoch nicht die Annahme, dass die Anordnung der Unterbringung zu einer bloßen Verwahrung auf Dauer führte oder der Gefahr der Selbsttötung nur durch eine außer Verhältnis stehende jahrelange Unterbringung ohne er-kennbaren therapeutischen Nutzen begegnet werden könnte. Insbesondere 25
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steht nicht fest, dass eine Unterbringung keinen therapeutischen Nutzen hätte. Nach den Feststellungen des [X.] kann eine Unterbringung das Suizidrisiko verringern. Die Rechtsbeschwerde macht ferner zutreffend geltend, das Beschwerdegericht habe die Ausführungen der Sachverständigen nicht hinreichend berücksichtigt, eine frühere psychiatrische Therapie im Jahr
2014 habe dazu geführt, dass nach der Entlassung der Schuldnerin keine Gefähr-dungsmomente mehr bestanden
haben. Es erscheint daher nicht ausgeschlos-sen, dass während einer Unterbringung die Grundlage dafür gelegt werden kann, dass die Schuldnerin nach ihrer Entlassung nicht mehr suizidgefährdet ist.
II[X.] Danach ist der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen, da sie nicht zur Endentschei-dung reif ist (§ 577 Abs. 4 Satz 1
und Abs. 5 Satz
1 ZPO). Für das weitere Ver-fahren weist der Senat auf Folgendes hin:
1. Das Beschwerdegericht wird die fehlenden tatsächlichen Feststellun-gen zu der Frage nachzuholen haben, ob der im Falle der [X.] Gefahr eines Suizids der Schuldnerin durch eine betreuungsrechtliche Un-terbringung begegnet werden kann.
2. Gelangt das Beschwerdegericht bei der abschließenden, am Grund-satz der Verhältnismäßigkeit orientierten Würdigung der Gesamtumstände zu dem Ergebnis, dass eine zeitweise Unterbringung der Schuldnerin
geboten ist, muss es sicherstellen, dass die für den Lebensschutz zuständigen Stellen sol-che Maßnahmen rechtzeitig ergreifen. Dabei sollte es darauf hinweisen, dass der Lebensschutz nicht dauerhaft auf Kosten der Gläubigerin gewährleistet werden kann und sich eine Unterbringung daher nicht schon deshalb als [X.] erweist, weil die Zwangsvollstreckung weiter eingestellt werden könnte
(vgl. [X.], NJW-RR 2016, 336 Rn. 19).
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3. Für den Fall, dass das Beschwerdegericht eine Einstellung der Zwangsvollstreckung für geboten hält, wird darauf hingewiesen, dass die
bis-lang getroffenen Feststellungen es nicht rechtfertigen, die Räumungsvollstre-ckung für drei Jahre ohne Auflagen einzustellen.
a) Nach den Feststellungen des [X.] ist eine Besserung des Gesundheitszustands der Schuldnerin nicht gänzlich auszuschließen. Das Beschwerdegericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass daher nur eine [X.] Einstellung der Zwangsvollstreckung
in Betracht kommt
(vgl. Rn. 12 f.).
b) Das Beschwerdegericht hat weiter angenommen, der Schuldnerin könnten keine Auflagen gemacht werden, weil eine Therapie nicht möglich sei. Bei der Schuldnerin bestehe krankheitsbedingt kein Wunsch nach Verände-rung. Sie habe ihr Zwangssystem als Hilfskonstruktion erfunden. Eine Hilfe in Form einer Therapie würde ihr diese Sicherheit rauben.
Diese Beurteilung hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Die Annahme
des Beschwerdege-richts,
eine Therapie der Schuldnerin sei nicht möglich, steht in
Widerspruch
sowohl
zu
seiner Feststellung, eine Unterbringung könne das Suizidrisiko ver-ringern, als auch zu den vom ihm
nicht hinreichend berücksichtigten Ausfüh-rungen der Sachverständigen, wonach eine frühere Therapie der Schuldnerin erfolgreich war (vgl. Rn.
25). Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass eine Therapie der Schuldnerin keine -
auch noch so geringe
-
Aussicht auf Erfolg hat, und die befristete Einstellung der Zwangsvollstreckung daher nicht mit entsprechenden Auflagen zu versehen ist (vgl. Rn. 14).
c) Das Beschwerdegericht hat den [X.] auf drei Jahre be-fristet. Dabei ist es ersichtlich davon ausgegangen, dass eine frühere [X.] des Gesundheitszustands der Schuldnerin nicht geboten ist, weil dessen Besserung wenig wahrscheinlich
ist. Diese Beurteilung hält einer rechtlichen Nachprüfung schon deshalb nicht stand, weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass die befristete Einstellung der Zwangsvollstreckung nicht mit Aufla-29
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31
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14
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gen
zu versehen ist, die das Ziel haben, die Gesundheit der Schuldnerin wie-derherzustellen (vgl. Rn. 31). Für den Fall, dass die
Schuldnerin solche Aufla-gen zu erfüllen hat, kann es geboten sein, ihren Gesundheitszustand bereits zu einem früheren [X.]punkt zu
überprüfen. Darüber hinaus ist nicht zu erkennen, dass das Beschwerdegericht die Interessen der Gläubigerin ausreichend be-rücksichtigt
hat. Das Beschwerdegericht hat zwar in anderem Zusammenhang

-
15
-

zutreffend angenommen, im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung sei auf Seiten der Gläubigerin zu berücksichtigen, dass
ihr fortlaufend Schäden in Form von Mietminderungen
durch andere Mieter des Hauses entstünden, weil umliegende Wohnungen infolge
von der Schuldnerin verhinderter Modernisie-rungsarbeiten nicht beheizbar seien. Das Beschwerdegericht muss
diesen [X.] allerdings auch bei seiner Entscheidung über die Dauer der Einstellung der Zwangsvollstreckung berücksichtigen.
Büscher
Schaffert
Kirchhoff

Koch
Feddersen
Vorinstanzen:
[X.], Entscheidung vom 12.04.2016 -
35 M 8031/16 -

LG [X.], Entscheidung vom 05.12.2016 -
51[X.] -

Meta

I ZB 125/16

21.09.2017

Bundesgerichtshof I. Zivilsenat

Sachgebiet: ZB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 21.09.2017, Az. I ZB 125/16 (REWIS RS 2017, 4928)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 4928

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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14 T 16334/18 (LG München I)

Antrag auf die dauerhafte Einstellung von Zwangsvollstreckung bzw. Zwangsräumung


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I ZB 125/16

I ZB 27/10

I ZB 12/15

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