Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 21.01.2016, Az. I ZB 12/15

I. Zivilsenat | REWIS RS 2016, 17371

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[X.]:[X.]:[X.]:2016:210116BIZB12.15.0

BUN[X.]SGERICHTSHOF

BESCHLUSS
I
ZB
12/15
vom

21. Januar 2016

in dem Zwangsvollstreckungsverfahren

Nachschlagewerk:
ja
[X.]Z:
nein
[X.]R:
ja
[X.] Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 14 Abs. 1 Ba, Art. 19 Abs. 4; ZPO §§ 141, 375 Abs. 1a, §§ 451, 765a
a)
Im Verfahren auf Vollstreckungsschutz nach §
765a ZPO kann die Anhörung einer Partei in entsprechender Anwendung der §§
375, 451 ZPO durch einen beauftragten oder ersuchten [X.] erfolgen. Dies kommt nicht in Betracht, wenn Gesichtspunkte eine Rolle spielen, die nur aufgrund eines unmittelba-ren Eindrucks von der Anhörung zutreffend beurteilt werden können.
b)
Ein absoluter Ausnahmefall, in dem eine Räumungsvollstreckung wegen ei-ner beim Schuldner bestehenden Gesundheitsoder Suizidgefahr auf [X.] eingestellt wird, wird grundsätzlich nur vorliegen, wenn eine Ver-ringerung des [X.] oder der Suizidgefahr auch unter Berück-sichtigung einer etwaigen Mitwirkung des Schuldners und staatlicher Stellen in Zukunft ausgeschlossen erscheint.
[X.], Beschluss vom 21. Januar 2016 -
I [X.] -
[X.]

[X.]

-
2
-
Der I.
Zivilsenat des [X.] hat am 21.
Januar 2016 durch den Vorsitzenden [X.] Prof. Dr. Büscher,
die [X.] Prof. Dr.
Schaffert, Dr.
Kirchhoff, Dr.
Löffler und die [X.]in Dr.
Schwonke

beschlossen:

Auf die Rechtsbeschwerde der Gläubigerin wird der Beschluss der 23.
Zivilkammer des [X.] vom 30.
Januar 2015 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an
das Beschwerdegericht zurückverwiesen.
Der Wert der Rechtsbeschwerde wird auf 20.000

Gründe:
I.
Das Amtsgericht hat der Gläubigerin, einer GmbH,
mit Beschluss vom 18.
Januar 2013 den Zuschlag hinsichtlich des im Wege der Zwangsversteige-rung verwerteten Hausanwesens K.

29 in H.
erteilt. Zugleich hat es
in
dem Beschluss den Antrag auf Versagung des Zuschlags gemäß §
765a ZPO zurückgewiesen, den die
am 9.
Oktober 1920 geborene Schuldnerin
ge-stellt hatte, die seit der Errichtung eines Einfamilienhauses auf diesem Anwe-sen im Jahr 1958 dort wohnt. Die von der Schuldnerin dagegen eingelegte [X.] Beschwerde ist ohne Erfolg geblieben.
Einen von der Schuldnerin am 22.
April 2013 gestellten ersten Antrag auf [X.] gemäß §
765a Abs.
3 ZPO hat das Amtsgericht mit Be-1
2
-
3
-
schluss vom 16.
Mai 2013 zurückgewiesen. Auf die sofortige Beschwerde der Schuldnerin hat das [X.] mit
Beschluss vom 5.
Juni 2013 die Zwangs-vollstreckung aus dem Zuschlagsbeschluss einstweilen bis zum 5.
Juli 2013 eingestellt. Nachfolgend hat das [X.] mit Beschluss vom 26.
Juli 2013 die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung bis zum 18.
August 2013 verlängert und mit Beschluss vom 15.
August 2013 die Zwangsvollstreckung aus dem Zuschlagsbeschluss des Amtsgerichts bis zum 31.
Januar 2014 ein-gestellt.
Mit Beschluss vom 29.
April 2014 hat das Amtsgericht die [X.] aus dem Zuschlagsbeschluss vom 18.
Januar 2013 für die Dauer von weiteren 18
Monaten ab Rechtskraft dieses Beschlusses eingestellt. Zugleich hat es der Schuldnerin aufgegeben, an die Gläubigerin eine monatliche [X.] in Höhe von 825

zu leisten, bei deren nicht oder nicht regelmäßiger Zahlung das Verfahren auf Antrag der Gläubigerin fortgesetzt und ein Räumungstermin bestimmt werden sollte. Auf die sofortige Beschwerde der Gläubigerin hat das [X.] diese Entscheidung mit Beschluss vom 30.
Juni 2014 dahingehend abgeändert, dass die Zwangsvollstreckung aus dem Zuschlagsbeschluss des Amtsgerichts nur bis zum 30.
November 2014 weiter einstweilen eingestellt blieb.
Den vom Betreuer der Schuldnerin mit Schreiben vom 20.
Oktober 2014 gestellten Antrag auf weiteren [X.] ab dem 1.
Dezember 2014 hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 7.
November 2014 zurückgewiesen. In der Beschwerdeinstanz hat das [X.] am
5.
Dezember 2014 das Verfahren auf die Kammer übertragen und die Einholung eines schriftlichen Sachverstän-digengutachtens angeordnet, das die damit beauftragte Fachärztin für Psychia-trie
Dr.
M.

am
20.
Dezember 2014 erstattet hat. Nach persönlicher Anhörung
der Schuldnerin durch die Berichterstatterin der [X.] am 13.
Januar 2015 hat die Kammer die Zwangsvollstreckung aus dem Zuschlags-3
4
-
4
-
beschluss des Amtsgerichts vom 18.
Januar 2013 auf unbestimmte Zeit [X.] und der Schuldnerin aufgegeben, der Gläubigerin eine monatliche [X.] in Höhe von 362,85

zu zahlen ([X.], Beschluss vom 30.
Januar 2015 -
23
T
851/14, juris).
Hiergegen richtet sich die zugelassene Rechtsbeschwerde der Gläubige-rin, deren Zurückweisung die Schuldnerin beantragt.
[X.] Nach Ansicht des [X.] liegen die Voraussetzungen für eine weitere Einstellung der Räumungsvollstreckung nach §
765a Abs.
1 Satz
1 ZPO vor. Dazu hat es ausgeführt:
Die zwangsweise Räumung des von der Schuldnerin bewohnten Hauses bedeute auch unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses der Gläubigerin wegen ganz besonderer Umstände eine mit den guten Sitten unvereinbare Här-te. Unter diesen Umständen müssten die Rechte und Interessen der Gläubige-rin als Grundstückseigentümerin aus Art.
14 [X.] ausnahmsweise gegenüber dem Grundrecht der Schuldnerin auf Leben aus Art.
2 Abs.
2 Satz
1 [X.] zurück-treten. Zwar komme eine Einstellung auf unbestimmte Zeit nur in absoluten Ausnahmefällen in Betracht. Ein solcher Ausnahmefall liege aber vor. Bei einer zwangsweisen Räumung des Hauses sei mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die 94-jährige Schuldnerin die Zwangsvollstreckungsmaß-nahme nicht überleben werde. Sie leide unter erheblichen Herzerkrankungen sowie Einschränkungen der Nierenfunktionen und mache einen äußerst ge-brechlichen Eindruck. Zudem sei mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszu-gehen, dass die Schuldnerin bei einer Zwangsräumung Selbstmord begehen werde. Dies entspreche dem vorliegenden Gutachten und dem persönlichen Eindruck der Berichterstatterin im Anhörungstermin. Die akute Suizidgefahr im Falle der Zwangsräumung sei durch zumutbare Maßnahmen nicht abzuwen-den. Es bestünden keine Anhaltspunkte, dass die Schuldnerin ihre Mittellosig-5
6
7
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-
keit bewusst herbeigeführt habe. Da die Schuldnerin zur Zahlung der an sich angemessenen
und in den vorangegangenen Beschlüssen festgesetzten [X.] derzeit finanziell nicht in der Lage sei, orientiere sich die Festsetzung der aktuell zu zahlenden Nutzungsentschädigung an dem Teilbe-trag zur Grundsicherung, den die Stadt
H. an die Gläubigerin zahle.
I[X.]
Die vom Beschwerdegericht zugelassene Rechtsbeschwerde ist statthaft (§
574 Abs.
1 Satz
1 Nr.
2
und
Abs.
3 Satz
2 ZPO) und auch im Übri-gen zulässig (§
575 ZPO). In der Sache hat sie ebenfalls Erfolg. Der [X.] Beschluss ist schon deshalb aufzuheben, weil sich das Beschwerdegericht bei seiner Entscheidung unter anderem auf den persönlichen Eindruck gestützt hat, den allein die Berichterstatterin bei der von ihr im Auftrag der [X.] am 13.
Januar 2015 durchgeführten Anhörung der Schuldnerin ge-wonnen hat.
1. Die Frage, in welcher Form die von einem mit mehreren [X.]n [X.] Spruchkörper für erforderlich gehaltene Anhörung einer Partei zu erfol-gen hat, ist in der Zivilprozessordnung weder für Verfahren mit obligatorischer mündlicher Verhandlung noch für Verfahren mit -
wie im Vollstreckungsverfah-ren
-
freigestellter
mündlicher
Verhandlung ausdrücklich geregelt. Für nach dem Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) zu betreibende
Verfahren ist es anerkannt, dass die Anhörung eines Verfahrensbeteiligten nicht notwendig vor allen [X.] des Spruchkörpers erfolgen muss (vgl. [X.], Beschluss vom 17.
Juni 2010 -
V
ZB
127/10, NVwZ 2010, 1318 Rn.
12 bis 15; Beschluss vom 9.
November 2011 -
XII
ZB
286/11, [X.], 317 Rn.
31). Entsprechendes gilt nach §§
375, 451 ZPO für die Vernehmung eines Zeugen oder einer Partei. Dagegen ist für die Parteianhörung nach §
141 ZPO im Zivilprozess umstritten, ob diese zwingend vor dem Prozessgericht zu erfolgen hat (vgl. [X.] (1909), 242, 243; [X.], [X.] (1900), 461, 462; 8
9
-
6
-
Wieczorek/Schütze/[X.], ZPO, 4.
Aufl., §
141 Rn.
44; [X.], ZPO, 22.
Aufl., §
141 Rn.
26; [X.]/[X.]/[X.], ZPO, 36.
Aufl., §
141 Rn.
2; Musielak/[X.]/[X.], ZPO, 12.
Aufl., §
141 Rn.
11; [X.]/[X.], ZPO, 31.
Aufl., §
141 Rn.
6) oder vor dem beauftragten oder ersuchten [X.] statt-finden kann (vgl. [X.], [X.] 1986, 152; [X.]/Lauterbach/[X.], ZPO, 74.
Aufl., §
141 Rn.
12). Begründet wird die zwingende Anhörung vor dem Prozessgericht damit, dass sie Teil der mündlichen Verhandlung ist und die Vorschrift des §
141 ZPO keine Anhörung vor dem beauftragten oder ersuchten [X.] vorsieht. Die unterschiedliche Handhabung bei der [X.] sowie der Anhörung nach dem Gesetz über das Verfahren in Fa-miliensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit einer-seits und der Parteianhörung nach der Zivilprozessordnung andererseits über-zeugt allerdings nicht. Die [X.] dienen der [X.] und damit dem Ziel, den Wahrheitsgehalt von [X.] zu ermitteln. Die Parteianhörung nach §
141 ZPO ist dagegen in erster Linie darauf gerichtet, den Sachverhalt aufzuklären, Lücken und Unklarheiten im [X.] zu beheben und den Streitstand festzustellen. Daneben kann in bestimm-ten [X.] eine Parteianhörung zur Wahrung der Chancen-gleichheit einer Partei im Zivilprozess erforderlich sein (vgl. [X.], Urteil vom 14.
Mai 2013
VI
ZR
325/11, [X.], 2601 Rn.
10). Damit überschneidet sich die Parteivernehmung mit der Parteianhörung, wenn deren Ergebnis im Rahmen der Beweiswürdigung nach §
286 ZPO berücksichtigt wird
(vgl. [X.], Urteil vom 16.
Juli 1998
I
ZR
32/96, NJW 1999, 363, 364; [X.], [X.], 2601 Rn.
11). Es ist kein Grund ersichtlich, warum die Parteianhörung, deren Zweck in der Aufklärung und Vervollständigung des Streitstoffs und der Ermitt-lung des der Entscheidung zugrunde zu legenden Sachverhalts besteht, zwin-gend vor dem erkennenden Gericht erfolgen muss, während die Durchführung der Beweisaufnahme, die zur Ermittlung der Wahrheit oder Unwahrheit von Prozessbehauptungen erforderlich ist, einem beauftragten oder ersuchten Rich--
7
-
ter übertragen werden kann. Die Frage, ob die Parteianhörung in einem Verfah-ren mit notwendiger mündlicher Verhandlung vor dem Prozessgericht erfolgen muss, braucht vorliegend allerdings nicht abschließend entschieden zu werden. Für das Verfahren nach §
765a ZPO ist eine mündliche Verhandlung vor dem Beschwerdegericht fakultativ. Jedenfalls in einem solchen Fall braucht die Par-teianhörung nicht zwingend vor dem erkennenden Gericht zu erfolgen, sondern kann einem beauftragten oder ersuchten [X.] übertragen werden.
Die Anhörung durch einen von dem Spruchkörper beauftragten [X.] setzt allerdings in entsprechender Anwendung von §
375 Abs.
1a, §
451 ZPO voraus, dass diese Verfahrensweise zur Vereinfachung der Verhandlung zweckmäßig erscheint und außerdem von vornherein anzunehmen ist, dass das Ergebnis der Anhörung auch ohne unmittelbaren Eindruck von deren [X.] sachgemäß gewürdigt werden kann (vgl. [X.], NVwZ 2010, 1318 Rn.
13). Dementsprechend darf das Ergebnis der Anhörung durch
den beauftragten [X.] nicht verwertet werden, wenn Gesichtspunkte eine Rolle spielen, die nur aufgrund eines unmittelbaren Eindrucks von der Parteianhörung zuverlässig beurteilt werden können.
2. Nach diesen Maßstäben
hat die vom Beschwerdegericht getroffene Entscheidung weder mit der von diesem gegebenen Begründung noch im Übri-gen mit anderer Begründung Bestand und ist deshalb aufzuheben (§
577 Abs.
3
und 4 Satz
1 ZPO).
a) Die angefochtene Entscheidung beruht
nach den vom [X.] getroffenen Feststellungen maßgeblich darauf, dass die Berichterstatterin sich bei der von ihr am 13.
Januar 2015 im Auftrag der Kammer durchgeführten Anhörung der Schuldnerin von deren äußerst eingeschränktem Allgemeinzu-stand hat überzeugen können und deswegen mit hoher Wahrscheinlichkeit da-von auszugehen ist, die Schuldnerin werde die besondere Belastungssituation 10
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-
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-
einer Zwangsräumung nicht überleben. Nach den mehrfachen sachverständi-gen Begutachtungen im Laufe der letzten beiden Jahre sei auch keinesfalls an-zunehmen, dass sich der gesundheitliche Zustand der Schuldnerin verbessern könnte.
b) Das Beschwerdegericht hat des Weiteren festgestellt, dass sich die Berichterstatterin bei der Anhörung der Schuldnerin am 13.
Januar 2015 einen Eindruck davon hat verschaffen können, in welchem Ausmaß die
Schuldnerin auf den Verbleib in ihrem Elternhaus sowie darauf fixiert war, ihr vermeintlich angetanes und
geschehenes Unrecht durch angebliche Betrügereien von Rechtsanwälten und Steuerberatern aufzuklären und gerichtlich
ahnden zu [X.]. Es hat hierin zum einen eine Bestätigung der Angaben der drei in den ver-schiedenen Verfahren tätigen
Sachverständigen gesehen, nach denen
die von der Schuldnerin wiederholt geäußerten Suizidankündigungen durchaus ernst zu nehmen seien
und im Falle einer Zwangsräumung mit großer Wahrscheinlich-keit davon auszugehen sei, dass die Schuldnerin einen Suizid erfolgreich aus-führen würde. Zum anderen hat es an diesen von der Berichterstatterin bei der Anhörung der Schuldnerin gewonnenen Eindruck anschließend festgestellt, dass die bestehende akute Suizidgefahr nicht auf einer
die freie Willensbe-stimmung beeinflussenden oder ausschließenden psychischen Erkrankung der Schuldnerin beruht und dass deshalb eine Einflussnahme gegen deren erklär-ten Willen
etwa durch eine betreuungsrechtliche Unterbringung mit Zwangsbe-handlung oder nach dem [X.] Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten nicht in Betracht kommt
und
entsprechende Maßnahmen nach den Angaben der Sachverständigen die Sui-zidgefahr allenfalls zeitlich verlagerten.
c) Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass die Entschei-dung des [X.] maßgeblich auch auf dem persönlichen Eindruck 13
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-
der Berichterstatterin beruht, den diese bei der Anhörung von der Schuldnerin und ihren persönlichen Lebensumständen gewonnen hat.
[X.] Im Hinblick darauf, dass das Beschwerdegericht sich keinen persönli-chen Eindruck von der Schuldnerin verschafft hat, ist
die
Sache
nicht gemäß §
577
Abs.
5 Satz
1 ZPO zur
Endentscheidung reif.
Sie ist
daher gemäß §
577 Abs.
4 Satz
1 ZPO
zur erneuten Entscheidung an das Beschwerdegericht zu-rückzuverweisen.
V. Dieses wird bei
seiner neuen Entscheidung
insbesondere folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen haben:
1. Ist mit einer Zwangsvollstreckungsmaßnahme eine konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit des Schuldners verbunden, so kann dies die Unter-sagung oder einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung nach §
765a ZPO rechtfertigen. Dabei ist aber stets eine Abwägung der Interessen des Schuldners mit den Vollstreckungsinteressen des Gläubigers vorzunehmen. Es kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich auch der Gläubiger auf Grund-rechte berufen kann. Ist sein Räumungstitel nicht durchsetzbar, wird sein Grundrecht auf Schutz seines Eigentums (Art.
14 Abs.
1 [X.]) und auf effektiven Rechtsschutz (Art.
19 Abs.
4 [X.]) beeinträchtigt. Dem Gläubiger dürfen keine Aufgaben überbürdet werden, die nach dem Sozialstaatsprinzip dem Staat und damit der Allgemeinheit obliegen. Es ist deshalb auch dann, wenn bei einer Räumungsvollstreckung eine konkrete Lebensgefahr für einen Betroffenen be-steht, sorgfältig zu prüfen, ob dieser Gefahr nicht auf andere Weise als durch Einstellung der Zwangsvollstreckung wirksam begegnet werden kann. Dabei kann vom Schuldner erwartet werden, dass er alles ihm Zumutbare unternimmt, um Gefahren für Leben und Gesundheit möglichst auszuschließen (vgl. [X.], Beschluss vom 14.
Januar 2010
I
ZB
34/09, [X.], 250 Rn.
8). Eine [X.] der Zwangsvollstreckung auf unbestimmte Zeit in derartigen Fällen ist 15
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17
-
10
-
auf absolute Ausnahmefälle beschränkt (vgl. [X.], [X.] vom 19.
Februar 2014
2
BvR
2455/12, [X.] 2014, 583 Rn.
11; [X.] vom 29.
Juli 2014
2
BvR
1400/14, [X.] 2014, 1290 Rn.
11; [X.] vom 6.
August 2014
2
BvR
1340/14, [X.], 1726, 1727; [X.], Beschluss vom 9.
Oktober 2013
I
ZB
15/13, NJW 2014, 2288 Rn.
24 bis 27). Ein solcher Ausnahmefall ist nicht schon dann gegeben, wenn die Voraus-setzungen für eine befristete Einstellung vorliegen und die Aussichten auf eine Besserung des Gesundheitszustands gering sind. Vielmehr muss die Prognose ergeben, dass eine Verringerung der Suizidgefahr auch unter Berücksichtigung einer etwaigen Mitwirkung des Schuldners und staatlicher Stellen in Zukunft ausgeschlossen erscheint.
Mit Erfolg rügt die Rechtsbeschwerde, dass die Feststellungen des [X.] eine dauerhafte Einstellung der Zwangsvollstreckung nicht [X.].
Nach den im Streitfall gegebenen Umständen kommt in Betracht, dass die Schuldnerin sich zukünftig in einem Zustand befinden wird, der eine solche Selbsttötung ausschließt. Nach dem von der Sachverständigen Dr.
M.

im
Beschwerdeverfahren
erstatteten Gutachten ist nicht auszuschließen, dass die Gefahr eines Selbstmords der Schuldnerin
in Zukunft abnehmen wird, weil sie so pflegebedürftig wird, dass sie nicht mehr selbstbestimmt leben kann.
2. Sollte das Beschwerdegericht im wiedereröffneten [X.] erneut zu dem Ergebnis gelangen, dass eine akute, anders nicht abwend-bare Suizidgefahr bei der Schuldnerin besteht, ist die Zwangsvollstreckung [X.]. Bei der Beurteilung der Frage, für welchen Zeitraum dies zu gesche-hen hat, wird das Beschwerdegericht den Umstand zu berücksichtigen
haben, dass die Gläubigerin das Hausgrundstück weit unter Verkehrswert ersteigert hat und die zum Zeitpunkt der Zwangsversteigerung 93-jährige Schuldnerin seit 18
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mehr als 50
Jahren in dem Haus wohnt. Das Beschwerdegericht wird in diesem Zusammenhang auch zu
prüfen haben, ob der Gläubigerin das Alter der Schuldnerin und der Zeitraum, den sie in dem Haus wohnt, aus dem [X.] bekannt waren und sie von vornherein mit erheblichen Risiken bei einer Zwangsräumung rechnen musste. Zugunsten der Gläubigerin ist zu berücksichtigen, wenn sie durch die Dauer des Räumungsverfahrens und
die unter dem Verkehrswert liegende Nutzungsentschädigung in finanzielle Schwierigkeiten geraten ist. Dabei wird das Beschwerdegericht allerdings zu beachten haben, dass finanzielle Schwierigkeiten der Gläubigerin dann nicht ins Gewicht fallen, wenn sie beim Erwerb der Immobilie aufgrund ihrer finanziellen Möglichkeiten ein hohes Geschäftsrisiko eingegangen ist.

Büscher
Schaffert
Kirchhoff

Löffler
Schwonke
Vorinstanzen:
[X.], Entscheidung vom 07.11.2014 -
7b M 778/13 -

[X.], Entscheidung vom 30.01.2015 -
23 [X.] -

Meta

I ZB 12/15

21.01.2016

Bundesgerichtshof I. Zivilsenat

Sachgebiet: ZB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 21.01.2016, Az. I ZB 12/15 (REWIS RS 2016, 17371)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 17371

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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