Bundesgerichtshof, Beschluss vom 03.05.2023, Az. StB 26/23

3. Strafsenat | REWIS RS 2023, 2492

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Tenor

1. Die Beschwerde des Angeklagten gegen die Haftfortdauerentscheidung des [X.] vom 17. Oktober 2022 (5 - 2 StE 7/20) wird verworfen.

2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.

1

[X.] wurde am 14. Februar 2020 vorläufig festgenommen und befindet sich seit dem 15. Februar 2020 - unterbrochen vom 8. Mai bis zum 6. Juli 2020 zur Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe - in Untersuchungshaft, zunächst aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des [X.] vom 15. Februar 2020 (3 [X.]), sodann aufgrund des ihm am 4. August 2021 eröffneten Haftbefehls des [X.] vom 26. Juli 2021 (5 - 2 StE 7/20).

2

Gegenstand des aktuell vollstreckten Haftbefehls ist neben dem Angeklagten zur Last liegenden tateinheitlich begangenen Waffendelikten der Vorwurf, er habe im Februar 2020 eine Vereinigung (§ 129 Abs. 2 StGB) gegründet, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord oder Totschlag zu begehen, und sich mitgliedschaftlich an dieser Vereinigung beteiligt (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 52 Abs. 1 StGB).

3

Mit Beschlüssen vom 3. September 2020 ([X.]) und vom 9. Februar 2021 ([X.]) hat der Senat im besonderen Haftprüfungsverfahren die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Der [X.] hat am 4. November 2020 gegen den Angeklagten und elf Mitangeklagte Anklage erhoben. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens dauert die Hauptverhandlung seit dem 13. April 2021 an. Auf einen Haftprüfungsantrag des Angeklagten hat der Staatsschutzsenat den von ihm erlassenen Haftbefehl am 17. Oktober 2022 aufrechterhalten und in Vollzug belassen.

4

Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 8. April 2023 hat der Angeklagte ohne nähere Ausführungen „Antrag auf Haftbeschwerde“ gestellt. Das [X.] hat dem Ersuchen nicht abgeholfen.

II.

5

[X.] ist analog § 300 [X.] dahin auszulegen, dass Beschwerde gegen den [X.] des [X.]s vom 17. Oktober 2022 als zuletzt ergangene den Bestand des Haftbefehls betreffende Haftentscheidung eingelegt ist, weil dieses Rechtsmittel nach § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1 [X.] statthaft (vgl. [X.], Beschluss vom 2. November 2016 - StB 35/16, juris Rn. 6; [X.]/[X.], [X.], 65. Aufl., § 117 Rn. 8 mwN), auch im Übrigen zulässig (§ 306 Abs. 1 [X.]) und offensichtlich bezweckt ist (vgl. [X.], Beschlüsse vom 20. September 2022 - StB 38/22, juris Rn. 6; vom 21. April 2016 - StB 5/16, juris Rn. 8). In der Sache bleibt es aber ohne Erfolg.

6

1. [X.] ist der ihm angelasteten Taten weiterhin dringend verdächtig. Im Sinne eines solchen Verdachts ist nunmehr von dem Sachverhalt auszugehen, den das [X.] im Haftbefehl vom 26. Juli 2021 angeführt hat, auf den verwiesen wird. Im Vergleich zum ursprünglichen Haftbefehl, dem Inhalt der genannten Beschlüsse des Senats und der Anklageschrift hat sich eine Änderung dahin ergeben, dass die Angeklagten die in Rede stehende terroristische Vereinigung mit hoher Wahrscheinlichkeit erst am 8. Februar 2020 in M.    und nicht früher gründeten.

7

Der dringende Tatverdacht folgt im Wesentlichen aus den in der bisherigen Hauptverhandlung gewonnenen Erkenntnissen. Diese hat der Staatsschutzsenat im von ihm erlassenen Haftbefehl, im [X.] vom 17. Oktober 2022 und in seiner Nichtabhilfeentscheidung vom 13. April 2023 im Einzelnen dargelegt und seine vorläufige Beweiswürdigung plausibel erörtert. Die tatgerichtliche Würdigung ist angesichts der laufenden Hauptverhandlung nur eingeschränkt überprüfbar ([X.] Rspr.; s. etwa [X.], Beschluss vom 25. August 2021 - StB 30/21, juris Rn. 11). Nach den insoweit anzulegenden Maßstäben (s. etwa [X.], Beschluss vom 21. September 2020 - StB 28/20, [X.]R [X.] § 112 Tatverdacht 5 Rn. 16 f. mwN) ergeben sich keine Beanstandungen.

8

Rechtlich ist der geschilderte Sachverhalt im angegriffenen [X.] hinsichtlich der verwirklichten Straftatbestände zutreffend gewürdigt. Auf die konkurrenzrechtliche Einordnung, namentlich darauf, ob und inwieweit der Angeklagte Tathandlungen im Sinne des § 129a Abs. 1 StGB nur gelegentlich des Waffenbesitzes vornahm (vgl. hierzu [X.], Beschluss vom 10. August 2017 - AK 35/17 u.a., juris Rn. 37 f.), kommt es für die Haftfrage nicht an.

9

2. Die Haftgründe der Fluchtgefahr und der [X.] liegen unverändert vor.

a) Die Würdigung sämtlicher Umstände macht es nach wie vor wahrscheinlicher, dass sich der Angeklagte dem Verfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung stellen wird (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 [X.]).

aa) Von der konkreten Straferwartung geht weiterhin ein Fluchtanreiz aus, denn der Angeklagte hat noch immer eine zu vollstreckende Haftzeit von Gewicht zu gewärtigen. Das [X.] hat hierzu im [X.] vom 17. Oktober 2022 ausgeführt, dass die damals etwa zwei Jahre und sechs Monate andauernde Inhaftierung des Angeklagten sich im Fall einer Verurteilung voraussichtlich im Bereich von zwei Dritteln der zu erwartenden Freiheitsstrafe bewege. Danach ist aktuell mit einer noch etwa achtmonatigen weiteren Vollstreckungsdauer zu rechnen. Aus der im Nichtabhilfebeschluss getroffenen Prognose, die derzeit erlittene Untersuchsuchungshaftdauer werde „voraussichtlich um weniger als ein Jahr“ überstiegen, ergibt sich nichts anderes.

Diese Beurteilung ist nachvollziehbar. Die mögliche Sanktion für den Angeklagten wird § 129a Abs. 1 StGB zu entnehmen sein, der eine Freiheitsstrafe zwischen einem und zehn Jahren vorsieht. Der Staatsschutzsenat hat in seine Bewertung unter anderem mildernd eingestellt, dass der Angeklagte [X.] geleistet hat. [X.] hat er die rassistischen und fremdenfeindlichen Beweggründe und Ziele gewürdigt (§ 46 Abs. 2 StGB; vgl. im Übrigen BT-Drucks. 18/3007 [X.]; [X.], Urteil vom 20. August 2020 - 3 StR 40/20, [X.]R StGB § 60 Absehen, fehlerhaft 1 Rn. 14 mwN).

bb) Eine hypothetische Aussetzung des Strafrests zur Bewährung gemäß § 57 Abs. 1 StGB hat das [X.] bei der Einschätzung der drohenden weiteren Haftzeit in den Blick genommen (vgl. dazu [X.], Beschluss vom 29. Dezember 2005 - 2 BvR 2057/05, [X.]K 7, 140, 161 f.; vom 4. Juni 2012 - 2 BvR 644/12, [X.]K 19, 428, 435; zur sog. Nettostraferwartung s. ferner [X.], Beschluss vom 2. November 2016 - StB 35/16, juris Rn. 9; [X.]/[X.], [X.], 65. Aufl., § 112 Rn. 23), eine solche Aussetzung jedoch angesichts des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit für unwahrscheinlich erachtet (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB; vgl. [X.], Beschluss vom 30. Mai 2018 - StB 12/18, NStZ-RR 2018, 255 f. mwN). [X.] habe sich von der im Tatvorwurf zum Ausdruck kommenden Gesinnung bisher nicht distanziert. Auch diese Würdigung ist plausibel. Dem Tatgericht, das allein einen unmittelbaren Eindruck vom Angeklagten aus der Hauptverhandlung gewonnen hat, kommt insoweit ein Beurteilungsspielraum zu ([X.], Beschluss vom 20. April 2022 - StB 16/22, NStZ-RR 2022, 209, 210).

cc) Der konkrete Tatvorwurf begründet zudem die besondere Gefahr, dass sich der Angeklagte in den Untergrund absetzen wird. Er verfolgte vor seiner Inhaftierung hochwahrscheinlich das Ziel, den [X.] und seine Vertreter zu bekämpfen. Vor diesem Hintergrund ist eine Bereitschaft zur freiwilligen Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden trotz des frühzeitig abgelegten Teilgeständnisses und der [X.] nicht zu erwarten. Der mit Hakenkreuzen und einem Konterfei [X.] tätowierte Angeklagte ist nach den bislang gewonnenen Erkenntnissen außerdem in rechtsextremistischen Kreisen vernetzt, in denen er vor der Inhaftierung eine herausgehobene Position bekleidete, und kann voraussichtlich im Fall des [X.] auf deren Unterstützung zählen.

dd) Fluchthemmende Umstände sind nach wie vor nicht ersichtlich und im Übrigen nicht vorgetragen. Vor der Festnahme war der Angeklagte arbeitslos und hoch verschuldet. Die Bindung zu Ehefrau und [X.] hielt ihn mit großer Wahrscheinlichkeit nicht von dem Wunsch ab, sich „offensiv“ an Terroranschlägen zu beteiligen und hierfür die nötigen Waffen zu besorgen, wobei er in Kauf nahm, gegebenenfalls den eigenen Tod zu finden. Über belastbare [X.] Bindungen außerhalb der neonationalsozialistischen Szene ist nichts bekannt.

b) Die Fortdauer der Untersuchungshaft kann bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 [X.] (vgl. [X.]/[X.], [X.], 65. Aufl., § 112 Rn. 37 mwN) unverändert ebenso - mit dem [X.] - auf den Haftgrund der [X.] gestützt werden. Denn die zu würdigenden Umstände begründen erst recht die Gefahr, dass die Ahndung der Tat ohne die weitere Inhaftierung des Angeklagten vereitelt werden könnte.

c) Insgesamt kann der Zweck der Untersuchungshaft, wie bereits in den vorangegangenen Senatsbeschlüssen dargelegt, nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug erreicht werden (§ 116 [X.]). Eine - bei verfassungskonformer Auslegung auch im Rahmen des § 112 Abs. 3 [X.] mögliche - Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 [X.] analog) ist nicht erfolgversprechend.

3. Der Vollzug der Untersuchungshaft steht nach wie vor nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 [X.]; zu den insoweit nach [X.] Rspr. geltenden Maßstäben s. etwa [X.], Beschluss vom 20. April 2022 - StB 16/22, NStZ-RR 2022, 209, 210 mwN).

a) Das Spannungsverhältnis zwischen dem [X.] und dem Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Strafverfolgung und -vollstreckung ist bei Berücksichtigung und Abwägung der Besonderheiten des vorliegenden Verfahrens noch immer dahin aufzulösen, dass die Untersuchungshaft fortzudauern hat. Die dem Angeklagten vorgeworfenen Verbrechen wiegen schwer. Die Gründung und die mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im konkreten Zusammenhang mit der Planung von tödlichen Anschlägen aus rassistischen und fremdenfeindlichen Motiven haben eine hohe Bedeutung. Vor diesem Hintergrund hat das in die Abwägung einzustellende rechtsstaatliche Gebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, das zur Aufklärung und Ahndung von Straftaten verpflichtet (vgl. [X.], Beschluss vom 14. Juli 2022 - 2 BvR 900/22, NJW 2022, 2389 Rn. 57 mwN), besonderes Gewicht.

b) Der Blick auf die konkrete Straferwartung von etwa acht weiteren Monaten Haftzeit und die formal mögliche Aussetzung des Strafrests führen zu keinem anderen Ergebnis. Das Erreichen des Termins des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB hat für sich genommen nicht zur Folge, dass der weitere Vollzug der Untersuchungshaft unverhältnismäßig wäre (vgl. [X.], Beschluss vom 20. April 2022 - StB 15/22, [X.], 634 Rn. 25 mwN). Eine Strafrestaussetzung steht hier, wie ausgeführt, auch nicht zu erwarten.

c) Dass es bisher nicht möglich gewesen ist, zu einem Urteil zu gelangen, ist dem Umfang und der Komplexität der Sache sowie der Vielzahl der beteiligten Personen geschuldet. Das Verfahren ist mit der in Haftsachen gebotenen Zügigkeit geführt worden. Insoweit wird auf die Ausführungen in der angefochtenen Haftfortdauerentscheidung, dem Nichtabhilfebeschluss sowie der gegen einen Mitangeklagten ergangenen Haftentscheidung des Senats verwiesen ([X.], Beschluss vom 20. September 2022 - StB 39/22, juris Rn. 21).

Berg                    [X.]

Meta

StB 26/23

03.05.2023

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: False

vorgehend OLG Stuttgart, 17. Oktober 2022, Az: 5 - 2 StE 7/20

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 03.05.2023, Az. StB 26/23 (REWIS RS 2023, 2492)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 2492

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

2 BvR 900/22

2 BvR 644/12

3 StR 40/20

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.