Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 11.08.2010, Az. 1 StR 351/10

1. Strafsenat | REWIS RS 2010, 4114

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BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 1 StR 351/10 vom 11. August 2010 in der Strafsache gegen wegen gefährlicher Körperverletzung - 2 - Der 1. Strafsenat des [X.] hat am 11. August 2010 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen: Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 4. März 2010 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine [X.] des [X.] zurückverwiesen. Gründe: [X.] Das [X.] hatte den Angeklagten am 29. Mai 2009 wegen gefähr-licher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. [X.] hat der Senat auf die Revision des Angeklagten mit Beschluss vom 29. September 2009 (1 [X.]) mit den Feststellungen aufgehoben. 1 Mit dem jetzt angefochtenen Urteil hat das [X.] den Angeklagten wiederum wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die gegen die Verurteilung gerichte-te Revision des Beschwerdeführers rügt die Verletzung sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel hat Erfolg. 2 1. Der Senat hatte in seinem Beschluss vom 29. September 2009 ausge-führt, dass das Urteil des [X.]s an durchgreifenden Darstellungsmän-geln leide. Unter anderem sei [X.] geblieben, weshalb der Angeklagte, als 3 - 3 - er im Treppenhaus erneut auf den Zeugen stieß und dieser sich ihm näherte, nicht davon ausgehen konnte oder musste, der Zeuge werde ihn erneut angrei-fen; dies umso mehr, als der Angeklagte gesagt habe: —Lass [X.], verpiss Dich, ich habe Dir nichts getan!". Weiterhin sei mit der Feststellung im Urteil, der Zeuge habe eine körperliche Auseinandersetzung gerade vermeiden wollen, kaum vereinbar, dass der Zeuge gerade auf den Angeklagten zuging, obgleich dieser ihn gewarnt hatte. 4 2. Weshalb zu diesem Zeitpunkt —erkennbar keine [X.]" für den Angeklagten bestanden habe und auch keine nicht anders abwendbare [X.]. § 34 StGB gegeben gewesen sei, könne aus den insoweit widersprüchli-chen Feststellungen des [X.]s nicht ohne weiteres geschlossen werden. Jedenfalls hätte berücksichtigt werden müssen, dass der Angeklagte sich zu diesem Zeitpunkt —in einem Zustand affektiver Erregung" befand und insoweit möglicherweise auch die Voraussetzungen gemäß § 33 StGB vorgelegen ha-ben könnten. Keinesfalls seien entsprechende Erörterungen angesichts dieses Geschehens entbehrlich gewesen. 5 3. Nachdem die [X.] davon ausgegangen sei, dass der Ange-klagte —einem Verbotsirrtum nach § 17 StGB" unterlag, —indem er sich vorstellte, er sei ,zu seiner Verteidigung' zum Einsatz des Messers berechtigt" ([X.]), sei es rechtsfehlerhaft gewesen, nicht zu erörtern, inwieweit dieser Irrtum - ins-besondere angesichts seiner affektiven Erregung - für den Angeklagten ver-meidbar gewesen sei; noch habe sich der Tatrichter - falls das Urteil inzident von einer Vermeidbarkeit ausgehen sollte - dazu verhalten, ob bei den gegebe-nen Umständen zumindest eine Milderung nach § 17 Satz 2 StGB in Betracht komme. - 4 - I[X.] 1. Das daraufhin ergangene Urteil des [X.]s vom 4. März 2010 war erneut aufzuheben, weil die [X.] bezüglich der vom Angeklagten behaupteten [X.] widersprüchliche Feststellungen getroffen hat und auch die aus der angenommenen Putativnotwehrlage abgeleiteten Folgerungen nicht frei von [X.] sind. 6 a) Die [X.] hat insoweit zunächst festgestellt, dass der Ange-klagte von dem ihm körperlich deutlich überlegenen Geschädigten [X.]wenige Minuten vor dem streitgegenständlichen Geschehen im Erdgeschoss des Hauses in den Schwitzkasten genommen und dann im [X.] mindestens einen heftigen und schmerzhaften Faustschlag ins Gesicht in den Bereich des linken Auges sowie einen Tritt in den Bereich des unteren rechten Thorax erhal-ten hatte, so dass er unter anderem an seinem linken Auge Schwellungen und Einblutungen erlitt. [X.] und verstört hatte sich der Angeklagte anschlie-ßend nach oben in seine Wohnung begeben, um die Polizei zu rufen. Danach begann er sich um seine Freundin, welche sich im Eingangsbereich des Hauses aufhielt, Sorgen zu machen, weil er es nicht für ausgeschlossen hielt, dass sich [X.]auch gegen sie wenden könnte. Weil er aber eine neue Auseinander-setzung mit diesem befürchtete und ihm nicht ohne jeden Schutz gegenüber treten wollte, ergriff er ein ca. 30 cm langes Küchenmesser mit einer fast 19 cm langen Klinge. Damit begab er sich aus der Wohnung in den [X.], wobei er sich plötzlich [X.], für den die Auseinandersetzung mit dem Angeklagten bereits im [X.] abgeschlossen war, gegenüber sah, welcher zu diesem Zeit-punkt noch etwa 4 bis 5 Stufen unterhalb von ihm im Begriff war, nach oben in die über der Wohnung des Angeklagten liegende Wohnung seiner Freundin zu gehen. 7 - 5 - Beide hielten zunächst inne, worauf der Angeklagte, welcher erneute Tätlichkeiten [X.]s ihm gegenüber befürchtete, sinngemäß sagte: —[X.]", und dann schwingende Bewegungen mit dem Messer begann, um [X.]

davon abzuhalten, sich ihm weiter zu nähern. Dieser sah aber - nach den Feststellungen des [X.]s - trotz der Bewegungen des Angeklagten das Messer nicht und stieg die Treppe weiter zu ihm hinauf, wobei er ihn als [X.] nicht ernst nahm, und seinen Schritt auch auf die Gefahr hin fort-setzte, dass er den Angeklagten abwehren oder wegdrängen müsste. 8 Der Angeklagte verkannte, dass [X.] nicht zu ihm, sondern in die darüber gelegene Wohnung wollte. Für ihn stand nun angesichts des [X.] des [X.]eine weitere Tätlichkeit unmittelbar bevor. Er setzte seine Messerbewegungen fort, worauf der Geschädigte getroffen wurde und einen 7 cm langen und 0,5 bis 1 cm tiefen horizontal verlaufenden Halsschnitt erlitt. Dieser objektiv nicht lebensgefährliche Schnitt wurde in der Folge im Klini-kum ambulant behandelt und verheilte folgenlos. 9 b) Unter Berücksichtigung dieses Geschehens hat die [X.] zu-treffend und ohne Rechtsfehler grundsätzlich die Voraussetzungen einer Puta-tivnotwehrlage als gegeben erachtet. Sie ist aber dennoch von einer vorsätzli-chen und rechtswidrigen gefährlichen Körperverletzung ausgegangen, weil das Handeln des Angeklagten nicht als —die gebotene Notwehr gerechtfertigt [X.] wäre ([X.]) und zudem sein Notwehrrecht durch ein Mitverschulden der Notwehrsituation eingeschränkt gewesen sei. Dies hält rechtlicher Prüfung nicht stand. 10 11 2. Ein Irrtum des [X.] über das Vorliegen eines Angriffs oder die [X.] ist ein Erlaubnistatbestandsirrtum, der eine [X.] 6 [X.] wegen einer vorsätzlichen Tat (hier einer gefährlichen Körperverletzung) ausschließt (§ 16 Abs. 1 Satz 1 StGB; vgl. [X.], Urteil vom 24. Oktober 2001 - 3 [X.], [X.], 141). 12 Auf der Grundlage der Tatsachen, die sich der Angeklagte - nach dem rechtsfehlerfrei festgestellten vorausgegangenen provozierenden Verhalten des Geschädigten - vom bevorstehenden Angriff vorstellte, wäre seine hier [X.] Verteidigung erforderlich gewesen. Da das [X.] einen unzutreffenden Maßstab an die Erforderlichkeit der Verteidigung angelegt hat, ist auch die Feststellung, der Angeklagte habe selbst nicht geglaubt, sein —extensives [X.] sei rechtmäßig gewesen, von diesem Rechtsfehler betroffen und kann keinen Bestand haben. 13 Ob eine Verteidigungshandlung i.S.d. § 32 Abs. 2 StGB erforderlich ist, hängt im Wesentlichen von Art und Maß des Angriffs ab. Grundsätzlich darf der Angegriffene das für ihn erreichbare Abwehrmittel wählen, das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten lässt (vgl. [X.], Beschluss vom 19. September 1973 - 2 StR 165/73, [X.]St 25, 229, 230; [X.], Urteil vom 11. September 1995 - 4 StR 294/95, [X.], 29, mwN). Demgemäß ist auch der Einsatz eines Messers nicht von vornherein unzulässig. In der Regel ist der Angegriffene dann aber gehalten, den Gebrauch der Waffe zunächst an-zudrohen ([X.], Beschluss vom 12. Dezember 1975 - 2 [X.], [X.]St 26, 258; [X.], Urteil vom 11. September 1995 - 4 StR 294/95, [X.], 29). Ein anderes Verteidigungsmittel als das mitgeführte Messer hatte der körperlich unterlegene Angeklagte nicht. Eine Androhung des Einsatzes der Waffe kann in - 7 - den schwingenden Bewegungen ohne weiteres gesehen werden. Ob der Ge-schädigte dabei das Messer wahrnahm oder nicht, kann daran nichts ändern. 14 Auch die Annahme, der Angeklagte habe dadurch, dass er sich dem [X.] bewaffnet in den Weg stellte, die Notwehrsituation mit verschuldet, verkennt deren Grundlagen. Eine solche Annahme würde darauf hinauslaufen, dass der Angeklagte seine Wohnung entweder nur unbewaffnet oder gar nicht verlassen durfte, bzw. hätte in die Wohnung zurückweichen müssen. Ob [X.] überhaupt zeitlich möglich gewesen wäre, bevor der Geschädigte die weni-gen Stufen zu ihm zurückgelegt hätte, hat das [X.] nicht festgestellt. Unabhängig davon war es dem Angeklagten aber auch nicht verwehrt, seine Wohnung zu verlassen, um nach seiner Freundin zu sehen, welche er in Gefahr vermutete. Keineswegs musste er bei dieser Lage, wie offenbar die [X.] annimmt, es hinnehmen, weitere Schläge von dem Zeugen [X.] hin-zunehmen, nachdem er bereits durch die vorangegangene Auseinandersetzung Einblutungen am linken Auge erlitten hatte. 15 Inwieweit er das Messer zunächst anders hätte anwenden müssen, wie das [X.] hilfsweise anführt, bleibt unklar, zumal das Tatgericht keine gezielten Stiche des Angeklagten feststellen konnte. Außerdem wäre in einem solchen Fall der nur wenige Schritte entfernte Geschädigte wohl kaum von wei-teren Schlägen abzuhalten gewesen. II[X.] - 8 - 1. Der neue Tatrichter wird demnach Gelegenheit haben zu prüfen, ob der Angeklagte den konkreten Einsatz des Messers nicht mehr als die erforder-liche Verteidigung ansehen konnte und ob dem Angeklagten im Übrigen ein Irrtum über erhebliche Tatumstände unterlaufen ist. Konnte er aufgrund eines Tatirrtums von der Erforderlichkeit des Messereinsatzes ausgehen, würde ent-sprechend § 16 StGB der [X.] entfallen. Hierzu verhält sich das Urteil ebenso wenig wie zu einem möglichen Verbotsirrtum. [X.] zu etwaigen Fehlvorstellungen des Angeklagten bei seinem Messerein-satz sind nicht etwa deswegen entbehrlich, weil der Angeklagte mit seiner [X.] gegen den vermuteten Angriff zugleich bezweckt haben mag, den Geschädigten von weiteren Angriffen abzuhalten und ohne Verzögerung nach seiner Freundin zu sehen (vgl. hierzu [X.], Beschluss vom 15. November 1994 - 3 StR 393/94, NJW 1995, 973). 16 17 2. Der neue Tatrichter wird, falls von einer Strafbarkeit des Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung auszugehen ist, Gelegenheit haben, bei der [X.] zu erörtern, ob bei dem Vorgeschehen nicht dessen Be-rücksichtigung analog § 213 [X.]. 1 oder [X.]. 2 StGB in Betracht kommen könnte. - 9 - 3. Die Sache bedarf somit erneuter Verhandlung und Entscheidung. Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, die Sache an ein anderes Landge-richt zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 Satz 1 StPO). 18 Nack [X.]Elf Graf [X.]

Meta

1 StR 351/10

11.08.2010

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 11.08.2010, Az. 1 StR 351/10 (REWIS RS 2010, 4114)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 4114

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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