Bundesgerichtshof, Urteil vom 02.07.2015, Az. 4 StR 509/14

4. Strafsenat | REWIS RS 2015, 8750

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Gegenstand

Einschränkung des Notwehrrechts bei provoziertem Angriff


Tenor

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des [X.] vom 2. Mai 2014 werden verworfen.

Die Staatskasse hat die Kosten der Rechtsmittel und die den Angeklagten im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Von Rechts wegen

Gründe

1

Das [X.] hat die vormals mitangeklagten Angeklagten [X.], M.    , [X.]und [X.].   wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung u.a. zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Der Senat hat insoweit die Revisionen der Angeklagten und des [X.]    durch [X.]schlüsse vom 15. April 2015 verworfen. Die Angeklagten [X.], [X.], [X.], [X.]     und [X.]     hat das [X.] freigesprochen.

2

Die Staatsanwaltschaft erstrebt eine Verurteilung auch der Angeklagten [X.], [X.], [X.], [X.]      und [X.]     wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in drei tateinheitlichen Fällen. Mit ihren auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützten und vom [X.] vertretenen Revisionen wendet sie sich gegen die [X.]weiswürdigung des [X.]s und die von ihm vorgenommene rechtliche [X.]wertung des festgestellten Sachverhalts. Die Rechtsmittel haben keinen Erfolg.

I.

3

Gegenstand des Verfahrens sind Gewalttätigkeiten, die auf dem Bahnhof in [X.].    von den ursprünglich neun Angeklagten gegen den türkischstämmigen [X.], dessen Lebensgefährtin [X.].    und dessen [X.]kannten Si.   begangen wurden.

4

1. Die neun Angeklagten, die der rechtsextremen Szene angehören, feierten am 21. September 2013 den Junggesellenabschied des Angeklagten [X.]    . Abends fuhren sie mit dem Zug nach [X.].   , um dort eine Gaststätte aufzusuchen. Während sie noch auf dem Bahnsteig standen, betrat der Nebenkläger [X.], der in der Bahnhofshalle einen Imbiss betrieb, mit seiner Lebensgefährtin den Bahnsteig, um die Fenster zu kontrollieren und die Türen der Bahnhofshalle zu verschließen. Als er die beiden Angeklagten [X.]und M.     ansprach, beleidigte ihn M.     mit den Worten "Verschwinde, dreckiger Ausländer" oder "[X.], mach Abstand von [X.]", während Frau [X.].    in ein Wortgefecht mit dem Angeklagten [X.]geriet, der sie als "Schlampe", "du Tussi" und "du Dumme" beschimpfte. Als der Nebenkläger [X.]    dies hörte, fasste er ihm an den Unterarm und sagte: "Zu einer Frau sagt man das nicht, bisschen mehr Respekt". [X.] seine Hand ab und rief "Fass [X.] nicht an, du Scheißvieh!" Möglicherweise holte sich der Nebenkläger [X.]    daraufhin einen 40 bis 50 cm langen Stock aus seinem Imbiss und begann, schlagende [X.]wegungen in die Luft auszuführen, um [X.]     zu vertreiben und ihm vor Augen zu führen, was passieren kann, wenn er seine [X.]leidigungen fortsetzen würde. [X.]trat einen Schritt zurück und warf dem Nebenkläger [X.]    mit bedingtem Tötungsvorsatz eine fast volle Bierflasche aus nächster Nähe mit großer Wucht an den Kopf, so dass er eine Impressionsfraktur an der Schläfe erlitt. Der Nebenkläger wollte [X.]     für den [X.] zur Rechenschaft ziehen und setzte ihm mit dem Stock nach. Spätestens jetzt wurden die anderen Angeklagten auf die Auseinandersetzung aufmerksam. Einige von ihnen, u.a. der Angeklagte [X.], warfen ungezielt mit Flaschen, um den Nebenkläger von der Verfolgung abzuhalten und ihn zu entwaffnen. Alle bildeten einen Ring um den Nebenkläger [X.], schlugen und traten ihn, um ihn von Schlägen mit dem Stock abzuhalten. Nachdem sie ihn entwaffnet hatten, geriet der Nebenkläger ins Straucheln und schlug mit dem Kopf auf den Boden auf. Während die anderen Angeklagten zurückwichen, schlugen und traten die Angeklagten [X.], M.    , [X.]und [X.].   Mit großer Wucht weiter auf ihn ein, wobei sie seinen Tod billigend in Kauf nahmen. Der Nebenkläger       Si.   kam unterdessen mit einem Messer auf den Bahnsteig gelaufen und fuchtelte damit in Richtung der Angeklagten [X.]und S.    herum. Er wurde zu Boden gebracht, wobei er Prellungen erlitt. Frau [X.].   gelang es schließlich, sich schützend über den Körper des [X.]    zu werfen und die Polizei zu rufen, nachdem sie zuvor einer der Angeklagten vom Nebenkläger weggezogen hatte und sie deshalb zu Boden gestürzt war.

5

2. [X.] hat die Angeklagten [X.], [X.], [X.]    , [X.]und [X.]     zum Teil aus tatsächlichen und zum Teil aus rechtlichen Gründen freigesprochen. Sie hat die ungezielten Flaschenwürfe und das Schlagen und Treten gegen den Nebenkläger [X.], um ihm den Stock abzunehmen, als durch Notwehr bzw. Nothilfe gerechtfertigt angesehen. Sie hat des Weiteren nicht festzustellen vermocht, dass einer dieser Angeklagten wahrgenommen habe, dass die Angeklagten [X.], M.    , [X.]und [X.].   mit Tritten gegen den Kopf und den Oberkörper weiter auf den Nebenkläger [X.]    eingewirkt haben und dass einer von ihnen eine Unterstützungshandlung irgendwelcher Art vorgenommen habe. Derjenige, der die Nebenklägerin [X.].   von dem am Boden liegenden Nebenkläger [X.]    weggezogen habe, habe nicht identifiziert werden können. Auch die gegen den Nebenkläger Si.   eingesetzte körperliche Gewalt sei durch Notwehr bzw. Nothilfe gerechtfertigt gewesen.

6

3. Die [X.]schwerdeführerin beanstandet die [X.]weiswürdigung des [X.]s sowie die [X.]jahung des Rechtfertigungsgrundes der Notwehr bzw. Nothilfe. Die [X.]weiswürdigung sei lückenhaft, weil sich das [X.] mit den widersprüchlichen Einlassungen der Angeklagten nicht auseinandergesetzt habe und eine Gesamtschau der [X.]weise fehle. Das [X.] habe es auch unterlassen, die Umstände der Kampflage vollständig und umfassend zu bewerten sowie die Erforderlichkeit und Geeignetheit der Verteidigung darzutun.

II.

7

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft haben keinen Erfolg.

8

1. Die [X.]weiswürdigung lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Die Würdigung der erhobenen [X.]weise ist Sache des Tatrichters. Sie ist vom Revisionsgericht grundsätzlich hinzunehmen, auch wenn auf der Grundlage des [X.]weisergebnisses eine abweichende Überzeugungsbildung möglich erschienen wäre oder sogar näher gelegen hätte (vgl. [X.], Urteil vom 17. April 2014 - 3 StR 27/14, [X.], 279, 280 mwN). Das Revisionsgericht kann nur dann eingreifen, wenn die [X.]weiswürdigung rechtsfehlerhaft ist, etwa weil sie gegen die Denkgesetze oder gesichertes Erfahrungswissen verstößt, in sich widersprüchlich oder lückenhaft ist oder sich so weit von einer festen Tatsachengrundlage entfernt, dass die gezogenen Schlussfolgerungen sich letztlich als reine Vermutungen erweisen.

9

Einen derartigen Rechtsfehler vermag die [X.]schwerdeführerin nicht aufzuzeigen; er ist auch sonst nicht ersichtlich. Die Angriffe der Revision gegen die [X.]weiswürdigung des [X.]s erschöpfen sich in dem revisionsrechtlich unzulässigen Versuch, die Wertung des hierzu berufenen Tatgerichts durch eine eigene zu ersetzen (vgl. [X.], Urteile vom 19. August 2008 - 1 [X.]; vom 12. August 2003 - 1 [X.], juris Rn. 18). Die [X.]weiswürdigung der [X.], insbesondere zu dem Einsatz des Stocks, beruht auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage, namentlich den Aussagen der unbeteiligten Zeugen [X.]und [X.]. Den Einlassungen der Angeklagten ist die [X.] nur gefolgt, soweit sie durch andere [X.]weismittel gestützt worden sind ([X.] ff.). Ein Rechtsfehler in der [X.]weiswürdigung liegt auch nicht darin, dass die [X.] nicht aus der Widerlegung der Einlassungen Rückschlüsse darauf gezogen hat, was sich in Wirklichkeit ereignet hat; solche wären nach ständiger Rechtsprechung nicht ohne weiteres tragfähig (vgl. [X.], Urteil vom 17. April 2014 - 3 StR 27/14, juris Rn. 13 mwN). Die von der [X.] gezogenen Folgerungen sind möglich; zwingend müssen sie nicht sein.

2. Auch die rechtliche Wertung des festgestellten Sachverhalts durch die [X.] lässt einen Rechtsfehler nicht erkennen.

a) Der rechtswidrige Angriff des Angeklagten [X.]     auf die Ehre des [X.]    war beendet, als dieser ihn - nicht ausschließbar - mit dem Stock verfolgte. Denn der Nebenkläger holte - nicht ausschließbar - nach der zweiten [X.]leidigung zunächst noch den Stock aus dem Imbiss und betrat erst anschließend wieder den Bahnsteig, auf dem sich die Angeklagten aufhielten. Dabei bewaffnete er sich nicht, um einen Angriff auf seine Ehre abzuwehren, sondern weil der Angriff auf seine Ehre und die seiner Freundin "nicht folgenlos bleiben" durfte und er den Angeklagten [X.]     vertreiben und vor Augen führen wollte, was passieren kann, wenn dieser die [X.]leidigungen fortsetzt. Daher befand sich der Angeklagte [X.]     in einer Notwehrsituation, als ihm der Nebenkläger [X.]    mit dem Stock nachsetzte.

Eine in einer objektiven Notwehrlage verübte Tat ist nach § 32 Abs. 2 StGB gerechtfertigt, wenn es sich bei ihr um das mildeste zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führende Mittel handelt, das dem Angegriffenen oder seinem Helfer in der konkreten Situation zur Verfügung stand (st. Rspr.; vgl. [X.], Urteil vom 21. März 1996 - 5 StR 432/95, [X.]St 42, 97, 100 mwN). Ob dies der Fall ist, muss auf der Grundlage einer objektiven ex-ante-[X.]trachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung beurteilt werden ([X.], [X.]schluss vom 21. August 2013 - 1 StR 449/13, [X.], 29; [X.]schluss vom 21. November 2012 - 2 [X.], [X.], 105, 106; Urteil vom 27. September 2012 - 4 StR 197/12, [X.], 139, 140 mwN).

An diesen Maßstäben gemessen weist die Annahme des [X.]s, die ungezielten Würfe mit Bierflaschen, Schläge und Tritte der Angeklagten [X.], [X.], [X.]    , [X.]und [X.]     seien die erforderliche Verteidigungshandlung gegen den mit einem Stock bewaffneten Nebenkläger [X.]    gewesen, keinen Rechtsfehler auf. Es kann dahinstehen, ob der Angeklagte [X.]     angesichts des von ihm provozierten Angriffs berechtigt war, sich aus kurzer Entfernung mit einem gezielten [X.] an den Kopf des [X.] zu verteidigen. Nach der Rechtsprechung des [X.] erfährt das Notwehrrecht unter dem Gesichtspunkt der Gebotenheit der Verteidigung unter anderem dann eine Einschränkung, wenn der Verteidiger gegenüber dem Angreifer ein pflichtwidriges [X.] an den Tag gelegt hat, das bei vernünftiger Würdigung aller Umstände des Einzelfalles den folgenden Angriff als eine adäquate und voraussehbare Folge der Pflichtverletzung des Angegriffenen erscheinen lässt. In einem solchen Fall muss der Verteidiger dem Angriff unter Umständen auszuweichen suchen und darf zur lebensgefährlichen Trutzwehr nur übergehen, wenn andere Abwehrmöglichkeiten erschöpft oder mit Sicherheit aussichtslos sind ([X.], Urteil vom 15. Mai 1975 - 4 [X.], [X.]St 26, 143, 145). Darüber hinaus vermag auch bereits ein sozialethisch zu missbilligendes [X.] das Notwehrrecht einzuschränken, wenn zwischen diesem [X.] und dem rechtswidrigen Angriff ein enger zeitlicher und räumlicher Ursachenzusammenhang besteht und es nach Kenntnis des [X.] auch geeignet ist, einen Angriff zu provozieren (vgl. [X.], Urteil vom 21. März 1996 - 5 StR 432/95, [X.]St 42, 97, 100).

Ein insoweit möglicherweise vorliegender (weiterer) rechtswidriger Angriff des Angeklagten [X.]     war aber ebenfalls beendet, als ihm der Nebenkläger [X.] weiter mit dem Stock nachsetzte und die anderen Angeklagten eingriffen. In dieser Situation waren die Angeklagten [X.], [X.], [X.]    , [X.]und [X.]     auch mit Blick auf ein möglicherweise eingeschränktes Notwehrrecht infolge einer vorangegangenen Provokation berechtigt, den Nebenkläger [X.]    mit der eingesetzten körperlichen Gewalt von der Verfolgung des Angeklagten [X.] abzuhalten.

b) Soweit eine mögliche [X.]ihilfe zu den Taten der Angeklagten [X.], M.    , [X.]und [X.].   durch das Wegziehen der Nebenklägerin [X.].   vom Nebenkläger [X.]    und eine dadurch bewirkte Körperverletzung dieser Nebenklägerin im Raum stehen, vermochte das [X.] die Täter nicht festzustellen. Auch insoweit weist die [X.]weiswürdigung keinen Rechtsfehler auf.

c) Auch hinsichtlich des [X.] Si.   konnte sich die [X.] keine Überzeugung davon verschaffen, wer ihn zu Boden gebracht hat. Darüber hinaus lässt die Annahme von Notwehr bzw. Nothilfe durch die [X.] keinen Rechtsfehler erkennen. Nach den Urteilsfeststellungen hat der Nebenkläger Si.   die an der Misshandlung des [X.]    nicht beteiligten Angeklagten [X.]und S.    mit dem Messer bedroht.

d) Schließlich erweist es sich nicht als rechtlicher Mangel, dass die [X.] eine unterlassene Hilfeleistung nach § 323c StGB nicht ausdrücklich geprüft hat. Dem Zusammenhang der Urteilsgründe ist zu entnehmen, dass solches nicht in [X.]tracht kam, weil das [X.] nicht feststellen konnte, dass die Angeklagten [X.], [X.], [X.]    , [X.]     und [X.]     , die sich vom Tatgeschehen abgewandt hatten, die weitere Misshandlung des [X.] durch die Angeklagten [X.], M.    , [X.]und [X.].   oder den Umstand, dass der Nebenkläger schwer verletzt am Boden lag, wahrgenommen haben.

[X.]Roggenbuck                       Cierniak

                         Mutzbauer                              [X.]nder

Meta

4 StR 509/14

02.07.2015

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Magdeburg, 2. Mai 2014, Az: 21 Ks 8/13

§ 32 Abs 2 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 02.07.2015, Az. 4 StR 509/14 (REWIS RS 2015, 8750)

Papier­fundstellen: NJW 2016, 423 REWIS RS 2015, 8750

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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