Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 24.06.2021, Az. 1 C 27/20

1. Senat | REWIS RS 2021, 4665

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Gegenstand

Zumutbarkeit der Niederlassung nur bei Sicherung des wirtschaftlichen Existenzminimums am Ort des internen Schutzes


Tenor

Die Revision des [X.] gegen das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs [X.] vom 16. März 2020 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Tatbestand

1

Der Kläger, ein nach eigenen Angaben 1997 geborener afghanischer Staatsangehöriger tadschikischer Volkszugehörigkeit und sunnitischen Glaubens, begehrt die Zuerkennung subsidiären Schutzes.

2

Der Kläger stammt aus dem [X.] in der Provinz [X.]. Er floh im Oktober 2015 nach seinen Angaben vor [X.] der [X.] und beantragte im Juni 2016 im [X.] Asyl.

3

Das [X.] lehnte den Asylantrag mit Bescheid vom 12. April 2017 ab, drohte dem Kläger unter Setzung einer Ausreisefrist die Abschiebung nach [X.] an und befristete das gesetzliche Einreise und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.

4

Das Verwaltungsgericht hat die Klage in vollem Umfang abgewiesen (Urteil vom 8. Juni 2018), weil der Kläger in seiner Herkunftsprovinz keiner subsidiären Schutz erfordernden ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit ausgesetzt sei; die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots lägen ebenfalls nicht vor.

5

Der Verwaltungsgerichtshof hat die von ihm hinsichtlich der Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes zugelassene Berufung des [X.] mit Urteil vom 16. März 2020 zurückgewiesen und zur Begründung - u.a. unter Bezugnahme auf sein Urteil vom 29. November 2019 - [X.] S 2376/19 - im [X.] ausgeführt: Ob die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 [X.] erfüllt seien, könne offenbleiben, weil in den drei größeren Städten [X.]s ([X.], [X.] und [X.]) interner Schutz (§ 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e Abs. 1 [X.]) zur Verfügung stehe. Der Kläger sei in den genannten Städten frei von begründeter Furcht vor Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden; insbesondere sei dort nicht mit einem fortbestehenden [X.] durch die [X.] zu rechnen. Diese drei Städte seien für den Kläger jedenfalls auf dem Luftweg sicher und legal zu erreichen; für den Zuzug bestünden keine rechtlichen oder administrativen Zuzugshindernisse. Von dem Kläger könne vernünftigerweise auch erwartet werden, dass er sich in einer der drei Städte [X.] (Zumutbarkeit der Niederlassung). Die Feststellungen und Bewertungen des Senats in seinen Urteilen vom 29. November 2019 - [X.] 2376/19 - und 29. Oktober 2019 - [X.] S 1203/19 - würden dabei durch die weiteren Erkenntnisquellen, die dem Senat zwischenzeitlich bekannt geworden seien, bestätigt; insbesondere hätten sich die Sicherheitslage in den drei Städten oder die sozioökonomischen Umstände dort nicht in relevanter Weise verändert. Auch Vereinbarungen, die zwischen einzelnen Konfliktbeteiligten im Hinblick auf ein Friedensabkommen geschlossen worden seien, sowie die politische Krise auf [X.] der Zentralregierung, die auf den umstrittenen Ausgang der Präsidentschaftswahl im September 2019 zurückzuführen sei, führten nicht zu einer relevanten Änderung der Bewertung. Gleiches gelte für die in der mündlichen Verhandlung aufgeworfene Frage, ob eine relevante Ausweitung der [X.] auf die Bevölkerung von [X.] dazu führen könne, dass es dem Kläger nicht zuzumuten sei, sich in [X.], [X.] oder [X.] niederzulassen; dies gelte umso mehr, als im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung für das [X.] deutlich mehr Ansteckungs- und Verdachtsfälle verzeichnet gewesen seien als in [X.]. Die individuelle Situation des [X.] führe ebenfalls nicht dazu, dass für ihn die Niederlassung in [X.], [X.] oder [X.] unzumutbar wäre. Er verfüge über die Fähigkeiten, die erforderlich seien, um auf dem Arbeitsmarkt in [X.], [X.] oder [X.] bestehen zu können; aus den vom Kläger vorgetragenen körperlichen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen (u.a. Amputation des Zeigefingers der rechten Hand; psychische Beeinträchtigungen) folge nicht, dass die Leistungsfähigkeit des [X.] auf relevante Weise eingeschränkt wäre.

6

Der Kläger rügt mit der Revision eine Verletzung des § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e [X.] und macht geltend: An die Zumutbarkeit der Niederlassung seien über die Wahrung des Existenzminimums hinausgehende Anforderungen zu stellen. Das Berufungsgericht sei bei seiner Bewertung der allgemeinen Lebensverhältnisse mithin von einem bundesrechtswidrig zu strengen Maßstab ausgegangen und habe infolgedessen unzureichende tatsächliche Feststellungen zur Zumutbarkeit der Niederlassung getroffen. Es sei schon nicht deutlich, wie der Verwaltungsgerichtshof seine drei Kriterien - die Gewährleistungen des Art. 3 [X.] bzw. Art. 4 GRC wahrendes Existenzminimum, keine anderweitige schwerwiegende Verletzung grundlegender Grund- und Menschenrechte, keine sonstige unerträgliche Härte - voneinander abgrenzen wolle. In Bezug auf die wirtschaftliche Existenzsicherung habe das Berufungsgericht die gegen seine Rechtsauffassung streitenden, auch im Ergebnis zutreffenden Argumente selbst benannt, auch wenn er diesen - rechtsfehlerhaft - nicht gefolgt sei.

7

Überdies hätte sich dem Berufungsgericht auch ohne einen entsprechenden Beweisantrag weiterer Aufklärungsbedarf zur Frage der Folgen der COVID-19-Pandemie auf die Möglichkeit, die eigene Existenz zu sichern, aufdrängen müssen. Jedenfalls bei der auf einen längeren Zeitraum bezogenen positiven Prognose hinreichender Existenzsicherung hätte es angesichts der festgestellten "angespannten" Lage nahegelegen, dass die COVID-19-bedingten Veränderungen Auswirkungen (nicht nur) auf die Wirtschaft, sondern auch auf die Gesamtbewertung hätten, denen auch ohne Beweisantrag durch weitere Aufklärung hätte nachgegangen werden müssen. Dies werde durch nachfolgende Veränderungen (u.a. kräftige Preissteigerungen, geringere Chancen für Tagelöhner) bestätigt.

8

Die Beklagte verteidigt das angegriffene Urteil.

9

Der Vertreter des [X.] bei dem [X.] hat sich nicht an dem Verfahren beteiligt.

Entscheidungsgründe

Die Revision des [X.] hat keinen Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof hat ohne Verstoß gegen [X.]undesrecht entschieden, dass von dem Kläger - in dem für die [X.]erufungsentscheidung maßgeblichen [X.]punkt (1.) - vernünftigerweise erwartet werden konnte, sich in einem der im [X.]erufungsurteil bezeichneten Orte des internen Schutzes niederzulassen (2.). Insbesondere hat er für die [X.]eurteilung der Anforderungen, welche für den internen Schutz an die Sicherung der wirtschaftlichen Existenz zu stellen sind, einen zutreffenden rechtlichen Maßstab angelegt (3.); die hierauf bezogene Verfahrensrüge des [X.] greift nicht durch (4.). Dem Kläger stehen nationale Abschiebungsverbote nicht zur Seite (5.). Die Revision hat auch im Übrigen keinen Erfolg (6.).

1. Maßgeblich für die rechtliche [X.]eurteilung des auf die Gewährung subsidiären Schutzes gerichteten Klagebegehrens ist das Asylgesetz ([X.]) in seiner aktuellen Fassung (derzeit: in der Fassung der [X.]ekanntmachung vom 2. September 2008 <[X.]G[X.]l. I S. 1798>, zuletzt geändert durch das am 1. Januar 2021 in [X.] getretene Neunundfünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches - Verbesserung des Persönlichkeitsschutzes bei [X.]ildaufnahmen vom 9. Oktober 2020 <[X.]G[X.]l. I S. 2075>). Rechtsänderungen, die nach der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz eintreten, sind im Revisionsverfahren zu berücksichtigen, wenn das [X.] - entschiede es anstelle des [X.] - sie seinerseits zu berücksichtigen hätte ([X.], Urteil vom 11. September 2007 - 10 [X.] 8.07 - [X.]E 129, 251 Rn. 19). Da es sich vorliegend um eine asylrechtliche Streitigkeit handelt, bei der das [X.] nach § 77 Abs. 1 [X.] regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im [X.]punkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung abzustellen hat, müsste es seiner Entscheidung, wenn es diese nunmehr träfe, die aktuelle Fassung zugrunde legen, soweit nicht hiervon eine Abweichung aus Gründen des materiellen Rechts geboten ist (stRspr, vgl. [X.], Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 [X.] 23.12 - [X.]E 146, 67 Rn. 12). Die maßgeblichen [X.]estimmungen haben sich seit der Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof nicht geändert.

Wegen des maßgeblichen [X.]punktes für die [X.]eurteilung der Sachlage hat die Entwicklung der Verhältnisse im Herkunftsstaat seit März 2020 außer [X.]etracht zu bleiben; für das Revisionsverfahren unerheblich ist mithin, dass das [X.]erufungsgericht angesichts der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in [X.] infolge der [X.]OVID-19-Pandemie seine Rechtsprechung modifiziert hat und auch im Falle eines leistungsfähigen, erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 [X.] i.V.m. Art. 3 [X.] derzeit regelmäßig als erfüllt sieht, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen ([X.], Urteil vom 17. Dezember 2020 - [X.] S 2042/20 [[X.]:[X.]:VGH[X.]W:2020:1217.A11S2042.20.00] - juris; a.A. weiterhin [X.], Urteil vom 26. Oktober 2020 - 13a [X.] - juris; [X.], Urteil vom 25. März 2021 - 1 [X.]f 388/19.A - juris; s.a. [X.], [X.] vom 15. Dezember 2020 - 2 [X.]vR 2187/20 - und vom 22. März 2021 - 2 [X.]vR 353/21 -).

2. Einer Zuerkennung subsidiären Schutzes für den Kläger, für den das [X.]erufungsgericht das Vorliegen der Voraussetzungen des subsidiären Schutzes (§ 4 [X.]) an seinem Herkunftsort nicht abschließend geprüft, aber auch nicht verneint hat, steht entgegen, dass er - vorbehaltlich der gesondert zu behandelnden wirtschaftlichen Existenzbedingungen (3.) - nach § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 [X.] auf die Städte [X.], [X.] und [X.] als Orte des internen Schutzes verwiesen werden kann. Das [X.]erufungsgericht ist auf der Grundlage eines mit [X.]undesrecht vereinbaren Maßstabes (s. dazu [X.], Urteil vom 18. Februar 2021 - 1 [X.] 4.20 - Rn. 13 ff. ) verfahrensfehlerfrei zu der [X.]ewertung gelangt, dass der Kläger in diesen Landesteilen keine begründete Furcht vor Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden hat (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 [X.]), er sicher und legal in diese Landesteile reisen kann und er dort aufgenommen wird. Dagegen sind von den [X.]eteiligten Sach- oder Verfahrensrügen auch nicht vorgetragen worden.

3. Das [X.]erufungsgericht ist des Weiteren im Einklang mit [X.]undesrecht verfahrensfehlerfrei (4.) zu der [X.]ewertung gelangt, dass von dem Kläger vernünftigerweise erwartet werden kann, sich in einer der genannten Städte niederzulassen (Zumutbarkeit der Niederlassung).

3.1 Die Niederlassung in einem sicheren Landesteil (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 [X.]) kann i.S.d. § 3e Abs. 1 Nr. 2 [X.] vernünftigerweise erwartet werden (Zumutbarkeit der Niederlassung), wenn bei umfassender wertender Gesamtbetrachtung der allgemeinen wie der individuellen persönlichen Verhältnisse am Ort des internen Schutzes (§ 3e Abs. 2 Satz 1 [X.]) nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit andere Gefahren oder Nachteile drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer für den internationalen Schutz relevanten Rechtsgutbeeinträchtigung gleichkommen, und auch sonst keine unerträgliche Härte droht. Der Sicherung der wirtschaftlichen Existenz am Ort des internen Schutzes ist dabei eine hervorgehobene [X.]edeutung beizumessen. Der [X.] hat zu den wirtschaftlichen Voraussetzungen, die insbesondere in den [X.]lick zu nehmen sind, in seinem Urteil vom 18. Februar 2021 - 1 [X.] 4.20 - (juris Rn. 26 ff., 33 ff.), das den [X.]eteiligten bekannt ist, dargelegt, dass und aus welchen Gründen das wirtschaftliche Existenzminimum am Ort des internen Schutzes nur auf einem Niveau gewährleistet sein muss, das eine Verletzung des Art. 3 [X.] nicht besorgen lässt; darüber hinausgehende Anforderungen sind keine notwendige Voraussetzung der Zumutbarkeit einer Niederlassung. Hieran hält der [X.] auch in Ansehung des ergänzenden Vorbringens des [X.] nach neuerlicher Sachprüfung fest.

3.2 Das [X.]erufungsgericht hat auf der Grundlage seines - ohne [X.] bestimmten - Maßstabes rechtsfehlerfrei dahin erkannt, dass der Kläger durch die wirtschaftlichen Lebensverhältnisse am Ort des internen Schutzes nicht der Gefahr ausgesetzt sein wird, dass seine Rechte aus Art. 3 [X.] verletzt werden, und es ihm deshalb auch insoweit zumutbar ist, sich dort niederzulassen. In Anwendung dieser Grundsätze hat es unter eingehender Auswertung und Würdigung hinreichend genauer und aktueller Informationen und in hinreichender Auseinandersetzung auch mit entgegenstehenden [X.]ewertungen im Rahmen seiner tatrichterlichen Würdigung des [X.] die Prognose getroffen, dass der Kläger seinen existenziellen Lebensunterhalt werde sichern können.

3.3 Der [X.] hält aus den in seinem Urteil vom 18. Februar 2021 - 1 [X.] 4.20 - Rn. 60 ff.) genannten Gründen daran fest, dass jedenfalls für die vorliegende Fallkonstellation keine Gründe vorliegen, den [X.] nach Art. 267 AEUV anzurufen. Auf den Einwand des [X.] (Schriftsatz vom 2. Juni 2021), er habe an seinem Herkunftsort in gesicherten materiellen Verhältnissen gelebt, sodass seine individuellen Lebensverhältnisse gerade nicht von großer Armut geprägt gewesen seien, kommt es weder für die Zumutbarkeit des internen Schutzes noch für den Maßstab an, ob am Ort des internen Schutzes ein für die allgemeinen Verhältnisse im Herkunftsland "(relativ) normales Leben" zu führen sei. Die Ausführungen zur [X.]egründung des Antrages, die näher bezeichneten Fragen dem [X.] zur Klärung vorzulegen, würdigen die auch vom [X.] ausgewerteten Dokumente sowie [X.] von Gerichten anderer Mitgliedstaaten im Ergebnis anders als der [X.] und enthalten keine Erwägungen, die der [X.] nicht bereits - der Sache nach - berücksichtigt und beschieden hat.

4. Der namentlich in [X.]ezug auf die Prognose der wirtschaftlichen Existenzsicherung vom Kläger mit der Aufklärungsrüge geltend gemachte Verfahrensmangel liegt nicht vor. Das [X.]erufungsgericht ist zu seiner [X.]ewertung verfahrensfehlerfrei gelangt.

4.1 Ein [X.] verletzt seine Pflicht zur erschöpfenden Sachverhaltsaufklärung, wenn sich ihm auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung eine weitere Sachverhaltsaufklärung von Amts wegen hätte aufdrängen müssen ([X.], [X.]eschluss vom 18. Februar 2015 - 1 [X.] 2.15 - juris Rn. 2). Eine sachgerechte Handhabung dieses Grundsatzes hat zwar unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung und der [X.] zu erfolgen (vgl. [X.], Urteil vom 17. April 2002 - 9 [X.]N 1.01 - [X.]E 116, 188 <197>). Dies enthebt die [X.]e aber nicht von der Verpflichtung, hinreichend konkret dargelegten Einwänden eines [X.]eteiligten nachzugehen und den Sachverhalt - gegebenenfalls auch unter Mitwirkung der [X.]eteiligten - weiter aufzuklären, sofern dies für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich ist (vgl. [X.], Urteil vom 26. August 1983 - 8 [X.] 76.80 - [X.]uchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 147 S. 10 f.).

4.2 Dem [X.]erufungsgericht musste sich in dem insoweit maßgeblichen [X.]punkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung (10. März 2020), aber auch nicht im Entscheidungszeitpunkt (16. März 2020) mit [X.]lick auf die Verbreitung des [X.]OVID-19-[X.] eine weitere Sachaufklärung - etwa durch Einholung von Auskünften sachkundiger Stellen sowie von Gutachten - unter dem Aspekt aufdrängen, ob diese eine möglicherweise entscheidungserhebliche Veränderung der für die Prognose der Existenzsicherung an den Orten des internen Schutzes entscheidungserheblichen Sachlage bewirkt habe oder im Prognosezeitraum bewirken könnte.

a) Der Kläger selbst hat in der mündlichen Verhandlung einen entsprechenden [X.]eweisantrag ausweislich der Sitzungsniederschrift, deren Unrichtigkeit nicht geltend gemacht ist, nicht gestellt. Der - anwaltlich vertretene - Kläger hat den von ihm geltend gemachten (vermeintlichen) Erkenntnisfortschritt nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung auch nicht zum Anlass für einen Antrag genommen, die mündliche Verhandlung wiederzueröffnen. [X.]eides schließt eine Verletzung der Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen erschöpfend aufzuklären, zwar nicht aus; das [X.]erufungsgericht hätte insbesondere auch ohne einen solchen Antrag die Verhandlung wiedereröffnen können und - hätte sich eine aufklärungsbedürftige, entscheidungserhebliche Veränderung der Sachlage nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung aufgedrängt - (wohl auch) wiedereröffnen müssen. Dass auch sein Prozessbevollmächtigter keinen Anlass zu entsprechenden Anträgen gesehen hat, legt zumindest nicht nahe, dass sich dem Gericht eine weitere Sachaufklärung hätte aufdrängen müssen.

b) Weder im maßgeblichen [X.]punkt noch im Entscheidungszeitpunkt musste sich dem [X.]erufungsgericht eine weitere Sachverhaltsaufklärung zu den Auswirkungen der [X.]OVID-19-Pandemie auf die wirtschaftliche Situation von Rückkehrern oder [X.]innenflüchtlingen an den Orten des internen Schutzes aufdrängen.

aa) Das [X.]erufungsgericht hatte allerdings eine Prognose zu den Lebensverhältnissen zu treffen. Dass die bisherige, auf die vorliegende "tagesaktuelle" Erkenntnislage gestützte [X.]ewertung infolge der [X.]OVID-19-Pandemie einer neuerlichen Überprüfung durch weitere Sachaufklärung bedürftig geworden sein könnte, musste sich dem [X.]erufungsgericht auch Mitte März 2020 nicht aufdrängen. Art, Umfang, Dynamik und Wirkungen des Pandemiegeschehens waren zu diesem [X.]punkt nicht vorhersehbar und legten für [X.] auch nicht einen Verlauf nahe, dass sich eine entscheidungserhebliche Veränderung der entscheidungserheblichen Sachlage als prüfungsbedürftig aufgedrängt hätte; sie sind zu diesem [X.]punkt selbst für die [X.]undesrepublik Deutschland (und in zahlreichen anderen [X.]), die nach den tatrichterlichen Feststellungen eine deutlich höhere Zahl von Ansteckungs- und Verdachtsfällen aufwies, erheblich unterschätzt worden.

Für die Notwendigkeit weiterer Sachaufklärung nicht hinreichend ist die allgemeine Erwägung, dass bei einer volatilen Sicherheits- und Versorgungslage auch schon kleinere Veränderungen beachtlich sein/werden können. Denn diese Auswirkungen hängen neben dem Risiko, sich mit dem [X.] zu infizieren oder gar in der Folge zu erkranken (dann ohne ein qualitativ hochwertiges, leistungsfähiges Gesundheitssystem), maßgeblich von den direkten oder durch Gegenmaßnahmen hervorgerufenen sozioökonomischen Wirkungen ab. Wie sich aus allgemein zugänglichen Quellen ergibt (https://de.wikipedia.org/wiki/[X.]OVID-19-Pandemie_in_[X.]), stiegen in [X.] erst ab Mai 2020 die Fallzahlen signifikant (und exponentiell), auch wenn bereits zuvor [X.]etriebs- und Schulschließungen ("[X.]") sowie Reisebeschränkungen verfügt worden waren. Klare Anzeichen für eine aufklärungsbedürftige, möglicherweise nachhaltige [X.]eeinträchtigung der sozioökonomischen Verhältnisse für Rückkehrer lagen aber bis zu diesem [X.]punkt nicht vor.

bb) Keine andere [X.]eurteilung rechtfertigen die in der [X.] benannten [X.] und Informationsquellen, die durchweg erst aus der [X.] nach der Entscheidung stammen und verfügbar bzw. bekanntgeworden sind. Sie sind allenfalls geeignet, retrospektiv eine Fehleinschätzung des [X.]erufungsgerichts zur Notwendigkeit einer weiteren Sachaufklärung als möglich erscheinen zu lassen; das "Aufdrängen" ist indes prospektiv im [X.]punkt der Entscheidung zu beurteilen. Schon deswegen bedarf es keiner Prüfung, ob sie in der Sache eine weitere Sachaufklärung hätten nahelegen können.

5. Gründe dafür, dass dem Kläger hilfsweise ein im [X.]erufungs- und Revisionsverfahren etwa zu beachtender ([X.], Urteil vom 8. September 2011 - 10 [X.] 15.10 - juris Rn. 18 ff.; [X.]eschluss vom 10. Oktober 2011 - 10 [X.] 24.11 - juris), gegenüber dem dort begehrten subsidiären Schutz nachrangiger Anspruch auf nationalen [X.] nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 [X.] zustehen könnte, sind im Revisionsverfahren nicht - auch nicht hilfsweise - geltend gemacht worden. Sie sind nach [X.] jedenfalls mit [X.]lick auf solche Abschiebungsverbote auszuschließen, die an die wirtschaftlichen Existenzbedingungen anknüpfen. Materielle Existenzbedingungen am Ort des internen Schutzes, welche die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.] ausfüllen, schließen jedenfalls die Zumutbarkeit nach § 3e Abs. 1 Nr. 2 [X.] aus.

6. Die Abschiebungsandrohung und die [X.]efristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots begegnen ebenfalls keinen revisionsrechtlich beachtlichen [X.]edenken.

7. [X.] folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § [X.] [X.] nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 [X.]. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 [X.] liegen nicht vor.

Meta

1 C 27/20

24.06.2021

Bundesverwaltungsgericht 1. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, 16. März 2020, Az: A 11 S 2977/18, Urteil

§ 3e AsylVfG 1992, § 3 Abs 1 AsylVfG 1992, § 3a Abs 3 AsylVfG 1992, § 3b AsylVfG 1992, § 3c AsylVfG 1992, § 4 AsylVfG 1992, § 60 Abs 7 AufenthG, § 60 Abs 5 AufenthG, Art 8 EGRL 83/2004, Art 4 EUGrdRCh, Art 4 Abs 4 EURL 95/2011, Art 8 Abs 1 EURL 95/2011, Art 3 MRK, § 86 Abs 2 VwGO, § 86 Abs 1 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 24.06.2021, Az. 1 C 27/20 (REWIS RS 2021, 4665)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 4665

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Referenzen
Wird zitiert von

B 4 AS 2/21 R

Zitiert

2 BvR 2187/20

2 BvR 353/21

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