Bundessozialgericht, Urteil vom 11.08.2015, Az. B 9 SB 1/14 R

9. Senat | REWIS RS 2015, 6845

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Gegenstand

Schwerbehindertenrecht - Merkzeichen G - erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr - psychische Gehstörung - Fibromyalgie - Versorgungsmedizinische Grundsätze - Regelbeispiele - gleich schwere Auswirkungen auf die Gehfunktion - Diskriminierungsverbot


Leitsatz

Psychische Gehstörungen können zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr führen, auch wenn sie Anfallsleiden oder Orientierungsstörungen nicht gleichzusetzen sind.

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des [X.] vom 16. Oktober 2013 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten noch um die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs (Merkzeichen) [X.] (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).

2

Bei der 1969 geborenen Klägerin war zunächst ein [X.]rad der Behinderung ([X.]dB) von 40 festgestellt (Bescheid vom [X.]). Auf erneuten Antrag stellte der beklagte [X.] einen [X.]dB von 50 fest, lehnte aber die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs [X.] ab (Bescheid vom [X.]; Erschöpfungssyndrom, Somatisierungsstörung, [X.], rezidivierende depressive Störung, ; Wirbelsäulensyndrom, [X.] mit [X.], [X.], ; Hautleiden mit [X.]elenkerkrankung, ; allergische Bronchitis, allergische Diathese, allergische Hauterkrankung, ). Den Widerspruch wies die [X.] zurück (Widerspruchsbescheid vom [X.]).

3

Das S[X.] hat die Klage, mit der die Klägerin ursprünglich einen höheren [X.]dB als 50 neben dem Merkzeichen [X.] begehrte, nach Einholung eines nervenärztlichen [X.]utachtens abgewiesen. Bei der Klägerin liege eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung, eine rezidivierende depressive Störung (mittelgradige Episode) und eine abhängige Persönlichkeitsstörung vor. Die Beeinträchtigungen im Bereich der Psyche seien mit einem Einzel-[X.]dB von 50 zu bewerten, der [X.]esamt-[X.]dB betrage 50. Eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr liege nicht vor. Soweit die Klägerin subjektiv das [X.]efühl habe, dass sie nur 400 Meter gehen könne, ordne sich dies unter dem [X.]efühl der Verschlimmerung einer allgemeinen Schmerzsymptomatik ein und entspreche nicht einer eigentlichen [X.]ehstörung (Urteil vom 5.3.2012).

4

Auf die Berufung der Klägerin hat das LS[X.] ein fachärztlich [X.] [X.]utachten eingeholt, das den [X.]esamt-[X.]dB mit 50 für angemessen hielt und bezüglich des geltend gemachten Nachteilsausgleichs [X.] ausführte, keiner der gesetzlich geregelten [X.] liege vor. Jedoch bestehe bei der Klägerin eine Schmerzproblematik durch das vorhandene Fibromyalgie-Syndrom, auch als somatoforme Störung, zT mit hypochondrischen Symptomen bei depressiven Episoden. Die Klägerin sei überzeugt von ihren Einschränkungen und auf die körperlichen Einschränkungen fixiert, wobei die Schmerzwahrnehmung durch psychogene Prozesse deutlich verstärkt werde. Die [X.] mit der Vorgabe von zwei Kilometern in 30 Minuten sei zu keiner Zeit ohne erhebliche, nicht zumutbare Schmerzen zu bewältigen. [X.]estützt auf das sozialmedizinische [X.]utachten hat das LS[X.] den Beklagten zur Feststellung des allein noch begehrten Nachteilsausgleichs [X.] verurteilt. Das im S[X.]-Verfahren eingeholte [X.]utachten sei demgegenüber nicht überzeugend, da es allein auf ein organisch bedingtes [X.]ehvermögen abstelle, wenn es ein subjektives [X.]efühl nicht als eigentliche [X.]ehstörung bezeichne (Urteil vom 16.10.2013).

5

Mit seiner Revision rügt der beklagte [X.] die Verletzung materiellen Rechts (§ 146 Abs 1 S 1 S[X.]B IX). Die Klägerin erfülle nicht die Beispielsfälle der Anlage zu § 2 [X.] ([X.]). Das bei ihr vorhandene Schmerzsyndrom sei diesen auch nicht vergleichbar.

6

Der beklagte Kreis beantragt,
das Urteil des [X.] vom 16. Oktober 2013 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des [X.] vom 5. März 2012 zurückzuweisen.

7

Die Klägerin beantragt,
die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

8

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Entscheidungsgründe

9

Die zulässige Revision des beklagten [X.] ist unbegründet (§ 170 Abs 1 S 1 [X.][X.]). Zu Recht hat das [X.] der Klage stattgegeben. Die Klage ist zulässig (dazu 1.) und begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Feststellung des Nachteilsausgleichs [X.] (dazu 2.).

1. [X.]egenstand des Revisionsverfahrens ist die Aufhebung des Berufungsurteils, mit dem das [X.] den Bescheid des Beklagten vom [X.] und den Widerspruchsbescheid der [X.] vom [X.] sowie das nachfolgende Urteil des [X.] abgeändert und den Beklagten verurteilt hat, bei der Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich [X.] festzustellen.

a) Dieses prozessuale Ziel verfolgt die Klägerin zulässigerweise mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 [X.][X.] - siehe zur statthaften Klageart etwa B[X.] Urteil vom 27.2.2002 - [X.] [X.] 6/01 R - Juris Rd[X.] 40).

b) Die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen der Nachteilsausgleiche ist in [X.] ([X.]) mit Wirkung vom 1.1.2008 durch das [X.] der [X.] in die allgemeine Verwaltung des Landes [X.] ([X.]VBl [X.] S 482) in Einklang mit höherrangigem Recht den [X.] übertragen worden. Dies hat der erkennende [X.] wiederholt entschieden(vgl B[X.]E 102, 149 = [X.]-1100 Art 85 [X.] 1; B[X.] Urteil vom 11.12.2008 - [X.] V 3/07 R - Juris; B[X.] Urteil vom [X.] - [X.] [X.] 3/08 R - Rd[X.] 13 ff mwN, 21; zum erneuten Übergang der Zuständigkeiten durch das hier nicht einschlägige [X.] [X.]esetz vgl B[X.]E 109, 154 = [X.]-3250 § 145 [X.] 2). Hieran hält der [X.] fest.

2. Die Klägerin hat wegen ihrer psychogenen [X.] Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs [X.].

a) Rechtsgrundlage für den Anspruch der Klägerin auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich [X.] sind §§ 145 Abs 1 S 1, 146 Abs 1 S 1 iVm § 69 Abs 1 und 4 [X.]B IX. [X.]emäß § 145 Abs 1 S 1 [X.]B IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 69 Abs 5 [X.]B IX Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr iS des § 147 Abs 1 [X.]B IX. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BV[X.]) zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen 69 Abs 1 und 4 [X.]B IX).

Nach § 146 Abs 1 S 1 [X.]B IX in der [X.] Ursprungsfassung des [X.]esetzes vom 19.6.2001 (B[X.]Bl I 1046) ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des [X.]ehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne [X.]efahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.Das [X.]esetz fordert in § 145 Abs 1 S 1, § 146 Abs 1 S 1 [X.]B IX eine doppelte Kausalität: Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit muss eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung muss sein [X.]ehvermögen einschränken (B[X.] Urteil vom 24.4.2008 - [X.]/9a [X.] 7/06 R - [X.]-3250 § 146 [X.] 1 Rd[X.] 12).

Die nähere Präzisierung des Personenkreises schwerbehinderter Menschen mit einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ergibt sich aus dem in § 69 Abs 1 S 5 [X.]B IX aF Bezug genommenen versorgungsrechtlichen Bewertungssystem, [X.] ursprünglich die aus den Erfahrungen der Versorgungsverwaltung und den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft gewonnenen "Anhaltspunkte für die ärztliche [X.]utachtertätigkeit im [X.] Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" ([X.]) waren. Diese sind seit 1.1.2009 abgelöst durch die auf der [X.]rundlage des § 30 Abs 17 (bzw Abs 16) BV[X.] erlassenen [X.] vom 10.12.2008 (VersMedV, B[X.]Bl I 2412). Zwischenzeitlichen Bedenken an dieser Ermächtigung des Verordnungsgebers insbesondere zum Erlass von Vorgaben für die Beurteilung von Nachteilsausgleichen (vgl Dau jurisPR-[X.] 24/2009 [X.] 4) hat der [X.]esetzgeber mit dem [X.]esetz vom 7.1.2015 (B[X.]Bl II 15) Rechnung getragen durch Schaffung einer nunmehr eigenständig in § 70 Abs 2 [X.]B IX angesiedelten Ermächtigungsgrundlage. Durch diese wird das [X.] seit 15.1.2015 ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die [X.]rundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des [X.]dB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung verbleibt es bei der bisherigen Rechtslage (vgl § 159 Abs 7 [X.]B IX; hierzu BT-Drucks 18/2953 und 18/3190 S 5).

[X.]emäß den [X.]rundsätzen für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche (Teil D [X.] 1 Buchst b S 1 der Anlage zu § 2 VersMedV ) ist ein schwerbehinderter Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, der infolge einer Einschränkung des [X.]ehvermögens, auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit, nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne [X.]efahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden (zur Anwendbarkeit der [X.]rundsätze und zu normähnlichen Wirkungen wie untergesetzliche Normen vgl zuletzt B[X.] Urteil vom 16.12.2014 - [X.] [X.] 2/13 R Rd[X.] 10 mwN; Loytved jurisPR-[X.] 12/2015 [X.] 3). Für die Bewegungseinschränkung ist nicht die Dauerhaftigkeit entscheidend (Loytved jurisPR-[X.] 12/2015 [X.] 3 mwN; anders bei Nachteilsausgleich a[X.], s Urteil des erkennenden [X.]s vom 11.8.2015 - [X.] [X.] 2/14 R Rd[X.] 16 f). Bei der Prüfung der Frage, ob die weiteren Voraussetzungen vorliegen, kommt es zudem nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - dh altersunabhängig von nicht behinderten Menschen - noch zu Fuß zurückgelegt werden (Teil D [X.] 1 Buchst b S 2 AnlVersMedV). Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Teil D [X.] 1 Buchst b S 3, 4 AnlVersMedV). Nähere Umschreibungen für einzelne Krankheitsbilder und Behinderungen enthalten darüber hinaus Teil D [X.] 1 Buchst d, e und f AnlVersMedV. Die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des [X.]ehvermögens sind danach ua als erfüllt anzusehen, wenn auf die [X.]ehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren [X.]liedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen [X.]dB von wenigstens 50 bedingen (Teil D [X.] 1 Buchst d S 1). Auch bei [X.] kommt es bei der Beurteilung entscheidend auf die Einschränkung des [X.]ehvermögens an. Dementsprechend ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit vor allem bei [X.] mit Beeinträchtigung der Herzleistung wenigstens nach [X.]ruppe 3 und bei [X.] mit dauernder Einschränkung der Lungenfunktion wenigstens mittleren [X.]rades anzunehmen (Teil D [X.] 1 Buchst d S 3), die ebenfalls mit einem [X.]dB von mindestens 50 zu bewerten sind. Besonderheiten gelten für hirnorganische Anfälle (Teil D [X.] 1 Buchst e) und [X.] infolge von Sehstörungen, Hörstörungen oder geistiger Behinderung (Teil D [X.] 1 Buchst f), die grundsätzlich nur ab einem Behinderungsgrad von wenigsten 70 Merkzeichenrelevanz entfalten. Weder das eine noch das andere in Teil D [X.] 1 AnlVersMedV konkret gelistete Krankheitsbild liegt - wovon das [X.] zutreffend ausgegangen ist - bei der Klägerin vor.

b) Psychische Störungen, die sich spezifisch auf das [X.]ehvermögen auswirken, können zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr führen, auch wenn sie Anfallsleiden oder [X.] nicht gleichzusetzen sind. Dies ergibt sich aus Folgendem:

Anspruch auf den Nachteilsausgleich [X.] hat über die genannten Regelbeispiele hinausgehend auch der schwerbehinderte Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen mit gleich schweren Auswirkungen auf die [X.]ehfunktion und die zumutbare Wegstrecke (vgl zur "[X.]eneralklausel" [X.] Sozialrecht aktuell 2015, 5, 8) dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis gleichzustellen ist. Teil D [X.] 1 AnlVersMedV enthält keine abschließende Listung in Betracht kommender Behinderungen aus dem Formenkreis einzelner medizinischer Fachrichtungen, sondern erfasst etwa auch psychische Behinderungen. Dies legt schon der - noch der gesetzlichen [X.] in § 60 Abs 1 S 1 Schwerbehindertengesetz (Schwb[X.]) aF entsprechende - Wortlaut (Teil D [X.] 1 Buchst b S 1 AnlVersMedV: "Einschränkung des [X.]ehvermögens, auch durch…") nahe, der mit der Regelung in § 146 Abs 1 S 1 [X.]B IX trotz der zum [X.] eingefügten Klammer übereinstimmt ("Einschränkung des [X.]ehvermögens (auch durch…)"; vgl BT-Drucks 14/5074 [X.]). Zwar hat der erkennende [X.] die inhaltgleiche Umschreibung der in Betracht kommenden Behinderungen in § 60 Abs 1 S 1 Schwb[X.] aF in seiner Entscheidung vom [X.] als abschließend betrachtet und psychisch erkrankte Personen, deren Leiden nicht mit "Anfällen" gleichzusetzen ist und nicht zu Störungen der Orientierungsfähigkeit führt, sondern nur zB mit Verstimmungen, Antriebsminderung und Angstzuständen ohne Betroffenheit des [X.]ehvermögens einhergeht, nicht in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr als erheblich beeinträchtigt angesehen (B[X.] Beschluss vom [X.] - 9 BVs 45/93). Zugrunde lag der Entscheidung die besondere Fallgestaltung einer starken Antriebsminderung, deretwegen es bei Spaziergängen in Begleitung des Ehemannes gelegentlich zu - überwindbaren - Bewegungsstopps kam.

Der [X.] hat andererseits schon damals hervorgehoben, dass mit dem Kriterium des "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigten Personenkreises" in §§ 59, 60 Schwb[X.] a[X.] der Kreis der Begünstigten gegenüber den "erheblich gehbehinderten Körperbehinderten, Beschädigten und Verfolgten" iS des früheren § 2 Abs 1 [X.] 2, 4 und 6, Abs 2 [X.]esetz über die unentgeltliche Beförderung von Kriegs- und Wehrdienstbeschädigten sowie anderen Behinderten vom [X.] (B[X.]Bl I 978; zur Verfassungsmäßigkeit BVerf[X.]E 39, 148) gerade erweitert werden und auf alle Schwerbehinderten ohne Rücksicht auf die Ursache ihrer Behinderung erstreckt werden sollte (BT-Drucks 8/2453 [X.], 10). Hiervon ausgehend hat er in seiner späteren Entscheidung vom [X.] die in Ziff 30 Abs 3 bis 5 der [X.] 1983 (ebenso [X.] 1996 oder auch zuletzt 2008) beschriebenen und Teil D [X.] 1 Buchst d bis f AnlVersMedV entsprechenden Behinderungen und Krankheitsbilder in Parallele zur Vorgehensweise bei der Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs a[X.] (hierzu jetzt Teil D [X.] 3 AnlVersMedV) als [X.] typisiert und diese Typisierung später bestätigt (B[X.] Urteil vom 24.4.2008 - [X.]/9a [X.] 7/06 R - [X.]-3250 § 146 [X.] 1 Rd[X.] 12). Bei diesen [X.]n sind nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für das Merkzeichen [X.] als erfüllt anzusehen. Dort nicht erwähnte Behinderungen sind aber keineswegs ausgeschlossen.

Der umfassende Behindertenbegriff iS des § 2 Abs 1 S 1 [X.]B IX gebietet im Lichte des verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren UN-konventionsrechtlichen Diskriminierungsverbots (Art 3 Abs 3 S 2 [X.][X.]; Art 5 Abs 2 [X.], hierzu B[X.]E 110, 194 = [X.]-1100 Art 3 [X.] 69 Rd[X.] 31) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen. Den nicht erwähnten Behinderungen sind die Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab zur Seite zu stellen. Anspruch auf Nachteilsausgleich [X.] hat deshalb auch ein schwerbehinderter Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen als den in Teil D [X.] 1 Buchst d bis f AnlVersMedV genannten [X.]n dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis mit gleich schweren Auswirkungen auf die [X.]ehfunktion gleichzustellen ist (vgl B[X.] Urteil vom [X.] - 9 RVs 1/96 - [X.] 3-3870 § 60 [X.] 2). Dies gilt auch für psychosomatische oder psychische Behinderungen und Krankheitsbilder, wie das der Entscheidung vom [X.] ua zugrunde liegende Schmerzsyndrom oder das hier im Falle der Klägerin bestehende Fibromyalgie-Syndrom und die damit einhergehende Schmerzproblematik.

Schwerbehinderte Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen hat der [X.] schon in der Vergangenheit von der Vergünstigung des Nachteilsausgleichs [X.] nicht generell ausgeschlossen, sondern lediglich psychische Beeinträchtigungen, durch welche die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sein kann, ohne dass das [X.]ehvermögen betroffen ist, auf eine Vergleichbarkeit mit den [X.]n bei Anfällen und Störungen der Orientierungsfähigkeit beschränkt (B[X.] Beschluss vom [X.] - 9 BVs 45/93 - Juris; zu Schmerzattacken etwa Hessisches [X.] Urteil vom 17.2.1998 - L 4 [X.] 1351/95 - Juris). Für psychische Beeinträchtigungen, die sich spezifisch auf das [X.]ehvermögen auswirken, gilt diese Beschränkung indessen nicht. In solchen Fällen sind auch andere Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab in Betracht zu ziehen (vgl auch [X.] Berlin-Brandenburg Urteil vom 16.1.2014 - L 13 [X.] 51/12 - Juris Rd[X.] 19; [X.] in: [X.], jurisPK-[X.]B IX, 2. Aufl 2015, [X.]B IX § 146 Rd[X.] 16; [X.] in [X.]/[X.], Stand 4/15, [X.]B IX, § 146 Rd[X.] 50).

Der Verordnungsgeber ist allerdings für künftige Fälle nicht daran gehindert, die Voraussetzungen des Merkzeichens [X.] dadurch einzuschränken, dass er für Fälle psychischer [X.]ehbehinderungen einen Einzel-[X.]dB von zB 70 verlangt.

c) Durch die psychische Erkrankung liegen bei der Klägerin gleich schwere Auswirkungen auf die [X.]ehfunktion und die zumutbare Wegstrecke vor wie bei dem in Teil D [X.] 1 Buchst d AnlVersMedV beispielhaft aufgeführten Personenkreis.

Entsprechend der vom [X.]esetz geforderten doppelten Kausalität (s oben II.2.) ist Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen und diese Behinderung schränkt sein [X.]ehvermögen ein (vgl B[X.] Urteil vom 24.4.2008 - [X.]/9a [X.] 7/06 R - [X.]-3250 § 146 [X.] 1 Rd[X.] 12). Nach den Feststellungen des [X.] steht fest, dass die Klägerin wegen ihrer psychischen Behinderung durch das Fibromyalgie-Syndrom, die somatoforme Störung und Schmerzproblematik schwerbehindert ist, die psychische Behinderung sich unmittelbar auf das [X.]ehvermögen auswirkt, und die Klägerin deswegen eine im Ortsverkehr üblicherweise noch zu Fuß zurückzulegende Wegstrecke von etwa zwei Kilometern in 30 Minuten nicht zurücklegen kann. Der Beklagte hat gegen die bindenden Feststellungen des [X.] (vgl § 163 [X.][X.]) keine zulässigen und begründeten Verfahrensrügen erhoben.

Soweit der Beklagte meint, die Einschränkung der [X.]ehstrecke beruhe bei der Klägerin allein auf einer subjektiven Prognose, ist eine Überschreitung der [X.]renzen der Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 S 1 [X.][X.]; vgl dazu B[X.]E 94, 133, 137 Rd[X.] 18 mwN; B[X.] Urteil vom 14.12.2011 - [X.] R 2/11 R - Juris Rd[X.] 20) auch nicht sinngemäß dargetan. Weder zeigt der Beklagte auf noch ist sonst ersichtlich, dass ein (medizinischer) Erfahrungssatz zu psychischen [X.]en oder in Bezug auf die Messung der relevanten Wegstrecke (hierzu die Äußerung des Sachverständigenbeirats, zitiert nach [X.]/[X.] [X.]rundsätze, 6. Aufl [X.]) existiert, mit dem die Beweiswürdigung des [X.] nicht in Einklang steht. Im Übrigen hat sich das [X.] mit den einander entgegenstehenden Ergebnissen der eingeholten Sachverständigengutachten auseinandergesetzt und sich frei von [X.] überzeugt, dass das vom Sachverständigen Dr. [X.] herausgefilterte subjektive [X.]efühl der Klägerin, nicht mehr als 400 m laufen zu können, Ausdruck ihrer unstreitig schweren psychischen Beeinträchtigung ist und deshalb in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen Dr. [X.] nicht vor dem Hintergrund einer organisch bedingten [X.]ehstörung betrachtet werden könne.

3. [X.] beruht auf § 193 [X.][X.].

Meta

B 9 SB 1/14 R

11.08.2015

Bundessozialgericht 9. Senat

Urteil

Sachgebiet: SB

vorgehend SG Dortmund, 5. März 2012, Az: S 3 SB 453/09, Urteil

§ 146 Abs 1 S 1 SGB 9, § 145 Abs 1 S 1 SGB 9, § 2 Abs 1 S 1 SGB 9, § 69 Abs 1 SGB 9, § 69 Abs 4 SGB 9, § 70 Abs 2 SGB 9, § 159 Abs 7 SGB 9, § 60 Abs 1 S 1 SchwbG, § 2 UnBefG, § 30 Abs 16 BVG, § 3 Abs 1 Nr 7 SchwbAwV, § 2 VersMedV, Anlage Teil D Nr 1 Buchst b S 1 VersMedV, Anlage Teil D Nr 1 Buchst b S 3 VersMedV, Anlage Teil D Nr 1 Buchst d VersMedV, Anlage Teil D Nr 1 Buchst e VersMedV, Anlage Teil D Nr 1 Buchst f VersMedV, Art 5 Abs 2 UNBehRÜbk, Art 3 Abs 3 S 2 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 11.08.2015, Az. B 9 SB 1/14 R (REWIS RS 2015, 6845)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 6845

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