Bundesfinanzhof, Beschluss vom 01.07.2010, Az. V B 62/09

5. Senat | REWIS RS 2010, 5257

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Gegenstand

Vollzugsdefizite bei der Besteuerung von Umsätzen im Inland und im Unionsgebiet - Darlegung eines Verstoßes gegen den unionsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz - Keine "Gleichheit im Unrecht" - Umsatzsteuerbefreite Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin


Leitsatz

1. NV: Eine Belastungsungleichheit durch Vollzugsmängel bei der Steuererhebung führt erst dann zur Verfassungswidrigkeit der materiell-rechtlichen Norm, wenn sich eine Erhebungsregelung gegenüber einem Besteuerungstatbestand in der Weise strukturell gegenläufig auswirkt, dass der Besteuerungsanspruch weitgehend nicht durchgesetzt werden kann. Dies setzt "wesentliche" Erhebungsdefizite bzw. "gravierende" Erhebungsmängel für den Regelfall des Besteuerungsverfahrens voraus .

2. NV: Ein Verstoß gegen den unionsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz wird nicht hinreichend dargelegt, wenn der Kläger lediglich behauptet, dass bestimmte Umsätze in mehreren Mitgliedstaaten nicht besteuert würden, aber nicht (durch Bezeichnung von Rechtsgrundlagen und/oder Zitieren von Gerichtsentscheidungen) konkretisiert, worauf die Nichtbesteuerung beruht .

Gründe

1

Die Beschwerde hat keinen Erfolg.

2

Nach § 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist die Revision u.a. zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) oder die Fortbildung des Rechts eine Entscheidung des [X.] ([X.]) erfordert (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 FGO). Die Nichtzulassung kann mit der Beschwerde angefochten werden (§ 116 Abs. 1 FGO). In der Beschwerdebegründung müssen die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO dargelegt werden (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO).

3

1. Die vom Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) aufgeführten Rechtsfragen haben keine grundsätzliche Bedeutung.

4

Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn die für die Beurteilung des Streitfalls maßgebliche Rechtsfrage das Interesse der Allgemeinheit an einer einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Die Zulassung der Revision kommt nur wegen einer klärungsbedürftigen und klärbaren Rechtsfrage in Betracht. An der Klärungsbedürftigkeit fehlt es, wenn die streitige Rechtsfrage aufgrund der Rechtsprechung bereits geklärt ist (vgl. [X.]-Beschluss vom 2. April 2009 [X.]/08, [X.]/NV 2009, 1284, m.w.N.).

5

a) Die vom Kläger aufgeworfene Rechtsfrage, ob die Steuer erhoben werden darf, wenn eine mangelhafte Durchsetzung die gleiche Steuerbelastung in Frage stellt, ist durch die Rechtsprechung des [X.] ([X.]) und des [X.] bereits geklärt:

6

Danach verlangt der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) für das Steuerrecht, dass die Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden. Eine Belastungsungleichheit, die durch [X.] bei der Steuererhebung hervorgerufen wird, wie sie immer wieder vorkommen können und sich auch tatsächlich ereignen, führt indes noch nicht zu einer gleichheitswidrigen Benachteiligung einzelner Steuerpflichtiger und damit zur Verfassungswidrigkeit der materiell-rechtlichen Norm. Etwas anderes gilt dann, wenn sich eine Erhebungsregelung gegenüber einem Besteuerungstatbestand in der Weise strukturell gegenläufig auswirkt, dass der [X.] weitgehend nicht durchgesetzt werden kann, und dieses Ergebnis dem Gesetzgeber zuzurechnen ist (vgl. [X.]-Urteil vom 27. Juni 1991  2 BvR 1493/89, [X.]E 84, 239, [X.] 1991, 654; [X.]-Beschluss vom 29. Oktober 2003 [X.]/03, [X.]/NV 2004, 540). Dies setzt "wesentliche" [X.] bzw. "gravierende" Erhebungsmängel voraus ([X.]-Urteil vom 9. März 2004  2 BvL 17/02, [X.]E 110, 94, [X.] 2005, 56), wobei maßgeblich auf den Regelfall des Besteuerungsverfahrens abzustellen ist ([X.]-Urteile in [X.]E 84, 239, [X.] 1991, 654, und in [X.]E 110, 94, [X.] 2005, 56).

7

Der Kläger hat hierzu lediglich behauptet, dass die Umsatzsteuer auf ärztliche Leistungen plastischer Chirurgen in einigen Gegenden [X.] --wozu auch [X.] gehöre-- nicht erhoben werde, aber nicht substantiiert dargelegt, dass insoweit "wesentliche" [X.] bzw. "gravierende" Erhebungsmängel vorliegen und nicht nur immer wieder vorkommende [X.]. Abgesehen davon ist weder ersichtlich noch vom Kläger vorgetragen, dass eine Nichterhebung auf einer strukturell gegenläufigen Erhebungsregel beruht. Schließlich vermittelt der Gleichheitssatz keinen Anspruch auf Anwendung einer rechtswidrigen Verwaltungspraxis und damit auf "Gleichheit im Unrecht" ([X.]-Beschluss vom 26. September 2007 [X.], [X.]E 219, 245, [X.] 2008, 405, unter 2.d, m.w.N.).

8

b) Mit der Rechtsfrage, ob die Berufung der Rechtsprechung auf den [X.] ([X.]) und die daraus folgende Umsetzung durch die Finanzverwaltung dann noch möglich ist, wenn die Rechtsprechung in anderen [X.] überhaupt nicht umgesetzt wird, legt der Kläger weder eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dar noch liegt eine solche vor.

9

aa) Zu den nach Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der [X.] zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/[X.] ([X.]/[X.]) steuerfreien "Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin" hat der [X.] entschieden, dass diese der Diagnose, Behandlung und, soweit möglich, der Heilung von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen dienen (vgl. [X.]-Urteile vom 6. November 2003 [X.]/01, [X.], [X.]. 2003, [X.], [X.]/NV Beilage 2004, 40 Rdnr. 48; vom 27. April 2006 [X.]/04 und [X.]/04, [X.], [X.]. 2006, [X.], [X.]/NV Beilage 2006, 299 Rdnr. 24, und vom 8. Juni 2006 [X.]/05, [X.], [X.]. 2006, [X.], [X.]/NV Beilage 2006, 442 Rdnr. 26). Sie müssen einen therapeutischen Zweck haben ([X.]-Urteil vom 20. November 2003 C-307/01, [X.], [X.]. 2003, [X.], [X.]/NV Beilage 2004, 115 Rdnr. 58). Keine Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin sind dagegen ärztliche Leistungen, Maßnahmen oder medizinische Eingriffe, die zu anderen Zwecken erfolgen ([X.]-Urteile vom 14. September 2000 [X.]/98, [X.], [X.]. 2000, [X.], [X.]/NV Beilage 2001, 31 Rdnr. 18; vom 10. September 2002 [X.]/00, [X.], [X.]. 2002, [X.], [X.]/NV Beilage 2003, 30 Rdnr. 38; vom 20. November 2003 [X.]/01, Unterpertinger, [X.]. 2003, [X.], [X.]/NV Beilage 2004, 111 [X.]. 39 und 41; [X.] in [X.]. 2003, [X.], [X.]/NV Beilage 2004, 115 Rdnr. 57). Aus diesen Entscheidungen hat der Senat gefolgert, dass Schönheitsoperationen nicht unter die Steuerbefreiung fallen, wenn deren Zweck nicht der Schutz der menschlichen Gesundheit ist ([X.]-Urteil vom 15. Juli 2004 [X.], [X.]E 206, 471, [X.] 2004, 862).

bb) Sofern in anderen Mitgliedstaaten die Umsätze von Ärzten aus chirurgisch-plastischen Operationen stets steuerfrei wären, käme zwar ein Verstoß gegen den gemeinschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz in Betracht. Ein solcher liegt vor, wenn unterschiedliche Vorschriften auf vergleichbare Situationen angewandt werden oder wenn dieselbe Vorschrift auf unterschiedliche Situationen angewendet wird (vgl. [X.]-Urteil vom 23. April 2009 [X.]/07, [X.], [X.]. 2009, [X.]. 52, m.w.N.). Der Kläger hat hierzu lediglich behauptet, dass Schönheitsoperationen in mehreren Mitgliedstaaten nicht besteuert würden, aber nicht --durch Bezeichnung von Rechtsgrundlagen und/oder Zitieren von [X.] konkret dargelegt, worauf dies beruht.

cc) Im Übrigen ist es auch nach der Rechtsprechung des [X.] einem Steuerpflichtigen versagt, sich zu eigenen Gunsten auf eine fehlerhafte Rechtsanwendung bei anderen zu berufen (vgl. [X.]-Urteile vom 9. Oktober 1984 [X.]/83, [X.]/[X.], [X.]. 1984, 03465 Rdnr. 15; vom 31. März 1993 [X.]/85, [X.] u.a., [X.]. 1993, [X.]. 197).

c) Die Rechtsfrage, welcher Gesundheitsbegriff der Feststellung zur Erhebung der Umsatzsteuer zugrunde zu legen ist und wer (behandelnder Arzt, Gutachter, Patient) diese Feststellung zu treffen hat, ist nicht klärungsbedürftig.

Nach der Rechtsprechung des [X.] und des [X.] sind die Steuerbefreiungen des Art. 13 der [X.]/[X.] autonome gemeinschaftsrechtliche Begriffe, die eine von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedliche Anwendung des Mehrwertsteuersystems vermeiden sollen (ständige Rechtsprechung, vgl. [X.]-Urteile Unterpertinger in [X.]. 2003, [X.], [X.]/NV Beilage 2004, 111 Rdnr. 34; vom 14. Juni 2007 [X.], [X.], [X.]/NV Beilage 2007, 394, Rdnr. 17). Ob ein bestimmter Umsatz der Mehrwertsteuer zu unterwerfen oder von ihr zu befreien ist, kann folglich nicht davon abhängen, wie der Begriff der Gesundheit durch die [X.] definiert wird (vgl. [X.]-Beschluss vom 18. Februar 2008 [X.]/06, [X.]/NV 2008, 1001, unter 4.a, bb).

Die Feststellung, ob bei chirurgisch-plastischen Operationen steuerpflichtige oder --wegen medizinischer Indikation-- steuerfreie Leistungen vorliegen, hat der behandelnde Arzt unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung zu treffen. Dabei kann im Regelfall von einer medizinischen Indikation ausgegangen werden, wenn die Kosten der [X.] getragen werden (vgl. [X.]-Urteil in [X.]E 206, 471, [X.] 2004, 862, unter 3.).

2. Die Revision ist auch nicht zur Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 FGO) zuzulassen, um die vom Kläger bezeichneten Rechtsfragen zu klären.

Eine Zulassung der Revision zur Fortbildung des Rechts ist nur erforderlich, wenn über bisher ungeklärte abstrakte Rechtsfragen zu entscheiden wäre (vgl. [X.]-Beschluss vom 10. November 2009 [X.]/09, Zeitschrift für Steuern und Recht 2010, [X.]; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 115 Rz 41, m.w.N.).

Die erste und die dritte der vom Kläger aufgeworfenen Rechtsfragen sind, wie sich den Ausführungen unter 1. a) und 1. c) entnehmen lässt, als geklärt anzusehen. Hinsichtlich der zweiten Rechtsfrage scheitert eine Revisionszulassung bereits daran, dass der Kläger die Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage nicht i.S. von § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO dargelegt hat.

Meta

V B 62/09

01.07.2010

Bundesfinanzhof 5. Senat

Beschluss

vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 20. April 2009, Az: 16 K 393/08, Urteil

Art 3 Abs 1 GG, § 4 Nr 14 UStG 2005, Art 13 Teil A Abs 1 Buchst c EWGRL 388/77, § 115 Abs 2 Nr 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 2 FGO, § 116 Abs 1 FGO, § 116 Abs 3 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 01.07.2010, Az. V B 62/09 (REWIS RS 2010, 5257)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 5257


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. V B 62/09

Bundesfinanzhof, V B 62/09, 01.07.2010.


Az. 1 BvR 2301/10

Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 2301/10, 14.10.2010.


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2 BvL 17/02

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