Bundesgerichtshof, Beschluss vom 30.06.2010, Az. IV ZR 229/07

4. Zivilsenat | REWIS RS 2010, 5315

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Gegenstand

Berufung im Streit um das Bestehen einer Wohngebäudeversicherung: Nichtzulassung neuer Verteidigungsmittel wegen Nachlässigkeit der Partei; Ermittlung tatsächlicher Umstände durch die Parteien aufgrund der Prozessförderungspflicht


Tenor

Auf die Beschwerde der Beklagten wird die Revision gegen das Urteil des 8. Zivilsenats des [X.] vom 2. August 2007 zugelassen.

Das vorbezeichnete Urteil wird gemäß § 544 Abs. 7 ZPO aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Streitwert: 625.000 €

Gründe

1

I. Die [X.]en streiten um das Bestehen eines Wohngebäudeversicherungsvertrages. Am 16. Januar 2006 beantragte der Kläger über ein Vermittlungsbüro bei der [X.] unter anderem eine verbundene Wohngebäudeversicherung für ein von ihm in [X.] erworbenes Gebäude, in dem sich außer vier Wohneinheiten eine größere Geschäftsfläche befindet.

2

Nach Erhalt des Versicherungsscheins widersprach der Kläger diesem mit Schreiben vom 1. Februar 2006, weil er von dem mit dem Versicherungsvermittler geführten Gespräch abweiche. Entgegen dem aufgenommenen Antrag habe er klar zum Ausdruck gebracht, dass es sich um ein überwiegend leer stehendes Gebäude handele. Der Zugang dieses Schreibens ist streitig.

3

Jedenfalls suchte der Kläger in dieser Angelegenheit zunächst den Vermittler und danach eine Mitarbeiterin in der [X.] der [X.] auf. Dies führte dazu, dass die Beklagte einen "Nachtrag Nr. 1 zum Versicherungsschein" erstellte. Danach ist das versicherte Objekt als "[X.]" bezeichnet, versichert ist unter anderem die Haftpflicht des Versicherungsnehmers "als Vermieter oder Besitzer eines Gebäudes mit fünf privat genutzten Wohneinheiten", und unter "Besondere Vereinbarungen/Hinweise" heißt es unter anderem:

"Es handelt sich um ein Wohn- und Geschäftsgebäude mit vier Wohneinheiten und circa 400 qm Bürofläche. Es ist zurzeit nur eine Wohneinheit bewohnt. In den anderen Wohneinheiten werden gerade Renovierungsarbeiten durchgeführt. …"

4

Dem Vertrag liegen die [X.] 2002 zugrunde.

5

Mit Schreiben vom 10. März 2006 erklärte die Beklagte den Rücktritt vom Vertrag wegen Anzeigepflichtverletzung, weil ihr Schadensregulierer bei einer Ortsbesichtigung am 16. Februar 2006 anlässlich eines gemeldeten Leitungswasserschadens festgestellt habe, dass das Gebäude unbewohnt sei. Außerdem erklärte sie mit Schreiben vom 26. Juli 2006 die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung, weil der Kläger das vollständige [X.] des Objekts ebenso verschwiegen habe wie Vorschäden beim [X.]. Im Laufe des Rechtsstreits hat die Beklagte in zweiter Instanz erneut den Rücktritt und die Anfechtung erklärt mit der neuen Begründung, dass der Kläger falsche Angaben zur Nutzfläche gemacht habe und dass bei zutreffender Angabe das Gebäude nicht mehr als Wohngebäude zu versichern gewesen wäre.

6

Mit der Klage begehrt der Kläger die Feststellung, dass der Versicherungsvertrag in Form des Nachtrags Nr. 1 vom 2. Februar bis 26. Februar 2006 bestanden habe und weder durch den Rücktritt noch die Anfechtung aufgehoben sei. Die Vorinstanzen haben dem Klagebegehren entsprochen.

7

Zur Begründung hat das Berufungsgericht ausgeführt, dass ein Rücktrittsgrund gemäß §§ 23 [X.] 2002, 16 [X.] oder ein Anfechtungsgrund gemäß § 22 [X.] im Hinblick auf Angaben des [X.] zum Leerstand des Gebäudes, zur Art der Nutzung des Gebäudes und zu Vorschäden nicht vorliege.

8

Den Vortrag der [X.] zu Falschangaben des [X.] bezüglich der Größe der Geschäftsfläche hat das Berufungsgericht nach § 531 Abs. 2 ZPO unberücksichtigt gelassen, weshalb auch Rücktritt und Anfechtung, soweit hierauf gestützt, erfolglos blieben.

9

II. 1. Die Nichtberücksichtigung des Vorbringens der [X.] zur behaupteten arglistigen Täuschung durch Falschangaben des [X.] zur Größe der Geschäftsfläche verletzt ihren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise. Die Zurückweisung dieses Vorbringens ist nicht durch § 531 Abs. 2 ZPO gerechtfertigt.

Es kann dahinstehen, ob die prozessrechtlichen Beschleunigungs- und Präklusionsvorschriften der ZPO (§§ 282, 296, 531 ZPO) der [X.] gegebenenfalls auch abverlangen, ein bestehendes Anfechtungsrecht auszuüben, bevor die entsprechende materiell-rechtliche Frist - hier § 124 BGB - abgelaufen ist, wenn sie nicht Gefahr laufen will, mit dem der Anfechtung zugrunde liegenden Tatsachenvorbringen ausgeschlossen zu werden ([X.], 242, 243 f.; ebenso im Ergebnis Schenkel, [X.], 790; vgl. ferner zur [X.], 37, 39 ff.) oder ob bei Gestaltungsrechten generell zwischen der Ausübung und ihrer Geltendmachung im Prozess zu unterscheiden und nur die Tatsachenbehauptung, dass das Recht ausgeübt worden ist, als Verteidigungsmittel im Sinne der prozessualen Verspätungsvorschriften anzusehen ist (so ausdrücklich [X.]/Prütting, 3. Aufl. § 296 Rdn. 53; vgl. zur Zulassung eines in zweiter Instanz erklärten Rücktritts auch [X.] 2004, 498, 499 f. sowie zur Zulässigkeit der Berufung auf erst in zweiter Instanz herbeigeführte Anspruchsvoraussetzungen durch Erstellung einer fälligkeitsbegründenden Schlussrechnung [X.], Urteile vom 6. Oktober 2005 - [X.]/03 - NJW-RR 2005, 1687 unter 2 b und vom 9. Oktober 2003 - [X.] - NJW-RR 2004, 167 unter [X.]; zustimmend [X.]/[X.], ZPO 28. Aufl. § 531 Rdn. 30; Musielak/[X.], ZPO 7. Aufl. § 296 Rdn. 6; Musielak/[X.] aaO § 531 Rdn. 19; [X.]/[X.], ZPO 30. Aufl. § 296 Rdn. 1; [X.]/[X.] aaO § 531 Rdn. 24).

Der [X.] ist unabhängig hiervon jedenfalls keine Nachlässigkeit i.S. des § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO zur Last zu legen. Denn sie hat unbestritten erst durch das Gutachten vom 26. Januar 2007 und damit nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils Kenntnis davon erlangt, dass der Kläger die Flächengröße falsch angegeben hatte. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts lässt sich der Vorwurf prozessualer Nachlässigkeit nicht damit begründen, dass sie die Falschangabe des [X.] bereits in erster Instanz hätte erkennen können, weil sie schon nach Erhalt der Bauzeichnungen vom Kläger die Möglichkeit gehabt hätte, seine Angaben zur Größe der Geschäftsfläche überprüfen zu lassen. Dabei verkennt das Berufungsgericht, dass ein konkreter Anlass für die Beklagte, den Größenangaben des [X.] zu misstrauen und deshalb insoweit eine Überprüfung, die immerhin eine Flächenermittlung durch einen Sachverständigen erforderte, vorzunehmen, weder festgestellt noch ersichtlich ist. Dann liegt aber keine Nachlässigkeit vor, da die [X.]en aufgrund der Prozessförderungspflicht allenfalls bei Vorliegen besonderer Umstände gehalten sein können, tatsächliche Umstände, die ihnen nicht bekannt sind, erst noch zu ermitteln; generell trifft sie eine solche Pflicht nicht ([X.], Urteile vom 6. November 2008 - [X.]/07 - NJW-RR 2009, 329 [X.]. 15 f. und vom 15. Oktober 2002 - [X.]/01 - NJW 2003, 200 unter II 6 b; [X.]/[X.] aaO).

Auf etwaige Schlüssigkeits- und Substantiierungsbedenken beim Arglistvorwurf bezüglich der Geschäftsflächenangabe hätte das Berufungsgericht gemäß § 139 ZPO hinweisen müssen. Deshalb kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Entscheidung auf dem Gehörsverstoß beruht.

2. Im Übrigen ist ein Zulassungsgrund nicht dargelegt. Das Berufungsgericht hat die Voraussetzungen für einen Rücktritt und eine Arglistanfechtung aufgrund der bereits in erster Instanz vorgetragenen Umstände in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise verneint. Insoweit hat der [X.] auch die gerügte Grundrechtsverletzung (Art. 103 Abs. 1 GG) geprüft und für unbegründet erachtet.

[X.]                                          Dr. Kessal-Wulf                                      Felsch

               Harsdorf-Gebhardt                                            Lehmann

Meta

IV ZR 229/07

30.06.2010

Bundesgerichtshof 4. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZR

vorgehend OLG Celle, 2. August 2007, Az: 8 U 268/06, Urteil

§ 16 VVG 2006, § 22 VVG 2006, § 23 VGB 2002, Art 103 Abs 1 GG, § 531 Abs 2 S 1 Nr 3 ZPO, § 123 BGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 30.06.2010, Az. IV ZR 229/07 (REWIS RS 2010, 5315)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 5315

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Referenzen
Wird zitiert von

VIII ZR 212/17

VIII ZR 256/11

X ZR 77/10

IV ZR 229/07

2 U 58/20

2 U 37/18

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