Bundesgerichtshof, Beschluss vom 13.12.2022, Az. 6 StR 467/22

6. Strafsenat | REWIS RS 2022, 8381

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Gegenstand

Strafverfahren wegen besonders schwerer Vergewaltigung: Vernehmungsersetzende Vorführung der Ton-Bild-Aufzeichung einer früheren richterlichen Vernehmung der Verletzten


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 15. Juni 2022 aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Rechtsmittels – an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen besonders schwerer Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf Verfahrensbeanstandungen und die Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Rüge, § 255a Abs. 2 [X.] sei verletzt worden, Erfolg (§ 349 Abs. 4 [X.]), so dass es eines [X.] auf die weiteren Verfahrensrügen und sachlich-rechtlichen Beanstandungen nicht bedarf.

2

1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

3

Die [X.] hat die Vernehmung der zur Tatzeit volljährigen Nebenklägerin in der Hauptverhandlung ersetzt durch die Vorführung von [X.] ihrer ermittlungsrichterlichen Vernehmungen. Die dem zugrundeliegende Entscheidung hat sie durch Beschluss getroffen und in diesem ausschließlich ausgeführt: „Die [X.] der richterlichen Vernehmungen der Zeugin    M.               , vom 17.03.2021 und 17.09.2021 sollen gemäß § 255a [X.] in Augenschein genommen werden und die Vernehmung der Zeugin in der Hauptverhandlung ersetzen.“ Auf Anregung der Verteidigung wurden anschließend verschiedene Videosequenzen wiederholt in Augenschein genommen.

4

2. Hierin erblickt die Revision zu Recht einen Verfahrensverstoß.

5

a) Die Rüge ist zulässig erhoben (§ 344 Abs. 2 Satz 2 [X.]). Es bedurfte keines Vortrags, dass die Beschlussbegründung in der Hauptverhandlung durch den Angeklagten oder seinen Verteidiger gemäß § 238 Abs. 2 [X.] beanstandet worden sei. Die Entscheidung über die vernehmungsersetzende Vorführung ist gemäß § 255 Abs. 2 Satz 3 [X.] dem gesamten Spruchkörper und nicht dem Vorsitzenden allein überantwortet. Der Anwendungsbereich des [X.] ist mithin schon deshalb nicht eröffnet (vgl. zu § 251 [X.]: [X.], Beschlüsse vom 25. Oktober 2011 – 3 [X.], [X.], 585, 586; vom 3. September 2019 – 3 [X.], [X.], 94, 95 mit zust. [X.] [X.]). Im Übrigen handelt es sich bei der [X.] um zwingendes Recht, ohne dass insoweit ein Ermessensspielraum eröffnet wäre.

6

b) Der Beschluss lässt entgegen § 255a Abs. 2 Satz 3 [X.] eine Begründung vermissen.

7

aa) In formeller Hinsicht ist für die vernehmungsersetzende Vorführung der [X.] einer früheren richterlichen Vernehmung des Verletzten (§ 58a Abs. 1 Satz 3 [X.]) – aus Gründen der Transparenz und der [X.] (vgl. BT-Drucks. 17/12735 S. 17) – ein begründeter Gerichtsbeschluss erforderlich (§ 255a Abs. 2 Satz 3 [X.]; vgl. [X.], Beschluss vom 16. Oktober 2018 – 3 StR 256/18, NStZ-RR 2019, 27). In die Begründung der tatgerichtlichen Ermessensentscheidung sind – worauf auch der [X.] mit Recht hinweist – nach den jeweils maßgeblichen Umständen des Einzelfalls neben der Schutzbedürftigkeit des Verletzten [X.], [X.], [X.]., § 255a Rn. 18 mwN) grundsätzlich auch weniger einschneidende Möglichkeiten des Zeugenschutzes (vgl. §§ 247, 247a [X.]) ebenso wie rechtlich geschützte Verteidigungsinteressen des Angeklagten und Belange der Sachaufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 [X.]) einzustellen (vgl. BT-Drucks. 17/6261, [X.]; [X.]/Berg, aaO; [X.]/[X.], 27. Aufl., § 255a Rn. 19; [X.]/[X.], [X.], 65. Aufl., § 255a Rn. 9). Die bloße Wiedergabe des Gesetzeswortlauts genügt dem nicht (vgl. zu § 251 [X.]: [X.], Urteil vom 17. Mai 1956 – 4 StR 36/56, [X.]St 9, 230).

8

bb) Hier fehlt der Anordnung des [X.]s jede Begründung. Der [X.] vermag deshalb nicht nachzuprüfen, ob die [X.] die gesetzlichen Voraussetzungen für die Durchbrechung des § 250 [X.] zu Recht bejaht hat. Eine nachvollziehbare sorgfältige Abwägung war nicht zuletzt auch deshalb geboten, weil die – einzige – Zeugin für den Vergewaltigungsvorwurf im Zeitpunkt der Hauptverhandlung bereits 23 Jahre alt war und sich aus ihrem Alter allein eine konkrete prozessuale Schutzbedürftigkeit nicht aufdrängte. Dies gilt umso mehr, als die Zeugin auch nach der Tat Kontakt zum Angeklagten unterhielt.

9

c) In dem der Anordnung nachfolgenden Prozessverhalten des Angeklagten kann kein rechtmissbräuchliches, dem Erfolg der Rüge entgegenstehendes Verhalten erblickt werden. Nachdem die [X.] die vernehmungsersetzende Vorführung der [X.] – freilich defizitär begründet – angeordnet und durchgeführt hatte, durften Angeklagter und Verteidiger dieses [X.] in der Hauptverhandlung – auch im Wege durch sie erwirkter mehrfacher Vorführung – ausschöpfen (§ 261 [X.]), ohne dass sich die Angriffsrichtung im [X.] hierzu in Widerspruch setzte.

3. Da die Angaben der Zeugin     M.     ausweislich der Urteilsgründe die einzige Grundlage für die Überzeugung der [X.] darstellen, beruht das Urteil auf dem geltend gemachten Rechtsfehler (§ 337 Abs. 1 [X.]).

Sander     

  

Feilcke     

  

Wenske

  

Fritsche     

  

Arnoldi     

  

Meta

6 StR 467/22

13.12.2022

Bundesgerichtshof 6. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Braunschweig, 15. Juni 2022, Az: 8 KLs 84/21

§ 253a Abs 2 S 3 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 13.12.2022, Az. 6 StR 467/22 (REWIS RS 2022, 8381)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 8381

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3 StR 256/18

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3 StR 315/11

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