Bundessozialgericht, Beschluss vom 07.04.2011, Az. B 9 VJ 3/10 B

9. Senat | REWIS RS 2011, 7837

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Verfahrensmangel - rechtliches Gehör - Überraschungsentscheidung


Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 13. Juli 2010 insoweit aufgehoben, als es die Feststellung eines Impfschadens im Sinne der Verschlimmerung über die Folgen des von der Klägerin am 1. Juli 1993 erlittenen ersten Schubes der Encephalomyelitis disseminata hinaus abgelehnt hat.

In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die an einer Encephalomyelitis disseminata (Multiple Sklerose -[X.]-) erkrankte Klägerin hat mit ihrem im März 2000 gestellten [X.] sowie im Klage- und Berufungsverfahren die Feststellung beansprucht, dass ihre Erkrankung Folge der am 25.6. und [X.] sowie am [X.] stattgefundenen Impfungen mit dem Impfstoff "FSME-Immun" ist.

2

Mit Urteil vom [X.] hat das [X.] ([X.]) das klageabweisende Urteil des [X.] vom [X.] sowie den Bescheid des beklagten [X.] vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.11.2001 geändert und festgestellt, dass die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen des von der Klägerin am 1.7.1993 erlittenen ersten Schubes der Encephalomyelitis disseminata ein Impfschaden im Sinne der sog [X.] sind. Im Übrigen hat das [X.] die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Die [X.] der Klägerin sei weder im Sinne der Entstehung noch im Sinne der Verschlimmerung mit Wahrscheinlichkeit auf die drei genannten Impfungen zurückzuführen. Im Rahmen der sog [X.] sei lediglich der von der Klägerin am 1.7.1993 erlittene erste Schub der schon zuvor aufgetretenen [X.] im Sinne einer guten Möglichkeit als durch die am [X.] erfolgte Impfung hervorgerufen anzusehen.

3

Mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Nichtzulassungsbeschwerde rügt die Klägerin als Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]G) die Verletzung ihres Rechts auf rechtliches Gehör (§ 62 [X.]G) mit der Begründung: Die vom [X.] getroffene Entscheidung sei für die Beteiligten überraschend gewesen. Kein einziger Gutachter habe bisher eine solche Auffassung vertreten oder auch nur als möglich angedeutet. Nicht nur die Folgen des ersten Schubes der [X.], sondern alle Folgeschäden hätten anerkannt werden müssen.

4

II. Mit Ihrer Nichtzulassungsbeschwerde greift die Klägerin die (teilweise) Zurückweisung ihrer Berufung durch das [X.] nicht in vollem Umfang, sondern nur zum Teil an. Die genaue Abgrenzung des Gegenstandes der Nichtzulassungsbeschwerde wird dadurch erschwert, dass der Urteilsausspruch des [X.] auslegungsbedürftig ist. Das [X.] hat festgestellt, dass die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen des von der Klägerin am 1.7.1993 erlittenen ersten Schubes der [X.] ein Impfschaden im Sinne der sog [X.] sind. Im Übrigen hat es die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.

5

Im Impfschadensrecht nach dem [X.] ([X.]) - wie im sonstigen [X.] Entschädigungsrecht (vgl § 1 Abs 3 [X.] ) - wird grundsätzlich unterschieden zwischen der Anerkennung einer Gesundheitsstörung als wahrscheinliche Folge einer Schädigung (§ 61 Satz 1 [X.]) und der sog [X.] (§ 61 Satz 2 [X.]), die unter weiteren Voraussetzungen in Betracht kommt, wenn die zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht. Hinsichtlich der wahrscheinlichen oder im og Sinne nur möglichen Folgen einer Schädigung wird im [X.] Entschädigungsrecht weiter differenziert zwischen der schädigungsbedingten Entstehung der Gesundheitsstörung und der durch den schädigenden Vorgang verursachten Verschlimmerung einer schon vorhandenen Gesundheitsstörung (s dazu [X.] Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im [X.] Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht, Fassung 2008 - [X.] 2008 -; Teil [X.] Anlage zu § 2 [X.] - [X.]). Bei der Verschlimmerung kann der schädigende Vorgang nur vorübergehend zu einer Zunahme des [X.] führen oder aber anhaltend den Krankheitsverlauf beeinflussen, wobei eine abgrenzbare oder eine richtunggebende Verschlimmerung in Betracht kommt (s dazu [X.] 43 [X.] 2008; Teil C [X.] 8 [X.]).

6

Unter Berücksichtigung dieser rechtlichen Gegebenheiten wird bei Zuhilfenahme der Entscheidungsgründe deutlich, dass das [X.] in seinem Urteil vom [X.] zu der Beurteilung gelangt ist, die [X.] der Klägerin sei nicht mit Wahrscheinlichkeit durch eine oder alle Impfungen verursacht (§ 61 Satz 1 [X.]) und auch im Sinne der [X.] (§ 61 Satz 2 [X.]) nicht durch eine oder alle Impfungen entstanden oder richtunggebend verschlimmert worden. Mit seinem Urteil hat das [X.] nur die Folgen des ersten Schubes der [X.] am 1.7.1993 als Impfschaden im Sinne der [X.] festgestellt, wobei offen bleibt, ob es sich um eine vorübergehende oder anhaltende aber abgrenzbare Verschlimmerung handelt.

7

Die berufungsgerichtliche Ablehnung eines Ursachenzusammenhanges zwischen der am [X.] erfolgten Impfung und ihrer [X.] wird von der Klägerin nur insoweit angefochten, als das [X.] auch eine richtunggebende Verschlimmerung im Sinne der [X.] verneint hat. Die Klägerin wendet sich allein gegen die Beschränkung der Anerkennung auf eine vorübergehende bzw abgegrenzte Verschlimmerung. Sie ist der Ansicht, nach dem bisherigen Stand des Verfahrens sei davon auszugehen, dass die Kausalität auch zu den Folgeschäden bestehen könne. Im Übrigen ist das klageabweisende Urteil des [X.] mithin rechtskräftig geworden.

8

Die so verstandene Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Die von der Klägerin gerügte Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs liegt vor.

9

Nach § 62 [X.]G ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren. Diese Vorschrift konkretisiert den verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 Grundgesetz ). Sie soll ua verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht haben äußern können (s § 128 Abs 2 [X.]G; vgl B[X.] [X.]-1500 § 62 [X.] 12; § 153 [X.] 1; [X.] 84, 188, 190), und sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht zur Kenntnis genommen und in seine Erwägungen mit einbezogen wird ([X.] 22, 267, 274; 96, 205, 216 f). In diesem Rahmen besteht jedoch insbesondere gegenüber rechtskundig vertretenen Beteiligten weder eine allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts über die Rechtslage, noch die Pflicht, bei der Erörterung der Sach- und Rechtslage in der mündlichen Verhandlung bereits die endgültige Beweiswürdigung darzulegen. Denn das Gericht kann und darf das Ergebnis der Entscheidung, die in seiner nachfolgenden Beratung erst gefunden werden soll, nicht vorwegnehmen.

Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern ([X.] Beschlüsse vom [X.]/93 - HVBG-Info 1994, 209; vom 13.10.1993 - [X.] 79/93 - [X.]-1500 § 153 [X.] 1 und vom 17.2.1999 - B 2 [X.]/98 B - HVBG-Info 1999, 3700; [X.] 66, 116, 147; 74, 1, 5; 86, 133, 145). Art 103 Abs 1 GG gebietet vielmehr lediglich dann einen Hinweis, wenn das Gericht auf einen Gesichtspunkt abstellen will, mit dem ein gewissenhafter und kundiger Prozessbevollmächtigter nicht zu rechnen brauchte (vgl [X.] 84, 188, 190). Letzteres ist hier der Fall.

Die Klägerin macht mit Recht geltend, dass sie mit der Entscheidung des [X.] in dieser Form ohne einen ausdrücklichen Hinweis des Gerichts nicht zu rechnen brauchte. Dies ergibt sich daraus, dass das [X.] - wie von der Klägerin vorgetragen - seine Entscheidung mit im Wesentlichen medizinischen Erwägungen begründet hat, die bisher keiner der gehörten Sachverständigen vertreten hatte. In den die Entscheidung des [X.] zu dem streitigen Punkt begründenden Passagen des Urteils (Abs 2, 3 und 4 auf Seite 18 und Abs 1 auf Seite 19 des Urteilsumdrucks) bezieht sich das [X.] nicht auf einen der bisher gehörten Sachverständigen. Zwar hat sich das [X.] zur Bejahung der für eine [X.] ausreichenden "guten Möglichkeit" des Zusammenhangs zwischen der am [X.] erfolgten Impfung und dem als ersten Schub der [X.] anzusehenden Zusammenbruch der Klägerin am 1.7.1993 insbesondere auf die Beurteilung des Sachverständigen Dr. H. gestützt. Die weitere medizinische Frage, ob es sich dabei um eine auf den ersten Schub der [X.] beschränkte (vorübergehende bzw abgrenzbare) oder aber um eine richtunggebende Verschlimmerung gehandelt hat, wird vom [X.] jedoch ohne sachverständige Hilfe in ersterem Sinne beantwortet. Allein die unter Bezugnahme auf Berichte behandelnder Ärzte getroffene Feststellung des [X.], die Beschwerdesymptomatik habe sich von Ende Oktober 1993 bis in das [X.] langsam aber stetig gebessert, genügt insoweit nicht, zumal nicht ersichtlich ist, dass dabei wieder der vor der Impfung vom [X.] vorhandene Krankheitszustand erreicht worden ist. Insoweit stellt sich die Verneinung einer richtunggebenden Verschlimmerung als eine entweder ohne oder aufgrund eigener medizinischer Sachkunde getroffene und damit unvorhersehbar [X.] zustande gekommene Entscheidung des [X.] dar. Im Falle eigener Sachkunde hätte das [X.] nämlich mitteilen müssen, dass und aufgrund welcher Umstände es diese Sachkunde besitzt. Entsprechende Hinweise hat das Gericht aber nicht gegeben.

Nach alledem macht der Senat zur Beschleunigung des Verfahrens von der ihm nach § 160a Abs 5 [X.]G eingeräumten Möglichkeit zur - teilweisen - Aufhebung des angefochtenen Urteils und zu einer entsprechenden Zurückverweisung der Sache an das [X.] Gebrauch.

Das [X.] wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu befinden haben.

Meta

B 9 VJ 3/10 B

07.04.2011

Bundessozialgericht 9. Senat

Beschluss

Sachgebiet: VJ

vorgehend SG Stuttgart, 15. August 2007, Az: S 6 VJ 6337/01, Urteil

§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG, § 160a Abs 5 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 07.04.2011, Az. B 9 VJ 3/10 B (REWIS RS 2011, 7837)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 7837

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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