Bundesgerichtshof, Urteil vom 22.06.2022, Az. 2 StR 511/21

2. Strafsenat | REWIS RS 2022, 10202

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Gegenstand

Anforderungen im Urteil bei Darlegung einer verminderten Schuldfähigkeit und Nichtanordnung einer Maßregelanordnung


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 16. Juli 2021 im Strafausspruch mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das vorgenannte Urteil mit den Feststellungen aufgehoben

a) im Strafausspruch, insoweit zugunsten des Angeklagten,

b) soweit von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen worden ist.

3. Im Umfang der Aufhebungen wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel sowie die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

4. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Von Rechts wegen

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen erpresserischen Menschenraubs in Tateinheit mit räuberischer Erpressung, Raub, Körperverletzung und versuchter Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten führt zur Aufhebung des Strafausspruchs; im Übrigen bleibt sie ohne Erfolg. Hingegen dringt das gegen die [X.] der Sicherungsverwahrung gerichtete, mit der Rüge der Verletzung sachlichen Rechts begründete Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft in vollem Umfang durch; es führt zugleich – insoweit zugunsten des Angeklagten – ebenfalls zur Aufhebung des Strafausspruchs.

I.

2

Das [X.] hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

3

1. Nachdem der Angeklagte bereits im Alter von 14 Jahren wegen Körperverletzung, gefährlicher Körperverletzung und Beleidigung, sowie auch wegen [X.] strafrechtlich in Erscheinung getreten war und er im Alter von 15 Jahren in einer Intensiveinrichtung gelebt hatte, ordnete das [X.] im Oktober 2014, der Angeklagte war 16 Jahre alt, aufgrund von insgesamt sieben Körperverletzungsdelikten dessen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Die zunächst zur Bewährung ausgesetzte Vollstreckung wurde nach vorangegangener Krisenintervention im April 2015 widerrufen und die Maßregel bis November 2016 vollstreckt.

4

Im Mai 2018 verurteilte ihn das [X.] [X.] in zweiter Instanz wegen schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Nötigung zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und drei Monaten. Die Vollstreckung der restlichen Jugendstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt, die Aussetzung anschließend jedoch widerrufen.

5

Nach der neuerlichen Haftentlassung beging der Angeklagte zahlreiche weitere Straftaten. Er wurde unter anderem durch Strafbefehl vom 7. Mai 2020 durch das [X.] wegen Körperverletzung in zwei Fällen, Tatzeit war der 29. Februar 2020, zu einer Gesamtgeldstrafe verurteilt.

6

2. Am 18. Mai 2020 verließ der 21 Jahre und elf Monate alte Angeklagte, der zu diesem Zeitpunkt über kein Geld verfügte, gemeinsam mit dem früheren Mitangeklagten [X.]  eine Suchthilfeeinrichtung in der Nähe von [X.]. Er wollte den dortigen Aufenthalt abbrechen und nach [X.] zu seiner Mutter fahren. Nachdem er mit [X.]  zunächst mit dem Zug nach [X.]     gefahren war, trafen beide im Stellwerk des dortigen Bahnhofs auf den Nebenkläger, einen Fahrdienstleiter der [X.] Bahn.

7

Nachdem dieser dem Angeklagten auf dessen entsprechende Frage geantwortet hatte, dass er nicht wisse, wo dieser „Koks“ bekommen könne und dass der nächste Zug nach [X.] erst am nächsten Morgen fahre, schlug der Angeklagte dem Nebenkläger unvermittelt und gezielt mit der Faust in das Gesicht. Er drängte ihn in das Stellwerk, wo er – wie von Anfang an geplant – von diesem Geld verlangte. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, folgten mindestens zwanzig wuchtige Faustschläge gegen Kopf und Rumpf des [X.]. Er nahm diesen in den Schwitzkasten und äußerte, der Nebenkläger solle sich nicht wehren, andernfalls würde er „Ballermanns zücken“; sein Freund könne dies bestätigen. Der verängstigte Nebenkläger schloss einen im Stellwerk befindlichen kleinen Tresor auf, aus dem der Angeklagte 395,20 € entnahm und sie [X.]   übergab. Um Hilferufe des [X.] zu verhindern, nahm er dessen Handy an sich. Außerdem ließ er sich dessen [X.] überreichen und drohte ihm, ihn zu töten, sowie seine Frau und Kinder zu vergewaltigen, wenn er am nächsten Tag vor 7.00 Uhr die Polizei informiere.

8

Anschließend forderte er den Nebenkläger auf, [X.] im Stellwerk zu öffnen. In Todesangst erklärte der Nebenkläger, dazu nicht in der Lage zu sein, weil dies der Mitwirkung eines Geldtransportunternehmens bedürfe. Erst als [X.]  bestätigte, dass das richtig sei, ließ der Angeklagte vom Nebenkläger ab und versetzte ihm keine weiteren Schläge.

9

Der Angeklagte, der wegen des Entdeckungsrisikos die gemeinsame Idee verworfen hatte, mit dem Taxi nach [X.] zu fahren, verlangte sodann vom Nebenkläger, ihn und [X.]  mit seinem Fahrzeug nach [X.]zu fahren. Dabei ging es ihm auch um den wirtschaftlichen Vorteil, der in der unentgeltlichen Beförderungsleistung lag. Ihm war bewusst, dass der Nebenkläger dieser Forderung lediglich deshalb nachkam, weil er mit weiteren Gewalttaten gegen seine Person rechnete und sich davor fürchtete. Vor dem Hintergrund dieser fortbestehenden Bedrohungslage begaben sich die drei Personen zu dessen Fahrzeug. [X.]  , der Mitleid mit dem Nebenkläger verspürte, übergab diesem zwei benzodiazepinhaltige Tabletten sowie einen Zehn-Euro-Schein. Er wollte ihn damit für das ihm zugefügte seelische und körperliche Leid bei dem Geschehen im Stellwerk entschädigen.

Beim Fahrzeug angelangt, nahm der Angeklagte auf dem Beifahrer- und [X.]   auf dem [X.]. Der Angeklagte gab dem Nebenkläger dessen Handy zurück und äußerte, dass es sich dabei um einen Vertrauensvorschuss handele. Gleichwohl war dieser weiterhin verängstigt. In [X.]           geriet das Fahrzeug in eine Verkehrskontrolle. Dem Nebenkläger gelang es, einer Beamtin zuzuflüstern, dass er von dem Angeklagten und [X.]   entführt worden sei, woraufhin diese festgenommen wurden. Der Nebenkläger war nach der Tat sechseinhalb Wochen arbeitsunfähig krankgeschrieben; er leidet noch heute an einem psychischen Trauma und ist in therapeutischer Behandlung.

3. a) [X.] ist von einer uneingeschränkten Schuldfähigkeit des Angeklagten ausgegangen. Sie hat sich den Ausführungen des Sachverständigen angeschlossen, nach denen der Angeklagte an einer dissozialen Persönlichkeitsstörung leide. Diese stelle sich jedoch nicht als so schwerwiegend dar, dass sie handlungsbestimmend sei.

b) Sie hat, ausgehend von den formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB, dem Sachverständigen folgend einen Hang des Angeklagten zur Begehung erheblicher Straftaten und dessen hohe Gefährlichkeit für die Allgemeinheit im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB festgestellt. Weder die Verhängung einer Freiheitsstrafe, welche (teilweise) zur Bewährung ausgesetzt worden sei, noch deren Vollstreckung habe den Angeklagten davon abgehalten, gleichartige Gewaltdelikte zu begehen. Die neuen Taten nach seiner Haftentlassung belegten, dass er immer wieder in alte Verhaltensmuster zurückfalle. Der Wertung des Sachverständigen, der Angeklagte habe aus verschiedenen Behandlungen und Settings keinen Nutzen ziehen können und werde auch nach seiner Haftentlassung die gleiche Person sein wie zuvor, hat sich die [X.] ebenso angeschlossen wie dessen weiterer Wertung, bei dem Angeklagten habe in der Vergangenheit eine völlige Verrohung stattgefunden, welche die psychopathische-dissoziale Persönlichkeitsstruktur des Angeklagten widerspiegele.

Auch dessen Gefährlichkeitsprognose hat sich die [X.] angeschlossen. Danach bestehe bei dem Angeklagten eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Begehung erneuter Gewaltdelikte, wobei die Gefahr gegeben sei, dass etwas einmal „komplett aus dem Ruder“ laufe. Opfer der Gewalt könne jeder werden, der den Interessen des Angeklagten im Wege stehe.

[X.] hat im Rahmen ihrer Ermessensausübung mit Blick auf das Alter des erst 23 Jahre alten Angeklagten von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen. Dafür spreche, dass sich seine Persönlichkeit noch formen lasse und er bei entsprechenden Angeboten in der Haft erreicht werden könne. Er sei zu einem langjährigen Strafvollzug verurteilt, so dass „eine Haltungsänderung während der Haft nicht ausgeschlossen“ sei. Dies werde gestützt durch die zuständige Therapeutin der Justizvollzugsanstalt [X.]   , die dem Angeklagten eine noch nicht abgeschlossene Persönlichkeitsentwicklung attestiert habe. Zudem gehe der Angeklagte seiner Tätigkeit in einem Heizungsbetrieb in der [X.]     zuverlässig nach und beabsichtige, eine Ausbildung zu beginnen. Er habe sich reuig gezeigt und dem Nebenkläger zur Wiedergutmachung einen Betrag von 500 € übermittelt, was zeige, dass er zu einer Reflektion seines Verhaltens in der Lage sei.

II.

Die Revision des Angeklagten hat teilweise Erfolg.

1. Die Verfahrensrüge ist aus den vom [X.] in seiner Zuschrift vom 21. Februar 2022 dargelegten Gründen jedenfalls unbegründet.

2. Die auf die Sachrüge veranlasste Überprüfung des Urteils führt zur Aufhebung des Strafausspruchs; im Übrigen bleibt das Rechtsmittel ohne Erfolg.

a) Der Schuldspruch wird von den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen getragen. Insbesondere hält die Beweiswürdigung dazu, dass es dem Angeklagten bei der Fahrt mit dem Auto auch darauf ankam, den wirtschaftlichen Vorteil, der in der unentgeltlichen Nutzung des Fahrzeugs des [X.] als Transportmittel nach [X.] lag, zu erlangen, aus den in der Zuschrift des [X.]s dargestellten Erwägungen rechtlicher Prüfung stand.

b) Hingegen hat die Strafzumessung keinen Bestand. [X.] hat eine verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen.

aa) Sie hat im Ausgangspunkt zunächst zutreffend gesehen, dass die bei dem Angeklagten diagnostizierte dissoziale Persönlichkeitsstörung die Annahme einer schweren anderen seelischen Störung nur dann begründen kann, wenn sie Symptome aufweist, die in ihrer Gesamtheit das Leben eines Angeklagten vergleichbar schwer und mit ähnlichen Folgen stören, belasten oder einengen wie eine krankhafte seelische Störung (vgl. [X.], Beschlüsse vom 22. Januar 2020 – 2 StR 562/19, juris Rn. 23; vom 11. April 2018 – 2 [X.], juris Rn. 7; [X.], Beschluss vom 11. Februar 2015 – 4 StR 498/14, juris Rn. 6, [X.]eils mwN).

bb) Die Urteilsgründe lassen indes unerörtert, weshalb sich diese trotz der „Tiefe der Merkmale“ der dissozialen Persönlichkeitsstörung nicht als „so schwerwiegend dar(stellt), dass sie handlungsbestimmend“ war. Der Hinweis auf eine fehlende „Persönlichkeitsaushöhlung“ bleibt abstrakt (zur Einstufung einer Persönlichkeitsstörung vgl. [X.], Beschluss vom 11. April 2018 – 2 [X.], aaO). Die fehlende Schwere erschließt sich auch nicht ohne weiteres aus der Gesamtheit der Urteilsgründe, nachdem die [X.] – dem Sachverständigen folgend – an anderer Stelle ausführt, bei dem Angeklagten habe in der Vergangenheit eine völlige Verrohung stattgefunden, welche die [X.] Persönlichkeitsstruktur des Angeklagten widerspiegele.

c) Der Schuldspruch wird durch den Rechtsfehler nicht berührt; der [X.] kann ausschließen, dass das [X.] bei fehlerfreier Würdigung zur Annahme von Schuldunfähigkeit gelangt wäre.

III.

Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.

1. Das Rechtsmittel ist wirksam auf das Unterbleiben der [X.] nach § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB sowie – zugunsten des Angeklagten − den Strafausspruch beschränkt.

Zwar hat die Staatsanwaltschaft in der [X.] keine ausdrückliche Beschränkung erklärt und beantragt, das Urteil insgesamt aufzuheben. Dieser umfassende Revisionsantrag steht jedoch mit dem übrigen Inhalt der [X.] nicht in Einklang. Diese wendet sich ausschließlich gegen die [X.] der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung und, wie die Bezugnahme auf die Entscheidung des [X.] vom 19. August 2020 (5 [X.]) belegt, lediglich zur Vermeidung einer unzulässigen Beschränkung ausdrücklich auch gegen den Strafausspruch. Mit den Strafzumessungserwägungen des [X.]s setzt sich die [X.] nicht auseinander. Dem Inhalt der Revisionsbegründung entnimmt der [X.] daher in Anlehnung an Nr. 156 Abs. 2 [X.] entgegen der Ansicht des [X.]s, dass die Revisionsführerin die Strafzumessung lediglich zugunsten (vgl. [X.], Urteil vom 19. August 2020 – 5 [X.], juris Rn. 39) des Angeklagten geprüft wissen wollte. Die gegenteilige „Klarstellung“ der Beschwerdeführerin nach Ablauf der [X.] vermag die vormalige Beschränkung nicht zu beseitigen.

2. In der Sache beanstandet die Staatsanwaltschaft zu Recht die [X.] der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB gegen den Angeklagten. Das Unterbleiben der [X.] hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.

a) Die Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB steht im pflichtgemäßen Ermessen des Tatgerichts. Es soll die Möglichkeit haben, sich ungeachtet der festgestellten Gefährlichkeit des [X.] zum Zeitpunkt der [X.] auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich dieser die Strafe hinreichend zur Warnung dienen lässt. Dabei kommt der hier zur Anwendung gelangten Vorschrift des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB – entgegen der Ansicht des [X.]s – nicht der gleiche Ausnahmecharakter wie § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB zu, da erstere eine frühere Verurteilung und vormalige Strafverbüßung des [X.] voraussetzt (vgl. [X.], Urteil vom 16. April 2020 – 4 StR 8/20, juris Rn. 6).

Der Ermessensspielraum verengt sich indes, wie das [X.] zutreffend gesehen hat, bei frühkriminellen Hangtätern, die das 21. Lebensjahr gerade erst überschritten haben. Bei ihnen ist die Sicherungsverwahrung nur in Ausnahmefällen unter strengen Anforderungen bei besonders schweren Straftaten zulässig und bedarf besonders sorgfältiger Würdigung in den Urteilsgründen (vgl. [X.], Beschluss vom 6. August 1997 – 2 [X.], juris Rn. 13; [X.], Beschlüsse vom 5. Oktober 1988 – 3 [X.], [X.]R StGB § 66 Abs. 2 Gefährlichkeit 1; vom 4. August 2011 – 3 [X.], juris Rn. 7; vom 4. Februar 2014 – 3 [X.], juris Rn. 2). Die Wirkung eines langjährigen Strafvollzugs sowie die mit dem Fortschreiten des Lebensalters erfahrungsgemäß eintretende Haltungsänderung sind wichtige Kriterien, die nach der Rechtsprechung des [X.] im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen sind (vgl. [X.], Urteil vom 20. November 2007 – 1 [X.], juris Rn. 8; Beschluss vom 4. August 2009 – 1 [X.], [X.]R StGB § 66 Abs. 2 Ermessensausübung 1).

Ein Absehen von der Verhängung der Sicherungsverwahrung bei Ausübung dieses Ermessens ist jedoch – auch bei jungen Erwachsenen (vgl. BeckOK-StGB/[X.], [X.]., § 66 Rn. 23) – nur gerechtfertigt, wenn konkrete Anhaltspunkte erwarten lassen, dass dem Täter aufgrund der Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs und diesen begleitender resozialisierender sowie therapeutischer Maßnahmen zum Strafende eine günstige Prognose gestellt werden kann. Nur denkbare positive Veränderungen und Wirkungen künftiger Maßnahmen im Strafvollzug reichen nicht aus (st. Rspr.; vgl. [X.], Urteil vom 15. Oktober 2014 – 2 [X.], [X.], 510, 511 f.; [X.], Urteile vom 11. Juli 2013 – 3 [X.], juris Rn. 6; vom 22. Oktober 2015 – 4 StR 275/15, [X.]R StGB § 66 Abs. 2 Ermessensentscheidung 9; vom 26. Mai 2020 – 1 [X.], juris Rn. 17; vom 19. August 2020 – 5 [X.], juris Rn. 27, [X.]. mwN).

Dabei unterliegt die Ermessensausübung des Tatgerichts eingeschränkter revisionsgerichtlicher Überprüfung und erstreckt sich vor allem darauf, ob das Tatgericht dabei von einem zutreffenden rechtlichen und tatsächlichen Ansatz ausgegangen ist (st. Rspr.; vgl. [X.], Beschluss vom 27. Juni 2019 – 1 [X.], juris Rn. 4 mwN).

b) Hieran gemessen hat die Ermessensausübung des [X.]s keinen Bestand.

aa) Die [X.], wonach eine „Haltungsänderung des Angeklagten während der Haft nicht ausgeschlossen ist“ und es sich bei dem erst 23 Jahre alten Angeklagten um einen jungen Erwachsenen handele, „was dafür spricht, dass sich seine Persönlichkeit noch formen lässt und dies bei entsprechenden Angeboten in der Haft erreicht werden kann“, decken einen durchgreifenden Rechtsfehler auf. [X.] hat damit lediglich die denkbare Möglichkeit einer Haltungsänderung zum Ausdruck gebracht, jedoch gerade nicht festgestellt, dass eine solche prognostisch zu erwarten ist und auf welche konkreten tragfähigen Umstände diese gestützt werden kann (vgl. [X.], Urteil vom 19. August 2020 – 5 [X.], aaO).

bb) Soweit die [X.] ihre Annahme einer Haltungsänderung während der Haft auf die Einschätzung der zuständigen Therapeutin in der Justizvollzugsanstalt [X.]   stützt, steht deren Wertung zudem in einem unüberbrückbaren Widerspruch zu dem Gutachten des Sachverständigen Dr. [X.], dessen Ausführungen sich die [X.] ausdrücklich angeschlossen hat. Danach habe der Angeklagte in der Vergangenheit aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur aus verschiedenen Behandlungen und Settings keinen Nutzen ziehen können und werde auch nach seiner Haftentlassung die gleiche Person sein wie zuvor.

c) Der Rechtsfehler führt zur Aufhebung der unterbliebenen [X.], deren weitere Voraussetzungen das Tatgericht rechtsfehlerfrei festgestellt hat und in der Folge auch – insoweit zu Gunsten des Angeklagten – zur Aufhebung des Strafausspruchs (vgl. [X.], Beschlüsse vom 21. Januar 2021 – 2 [X.], juris Rn. 16 mwN; vom 30. März 2021 – 2 StR 18/21, juris Rn. 4; [X.], Beschluss vom 22. März 2022 – 1 [X.], juris Rn. 4; [X.]. mwN).

IV.

Im Umfang der danach gebotenen Aufhebungen bedarf die Sache – naheliegender Weise unter Heranziehung eines anderen Sachverständigen − neuer Verhandlung und Entscheidung.

[X.]     

        

Ri[X.] Prof. Dr. [X.] ist wegen
Krankheit gehindert zu unterschreiben.

        

Meyberg

                 

[X.]

                 
        

Grube     

        

     [X.]     

        

Meta

2 StR 511/21

22.06.2022

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Marburg, 16. Juli 2021, Az: 1 KLs - 2 Js 1518/21

§ 21 StGB, § 66 Abs 3 S 1 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 22.06.2022, Az. 2 StR 511/21 (REWIS RS 2022, 10202)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 10202

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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