Bundesfinanzhof, Urteil vom 24.02.2022, Az. III R 1/21

3. Senat | REWIS RS 2022, 2865

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Gegenstand

Zuständigkeit von Familienkassen für das Erhebungsverfahren


Leitsatz

NV: Die örtlich zuständigen Familienkassen sind in Kindergeldsachen nach dem Grundsatz der Gesamtzuständigkeit auch für das Erhebungsverfahren zuständig; die Konzentration der Aufgaben des Erhebungsverfahrens (hier: Stundung einer Kindergeldrückforderung) beim Inkasso-Service Recklinghausen und der Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord war rechtswidrig (vgl. Senatsurteil vom 25.02.2021 - III R 36/19, BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712).

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des [X.] vom [X.] wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Beklagte zu tragen.

Tatbestand

I.

1

Streitig ist die Rechtmäßigkeit der Ablehnung einer Stundung.

2

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) --eine syrische Staatsangehörige-- lebt seit 2006 in der [X.]. Eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 des Aufenthaltsgesetzes ([X.]) wurde ihr spätestens am ...06.2015 erteilt und eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 [X.] am ...07.2018.

3

Im September 2015 beantragte die Klägerin Kindergeld für ihre beiden Kinder. Dazu übersandte sie --nach Aufforderung der Familienkasse [X.] ([X.]) [X.] eine Arbeitgeberbescheinigung vom ...10.2015, wonach sie in Teilzeit in einer Pizzeria arbeitete. Die Familienkasse [X.] Ost setzte daraufhin ab Juni 2015 Kindergeld zugunsten der Klägerin fest.

4

Nachdem die Klägerin im Jahr 2017 in den Zuständigkeitsbereich der Familienkasse [X.] West gezogen war und auf die Aufforderung, Nachweise zu ihrer Beschäftigung einzureichen, nicht reagiert hatte, hob diese Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für beide Kinder mit [X.] vom 15.05.2018 für den Zeitraum Dezember 2015 bis Januar 2018 auf und forderte das für diesen Zeitraum gezahlte Kindergeld in Höhe von 9.932 € von der Klägerin zurück.

5

Die Klägerin legte dagegen Einspruch ein und fügte diverse Verdienstabrechnungen bei. Infolgedessen wurde mit [X.] vom 20.06.2018 für die Monate Dezember 2015 bis Januar 2016 und April bis Dezember 2016 erneut Kindergeld festgesetzt und der Rückforderungsbetrag auf 5.756 € reduziert. Im Übrigen wurde der Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 15.10.2018 als unbegründet zurückgewiesen. Klage wurde nicht erhoben.

6

Im Oktober 2018 bat die Klägerin darum, die Forderung in Raten von 10 € pro Monat tilgen zu dürfen. Dieses Begehren wurde als Stundungsantrag ausgelegt und von der [X.], [X.] Familienkasse ([X.] Familienkasse) mit [X.] vom 10.01.2019 abgelehnt. Die Klägerin legte gegen die Stundungsablehnung Einspruch ein und bot Ratenzahlungen in Höhe von 40 bis 50 € pro Monat an.

7

Der Einspruch gegen die Stundungsablehnung wurde von der Familienkasse [X.] Nord mit Einspruchsentscheidung vom 09.09.2019 als unbegründet zurückgewiesen. Dies wurde zum einen damit begründet, dass die Klägerin nicht [X.] sei, weil sie ihre Mitteilungspflichten aus § 68 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes schuldhaft verletzt habe. Denn sie habe nicht mitgeteilt, dass sie im Februar und März 2016 sowie ab Januar 2017 keiner Beschäftigung mehr nachgegangen sei; das Erfordernis einer Beschäftigung sei ihr aus dem früheren Verwaltungsverfahren bekannt gewesen. Weil die Klägerin von unpfändbarem Einkommen (Arbeitslosengeld nach dem [X.]) lebe und eine Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse weder vorgetragen noch absehbar sei, wäre die Forderung bei einer Stundung zudem gefährdet.

8

Mit ihrer Klage gegen die Familienkasse [X.] Nord machte die Klägerin geltend, sie habe nicht schuldhaft gehandelt. Sie erhalte schon seit Jahren Leistungen nach dem [X.], wobei das Kindergeld in einigen Monaten auf die Sozialleistungen angerechnet worden sei. Weder verstehe sie das Verhältnis der verschiedenen staatlichen Leistungen zueinander noch sei ihr bewusst gewesen, dass sie eine "Nicht-Tätigkeit" habe melden müssen.

9

Das Finanzgericht (FG) hob den Ablehnungsbescheid vom 10.01.2019 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 09.09.2019 auf, weil der Ablehnungsbescheid und die Einspruchsentscheidung von unzuständigen Behörden erlassen worden seien. Im Übrigen --hinsichtlich der beantragten Verpflichtung zur Stundung-- wies es die Klage ab.

Zur Begründung der Revision trägt die Familienkasse [X.] Nord vor, das [X.] beruhe auf einer unzutreffenden Auslegung der §§ 16 ff., §§ 218 ff., § 222 und § 258 der Abgabenordnung ([X.]) sowie § 5 des Finanzverwaltungsgesetzes (FVG). Die [X.] Familienkasse sei für den Ablehnungsbescheid vom 10.01.2019 sachlich und örtlich zuständig gewesen. Der Stundungsantrag sei abzulehnen.

Nach einem Hinweis des Senats vom 09.07.2021 stimmen die Beteiligten überein, dass das Rubrum des Verfahrens dahin zu berichtigen ist, dass anstelle der Familienkasse [X.] Nord, die über den Einspruch entschieden hatte, die [X.] Familienkasse, welche die Stundung abgelehnt und damit den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassen hatte (§ 63 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--), die Beklagte und Revisionsklägerin ist.

Die [X.] Familienkasse beantragt,
das [X.] aufzuheben, soweit der Ablehnungsbescheid vom 10.01.2019 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 09.09.2019 aufgehoben wurde, und die Klage auch insoweit abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unbegründet. Sie wird mit der Maßgabe zurückgewiesen (§ 126 Abs. 2 [X.]O), dass das Rubrum des angefochtenen Urteils dahin zu berichtigen ist, dass anstelle der Familienkasse [X.] Nord die [X.] Familienkasse die Beklagte und Revisionsklägerin ist. Das [X.] ist in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass der Bescheid über die Ablehnung der Stundung und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung von unzuständigen Behörden erlassen wurden.

1. Die Klage richtet sich infolge rechtschutzgewährender Auslegung gegen die [X.] Familienkasse. Da diese die beantragte Stundung abgelehnt hat, ist die Klage gemäß § 63 Abs. 1 [X.]O gegen sie zu richten, weil sie den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassen hat. Daher ist sie und nicht die Familienkasse [X.] Nord als Rechtsmittelbehörde beteiligt (Senatsurteil vom 25.02.2021 - III R 36/19, [X.], 19, [X.] 2021, 712, Rz 13 ff.; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], § 63 [X.]O Rz 20), weil kein Fall des § 63 Abs. 2 Nr. 1 [X.]O vorliegt. Die Berichtigung des Rubrums kann auch noch im Revisionsverfahren vorgenommen werden; die Beteiligten haben keine Einwendungen erhoben.

2. Das [X.] hat den die Stundung ablehnenden Bescheid vom 10.01.2019 und die Einspruchsentscheidung vom 09.09.2019 zu Recht aufgehoben, weil diese rechtswidrig sind und die Klägerin in ihren Rechten verletzen (§ 101 Satz 1 [X.]O). Beide Bescheide wurden von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen.

a) Nach § 222 Satz 1 [X.] können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder teilweise stunden, wenn die Einziehung bei Fälligkeit eine erhebliche Härte für den Schuldner bedeuten würde und der Anspruch durch die Stundung nicht gefährdet erscheint. Die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Stundung bestimmt sich nach der Verwaltungshoheit, welche sowohl die im Festsetzungsverfahren als auch die im Erhebungsverfahren zu treffenden Entscheidungen umfasst (Loose in Tipke/[X.], § 222 [X.] Rz 45, § 227 [X.] Rz 117).

b) Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass die Konzentration der Aufgaben des [X.] --insbesondere der Erlass und die Stundung von [X.] bei der [X.] Familienkasse und der Familienkasse [X.] Nord rechtswidrig ist (Senatsurteile in [X.], 19, [X.] 2021, 712; vom 25.02.2021 - III R 28/20, [X.], 1100, und vom 07.07.2021 - III R 21/18, [X.], 1457).

In den vorgenannten Urteilen, auf die hinsichtlich der Einzelheiten verwiesen wird, hat der Senat dargelegt, dass für die örtliche Zuständigkeit (§ 17 [X.]) der Grundsatz der [X.] gilt. Die Zuständigkeit der örtlich zuständigen Familienkasse umfasst daher grundsätzlich alle Verwaltungstätigkeiten der Finanzbehörde, die sich aus dem gesamten Besteuerungsverfahren ergeben (Festsetzung, Rechtsbehelfsverfahren, Erhebung und Vollstreckung); eine abweichende Regelung über die örtliche Zuständigkeit setzt mithin eine Übertragung der [X.] für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten voraus.

Der Senat hat weiter entschieden, dass § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG dem Vorstand der [X.] nur die Befugnis einräumt, innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten abweichend von den Vorschriften der [X.] über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden einer anderen Familienkasse zu übertragen. Die Übertragung lediglich einzelner Sachaufgaben für bestimmte Gruppen von Berechtigten von der örtlich und damit gesamtzuständigen Familienkasse auf eine andere Familienkasse oder Behörde betrifft demgegenüber den Gegenstand und Inhalt der der Finanzbehörde zugewiesenen Aufgaben und damit eine Frage der sachlichen Zuständigkeit. Für eine derartige Aufspaltung der [X.], indem für Entscheidungen des [X.] weiterhin die [X.], für Entscheidungen des "[X.]" hingegen eine andere Familienkasse zuständig sein sollte, fehlt die erforderliche gesetzliche Grundlage.

3. Der Senat hat in den Urteilen in [X.], 19, [X.] 2021, 712 und in [X.], 1100 weiter entschieden, dass § 127 [X.] einer Aufhebung der angegriffenen Verwaltungsakte, die von der --sachlich unzuständigen-- [X.] Familienkasse im Erhebungsverfahren getroffen wurden, nicht entgegensteht, und es sich bei der Entscheidung über eine Stundung zudem um eine Ermessensentscheidung handelt, auf die § 127 [X.] grundsätzlich keine Anwendung findet.

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 [X.]O.

Meta

III R 1/21

24.02.2022

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend FG Düsseldorf, 8. Dezember 2020, Az: 10 K 2769/19 AO, Urteil

§ 16 AO, § 17 AO, § 5 Abs 1 S 1 Nr 11 S 4 FVG, § 63 Abs 1 FGO, § 222 AO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 24.02.2022, Az. III R 1/21 (REWIS RS 2022, 2865)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 2865

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(Im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 19.01.2023 III R 2/22 - Keine Heilung der sachlichen …


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