Bundesfinanzhof, Beschluss vom 27.11.2018, Az. V B 72/18

5. Senat | REWIS RS 2018, 1193

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Gegenstand

Verfahrensfehler; Aufhebung und Zurückverweisung; Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, Verwertung mittelbarer Beweismittel; Gesamtergebnis des Verfahrens


Leitsatz

1. NV: Mittelbare (schriftliche) Beweismittel können bei der Urteilsfindung berücksichtigt werden, wenn die Erhebung des unmittelbaren Beweises unmöglich, unzulässig oder unzumutbar ist .

2. NV: Das FG verstößt gegen den Grundsatz der unmittelbaren Beweisaufnahme, wenn es im Rahmen der Beweiswürdigung den unterschiedlichen Beweiswert von Urkunden- und Zeugenbeweis nicht beachtet .

3. NV: Ein Verstoß gegen die Berücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens liegt u.a. vor, wenn das FG eine nach Aktenlage feststehende Tatsache (protokollierte Aussage einer Zeugin) bei seiner Beweiswürdigung unberücksichtigt lässt .

Tenor

Auf die Beschwerde der [X.]läger wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des [X.] vom 28. Juni 2018  10 [X.] 1230/15 U,[X.] aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die [X.]osten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Tatbestand

I.

1

Mit Urteil vom 28. Juni 2018  10 [X.] 1230/15 U,[X.] wies das Finanzgericht ([X.]) die [X.]lage der [X.]läger und Beschwerdeführer ([X.]läger) gegen den Haftungsbescheid vom 12. Februar 2015 in Gestalt der [X.] vom 10. April 2015 ab. Die [X.]läger seien faktische Geschäftsführer der [X.]-GmbH gewesen und hafteten daher nach §§ 34, 35, 69 der Abgabenordnung ([X.]) für die offenen Umsatzsteuerschulden und Säumniszuschläge der [X.]-GmbH. Die Überzeugung des Senats von der Stellung der [X.]läger als faktische Geschäftsführer beruhte auf den (schriftlichen) Aussagen der formellen Geschäftsführerin [X.], die von der Aussage der glaubwürdigen [X.] und --teilweise auch-- von der Zeugin T bestätigt würden. [X.] hatte für die mündliche Verhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht nach § 84 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) i.V.m. § 101 Abs. 1 [X.] Gebrauch gemacht, das [X.] verwertete daher ihre schriftliche Aussage als Beschuldigte eines Ermittlungsverfahrens der Steuerfahndung. Im Rahmen der Vernehmung wurde sie darauf hingewiesen, dass ihr ein Aussageverweigerungsrecht auch hinsichtlich ihrer Schwester, der [X.]lägerin, zustehe, gegen die ebenfalls wegen Steuerhinterziehung ermittelt werde; hiervon machte sie jedoch keinen Gebrauch. Die als Zeugin geladene [X.] hatte am 23. Mai 2013 gegenüber der Steuerfahndung als Zeugin ausgesagt, sie ist aber vor den mündlichen Verhandlungen verstorben.

2

Mit ihrer Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision machen die [X.]läger Verfahrensmängel [X.] von § 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O geltend. Das [X.] habe gegen das Gebot unmittelbarer Beweiserhebung (§ 81 [X.]O) verstoßen, indem es die Aussage der [X.] gegenüber der Steuerfahndung verwertet habe. Sie [X.], das [X.] habe den Vernehmungsbeamten befragen oder zumindest die Aussage der [X.] in vollem Umfange in der mündlichen Verhandlung verlesen müssen. Dabei wäre aufgefallen, dass die Belehrung der [X.] insoweit unvollständig sei, da sie auf ihr Aussageverweigerungsrecht hinsichtlich ihrer Schwester ([X.]lägerin) hingewiesen worden sei, nicht aber auch hinsichtlich ihres Schwagers, gegen den ebenfalls wegen Steuerhinterziehung ermittelt wurde. Darüber hinaus habe es das [X.] unterlassen, die aktenkundige Aussage der [X.] vor der Steuerfahndung zu berücksichtigen. Auf die Frage, wer Chef der Firma gewesen sei, habe diese geantwortet, dies sei ihres Wissens nach [X.] gewesen.

Entscheidungsgründe

II.

3

Die Beschwerde ist begründet. Das angefochtene Urteil wird aufgehoben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen (§ 116 Abs. 6 [X.]O).

4

1. Die Vorentscheidung ist aufzuheben, weil das [X.] gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme verstoßen und bei seiner Entscheidung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens berücksichtigt hat.

5

a) Nach § 81 Abs. 1 Satz 1 [X.]O hat das Gericht den Beweis in der mündlichen Verhandlung zu erheben. Der Sinn des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme und des aus ihm folgenden Gebots, Zeugen grundsätzlich selbst zu hören und sich nicht mit nur schriftlich übermittelten Bekundungen derselben zu begnügen, besteht darin, es dem Gericht zu ermöglichen, aufgrund des persönlichen Eindrucks von den Zeugen und durch kritische Nachfrage die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen zu überprüfen (vgl. [X.] vom 26. Juli 2010 VIII B 198/09, [X.], 2096, m.w.[X.]).

6

aa) Entgegen der Ansicht der Kläger hat das [X.] allerdings nicht dadurch gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme verstoßen, dass es die Niederschriften über die Vernehmung von Zeugen bei seiner Entscheidung verwertete. Denn mittelbare (schriftliche) Beweismittel können, wie das [X.] zu Recht entschieden hat, dann verwertet werden, wenn die Erhebung des unmittelbaren Beweises unmöglich, unzulässig oder unzumutbar ist. So lagen die Verhältnisse im Streitfall, nachdem [X.] dem [X.] mitgeteilt hatte, dass sie von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch mache. In diesem Falle besteht für die schriftliche Aussage kein Beweisverwertungsverbot (Urteil des [X.] --BFH-- vom 26. April 1988 VII R 124/85, [X.], 463, Leitsatz 3 sowie unter [X.]; [X.] Köln vom 10. November 1998  15 K 4994/93, Entscheidungen der Finanzgerichte 1999, 451, sowie [X.] vom 30. März 1990 VIII B 131/88, [X.] 1991, 461), denn der Widerruf des Verzichts wirkt nicht zurück (Schuster in [X.]/[X.]/ [X.] --[X.]--, § 101 [X.] Rz 24, m.w.[X.]). Entgegen der Auffassung der Kläger hat das [X.] auch keinen Verfahrensfehler begangen, indem es die Aussage der [X.] nicht in vollem Umfang in der mündlichen Verhandlung verlesen hat. Da die [X.]O und die nach § 155 [X.]O sinngemäß anzuwendenden Vorschriften der ZPO keine dem § 249 der Strafprozessordnung (StPO) entsprechende Vorschrift kennen, ist es nicht erforderlich, Niederschriften über frühere Aussagen von Zeugen in der mündlichen Verhandlung zu verlesen ([X.] vom 1. Oktober 2002 VII B 91/02, [X.] 2003, 192, unter [X.]; BFH-Urteil vom 15. Juli 1987 [X.], [X.], 459, 469, [X.] 1987, 746, 751).

7

bb) Das [X.] begeht allerdings dann einen Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, wenn im Urteil nicht zum Ausdruck kommt, dass der unterschiedliche Beweiswert von Urkunden- und Zeugenbeweis gesehen und bei der Urteilsfindung berücksichtigt wird ([X.] vom 12. Januar 2016 VII B 111/15, [X.] 2016, 579, unter [X.], Rz 7, sowie in [X.], 2096; [X.] in [X.], § 81 [X.]O Rz 30).

8

Im Streitfall hat das [X.] auf S. 19 des Urteils die schriftliche Aussage der [X.] als glaubhaft gewürdigt und ihr besonderes Gewicht bei seiner Überzeugungsbildung eingeräumt. Dies ergibt sich daraus, dass die Aussagen der in der mündlichen Verhandlung vernommenen Zeuginnen zur Unterstützung der schriftlichen Aussage der [X.] herangezogen wurden. Damit hat das [X.] nicht den unterschiedlichen Beweiswert einer lediglich protokollierten Aussage und des Zeugenbeweises beachtet, sondern die Aussage der [X.] wie eine Zeugenaussage verwertet. Das [X.] hat bei seiner Beweiswürdigung somit nicht berücksichtigt, dass im Hinblick auf den fehlenden Eindruck des Gerichts von der Glaubwürdigkeit der Zeugin [X.] deren aktenkundige Vernehmung nur ein eingeschränkter Beweiswert beigemessen werden kann. Hierin liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz der formellen Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme ([X.] in [X.], 2096).

9

b) Ein Verfahrensmangel i.S. von § 96 Abs. 1 [X.]O ist gegeben, wenn das [X.] bei seiner Entscheidung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde legt, insbesondere wenn das Gericht bei seiner Entscheidung von einem Sachverhalt ausgeht, welcher dem schriftlichen oder protokollierten Vorbringen der Beteiligten widerspricht, oder wenn das Gericht eine nach den Akten klar feststehende Tatsache unberücksichtigt gelassen hat (vgl. [X.] vom 30. Mai 2007 X B 176/06, [X.] 2007, 1698, m.w.[X.]).

Im Streitfall lagen dem [X.] die Akten des [X.] vor und damit auch die darin enthaltene schriftlich protokollierte Aussage der [X.] bei der Steuerfahndung. Diese hat das [X.] jedoch weder im Tatbestand seiner Entscheidung erwähnt noch bei seiner Würdigung in den Entscheidungsgründen berücksichtigt. Dies war nicht nur deshalb geboten, weil die Aussage der [X.] hinsichtlich der Frage nach der Geschäftsführung der K-GmbH ergiebig war, sondern auch deshalb, weil das [X.] die ebenfalls "nur" protokollierte Aussage der [X.] bei seiner Entscheidungsfindung herangezogen hat.

2. Die Kläger haben diese Verfahrensfehler ordnungsgemäß i.S. von § 116 Abs. 3 Satz 3 [X.]O gerügt. Es ist nicht völlig ausgeschlossen, dass die Vorentscheidung anders ausgefallen wäre, wenn das [X.] bei seiner Würdigung den geringeren Beweiswert der protokollierten Aussage von [X.] und die dem möglicherweise entgegenstehende Aussage der [X.] berücksichtigt hätte.

3. Da das Urteil bereits aufgrund der o.g. Verfahrensfehler keinen Bestand haben kann, bedarf es keines [X.] auf das weitere Vorbringen der Kläger. Von einer weiteren Begründung wird daher nach § 116 Abs. 5 Satz 2 [X.]O, der auch für den Beschluss nach § 116 Abs. 6 [X.]O gilt, abgesehen (vgl. [X.] vom 25. Oktober 2012 X B 22/12, [X.] 2013, 226; vom 23. September 2002 IV B 156/00, [X.] 2003, 191).

4. Da von einem nachfolgenden Revisionsverfahren auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen keine weitere rechtliche Klärung zu erwarten ist, hält es der Senat für zweckmäßig, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen (§ 116 Abs. 6 [X.]O).

Dabei hat das [X.] auch zu prüfen, ob einer Verwertung der schriftlichen Aussage der [X.] entgegensteht, dass sie zwar über ihr Zeugnisverweigerungsrecht hinsichtlich ihrer Schwester, nicht aber hinsichtlich ihres Schwagers belehrt wurde. Ein Zeugnisverweigerungsrecht besteht nach § 101 i.V.m. § 15 Abs. 1 Nr. 6 [X.] zwar auch gegenüber Schwager und Schwägerin, dies setzt aber eine Eheschließung der Schwester voraus. Die Ehe muss entweder nach [X.] Recht wirksam geschlossen oder bei im Ausland geschlossener Ehe in der [X.] anzuerkennen sein ([X.], [X.] § 15 Rz 16); eine Interpretation des Angehörigenbegriffs nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten scheidet dagegen aus ([X.] in [X.], § 15 [X.] Rz 9). Soweit aus den vorliegenden Akten (Ermittlungsberichte) ersichtlich, leben die Kläger aufgrund einer Ehe nach "tamilischer Tradition" zusammen. Ob dieses Zusammenleben die Anforderungen einer Ehe erfüllt, ist daher vom [X.] zu prüfen. Sofern danach eine wirksame Ehe vorliegen sollte, ist weiter zu prüfen, ob die Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht gegenüber der Schwester auch eine Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht gegenüber dem Schwager umfassen kann.

5. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

V B 72/18

27.11.2018

Bundesfinanzhof 5. Senat

Beschluss

vorgehend FG Münster, 28. Juni 2018, Az: 10 K 1230/15 U,K, Urteil

§ 81 Abs 1 FGO, § 96 Abs 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 116 Abs 6 FGO, § 155 FGO, § 249 StPO, § 15 Abs 1 Nr 6 AO, § 101 AO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 27.11.2018, Az. V B 72/18 (REWIS RS 2018, 1193)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2018, 1193

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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