Bundessozialgericht, Urteil vom 30.11.2023, Az. B 3 P 4/23 R

3. Senat | REWIS RS 2023, 9209

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - soziale Pflegeversicherung - Entlastungsbetrag - gerichtliche Geltendmachung des an ein Pflegeunternehmen abgetretenen Anspruchs - notwendige Beiladung des Versicherten - Verfahrensmangel


Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 25. Oktober 2022 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 451,59 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

Im [X.]treit steht die Höhe abgetretener Ansprüche auf den Entlastungsbetrag nach § 45b [X.]B XI.

2

Die Klägerin betreibt einen zugelassenen ambulanten Pflegedienst und schloss mit ihren Kunden Pflege- und Dienstleistungsverträge. Auf deren Grundlage erbrachte sie in der [X.] von März bis Oktober 2017 Entlastungsleistungen zugunsten der während des Berufungsverfahrens verstorbenen Versicherten, die bei der beklagten Pflegekasse versichert und nach dem Pflegegrad 3 pflegebedürftig war. Die Kosten der Entlastungsleistungen stellte die Klägerin der Beklagten aus abgetretenem Recht in Rechnung. Die Beklagte lehnte die vollständige Übernahme der Rechnungsbeträge ab und kürzte direkt gegenüber der Klägerin die Vergütung (Bescheide vom 24.4., 18.5., 21.6., 27.7., 13.9., [X.], 18.10. und 6.12.2017; Widerspruchsbescheid vom [X.]). Hieraus resultiert der streitgegenständliche Betrag von 451,59 Euro.

3

Das [X.] hat die Klage abgewiesen und das L[X.] die vom [X.] zugelassene Berufung zurückgewiesen (Urteile vom 19.11.2019 und 2[X.]2022). Die von der Klägerin beanspruchte Vergütung übersteige die Preise für vergleichbare [X.]achleistungen zugelassener Pflegeeinrichtungen. Dabei seien die nach § 36 [X.]B XI vereinbarten Vergütungssätze auch für die Leistungen des Entlastungsbetrags maßgeblich.

4

Die Klägerin rügt mit der vom L[X.] zugelassenen Revision die Verletzung materiellen Rechts. Es stelle sich die Frage, ob zugelassene Pflegedienste auch Entlastungsleistungen erbringen könnten, welche als häusliche Pflegehilfe nicht abrechnungsfähig seien.

5

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,

        

die Beklagte unter Aufhebung der Urteile des [X.] vom 25. Oktober 2022 und des [X.]ozialgerichts Nürnberg vom 19. November 2019 sowie der Bescheide der Beklagten betreffend die Versicherte [X.] vom 24. April 2017, 18. Mai 2017, 21. Juni 2017, 27. Juli 2017, 13. [X.]eptember 2017, 5. Oktober 2017, 18. Oktober 2017 und 6. Dezember 2017 jeweils in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. Mai 2019 zu verurteilen, an sie 451,59 [X.] zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

6

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

        

die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

7

Die zulässige Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung der Berufungsentscheidung und der Zurückverweisung der Sache an das [X.] erfolgreich (§ 170 Abs 2 Satz 2 [X.]). Das Urteil des [X.] leidet an einem von Amts wegen zu berücksichtigenden wesentlichen Verfahrensmangel. Ob die Klägerin einen weitergehenden Vergütungsanspruch aus abgetretenem Recht für Entlastungsleistungen im Rahmen des der pflegebedürftigen Versicherten zustehenden Entlastungsbetrags geltend machen kann, betrifft unmittelbar auch die Rechtsbeziehungen der Klägerin zur Versicherten und ihrem Rechtsnachfolger, weshalb dieser notwendig beizuladen war.

8

1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens sind neben den vorinstanzlichen Urteilen die bezeichneten Bescheide der Beklagten, soweit sie durch diese die von der Klägerin begehrte vollständige Übernahme der Rechnungsbeträge abgelehnt hat. Gegen diese Bescheide wendet sich die Klägerin zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 [X.]), gerichtet auf Änderung der angefochtenen Bescheide und Verurteilung der Beklagten zur vollständigen Übernahme der geltend gemachten Vergütung.

9

2. Einer Sachentscheidung des Senats steht entgegen, dass es einer notwendigen Beiladung der Versicherten bzw nach deren Tod des [X.] gemäß § 75 Abs 2 Alt 1 [X.] bedarf, weil der Rechtsstreit ihren abgetretenen Leistungsanspruch betrifft und damit zugleich das Leistungsverhältnis zwischen der Versicherten bzw nach deren Tod des [X.] und der Klägerin betrifft.

Nach § 75 Abs 2 Alt 1 [X.] sind Dritte beizuladen, wenn sie an dem streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt sind, dass die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann ("echte notwendige Beiladung"). Dies ist der Fall, wenn durch die Entscheidung zugleich in die Rechtssphäre des [X.] unmittelbar eingegriffen wird, wobei die Möglichkeit hierfür ausreicht. Die Entscheidung darf aus Rechtsgründen nur einheitlich ergehen, wozu weder genügt, dass sie logisch notwendig einheitlich ergehen muss, weil in beiden Rechtsverhältnissen über dieselben Vorfragen zu entscheiden ist, noch, dass die tatsächlichen Verhältnisse eine einheitliche Entscheidung erfordern (vgl [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.], 14. Aufl 2023, § 75 Rd[X.]0 mwN). Die Beiladung ist vielmehr notwendig, wenn die begehrte Sachentscheidung nicht getroffen werden kann, ohne dass dadurch gleichzeitig unmittelbar und zwangsläufig die Rechtsposition eines [X.] gestaltet, bestätigt oder festgestellt, verändert oder aufgehoben wird (vgl zuletzt BSG vom [X.] KR 7/22 R - vorgesehen für [X.] und [X.], Rd[X.]1 mwN).

So liegt es, soweit ein klagender Erbringer von Entlastungsleistungen aus abgetretenem Recht deren Vergütung nach Maßgabe des dem pflegebedürftigen Versicherten zustehenden Entlastungsbetrags begehrt. Dies ergibt sich aus der zugrunde liegenden pflegeversicherungsrechtlichen Rechtslage in Bezug auf Ansprüche der Versicherten im Rahmen des Entlastungsbetrags nach § 45b [X.] und dem Dreiecksverhältnis nach Abtretung dieser Ansprüche.

3. Nach § 45b Abs 1 Satz 1, 2 und 3 [X.], Abs 2 [X.] (hier idF des [X.] Pflegestärkungsgesetzes - [X.] vom 23.12.2016, [X.]) haben Pflegebedürftige in häuslicher Pflege Anspruch auf einen zweckgebundenen Entlastungsbetrag in Höhe von bis zu 125 Euro monatlich. Er dient ua der Erstattung von Aufwendungen, die den Versicherten im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von Leistungen ambulanter Pflegedienste iS des § 36 [X.] entstehen, in den Pflegegraden 2 bis 5 jedoch nicht von Leistungen im Bereich der Selbstversorgung. Beanspruchen Pflegebedürftige den Entlastungsbetrag für Leistungen ambulanter Pflegedienste unter den Voraussetzungen des § 45b Abs 1 Satz 3 [X.] [X.] entweder für pflegerische Betreuungsmaßnahmen oder für Hilfen bei der Haushaltsführung (vgl § 36 Abs 1 Satz 1 [X.]), ist deren Vergütung gemäß § 45b Abs 4 Satz 1 [X.] der Höhe nach durch die im Vertrag nach § 89 [X.] vereinbarten Vergütungssätze für vergleichbare Pflegesachleistungen nach § 36 [X.] begrenzt.

Ohne dass es einer vorherigen Antragstellung bedarf (§ 45b Abs 2 Satz 1 Halbsatz 2 [X.]), wählt der Versicherte danach aus, welchen Leistungserbringer er in Anspruch nimmt, und er vereinbart mit diesem die zu erbringenden Leistungen sowie deren Vergütung, deren Schuldner - abweichend von der Leistungserbringung nach dem Sachleistungsprinzip (§ 4 Abs 1 Satz 1 Var 2 [X.]; § 2 Abs 2 Satz 1 SGB V) - er selbst ist. Die Refinanzierung dieser Aufwendungen kann er im Kostenerstattungsverfahren bis zum Höchstbetrag des § 45b Abs 1 Satz 1 [X.] von 125 Euro von der Pflegekasse beanspruchen (vgl zum materiellen Anspruch auf einen Entlastungsbetrag BSG vom 30.8.2023 - B 3 P 6/23 R - vorgesehen für [X.] und [X.]). Darüber hinausreichende, von der begrenzten Leistungspflicht der Pflegeversicherung nicht gedeckte Aufwendungen für von dem Leistungserbringer bezogene Entlastungsleistungen treffen den Versicherten in dem so ausgestalteten Dreiecksverhältnis abschließend selbst. Tritt der - häufig betagte und gesundheitlich beeinträchtigte - Versicherte dem Leistungserbringer zu seiner Entlastung zahlungshalber seinen Anspruch auf den Entlastungsbetrag gegen die Pflegekasse ab (vgl BT-Drucks 18/5926 [X.]), betrifft ihn bei einer gerichtlichen Geltendmachung die Entscheidung über die Zahlungsklage des Leistungserbringers insoweit unmittelbar, als zum einen im Verhältnis zur Pflegekasse abschließend über das Bestehen und den Umfang seines Leistungsanspruchs und zum anderen über etwaige weitergehende, damit korrelierende Zahlungspflichten gegenüber dem Leistungserbringer entschieden wird (vgl für die stationäre [X.] vom 7.10.2010 - B 3 P 4/09 R - [X.] 107, 37 = [X.]-3300 § 87a [X.], Rd[X.]5 und für das [X.] bei § 43a [X.] BSG vom 11.11.2021 - B 3 P 2/20 R - [X.] 133, 141 = [X.]-3300 § 43a [X.], Rd[X.]3).

Zu einem Rechtsstreit über einen abgetretenen Anspruch auf Kostenerstattung ist danach der Versicherte - bzw nach dessen Tod der Rechtsnachfolger - notwendig beizuladen, weil der Anspruch des Leistungserbringers aus abgetretenem Recht dem Grunde und der Reichweite nach das Bestehen eines Kostenerstattungsanspruchs des Versicherten gegen die Pflegekasse für die erbrachte Leistung voraussetzt. Die Frage, ob und in welcher Höhe ein Erbringer von Entlastungsleistungen für einen Versicherten gegenüber der Pflegekasse im Rahmen einer Kostenerstattung nach § 45b [X.] Ansprüche geltend machen kann, kann im Verhältnis des Leistungserbringers zur Pflegekasse und zum Versicherten zwangsläufig nur einheitlich entschieden werden.

Nur durch eine echte notwendige Beiladung zum Rechtsstreit kann der Versicherte bzw Rechtsnachfolger im Hinblick auf mögliche weitere Forderungen gegen ihn effektiven Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 GG) erlangen, weil er nur so mit der Möglichkeit selbständiger Angriffs- und Verteidigungsmittel sowie abweichender [X.] (§ 75 Abs 4 [X.]) am Rechtsstreit über seinen Leistungsanspruch gegen die Pflegekasse beteiligt ist und die Rechtskrafterstreckung der Entscheidung hierüber ihn ebenso wie den Leistungserbringer in einem möglichen Folgestreit um weitergehende Ansprüche des Leistungserbringers bindet, aber auch schützt (vgl zur Beiladung zur Wahrung effektiven Rechtsschutzes zuletzt BSG vom [X.] KR 7/22 R - vorgesehen für [X.] und [X.], Rd[X.]7 ff mwN).

4. Die hiernach notwendige echte Beiladung der Versicherten bzw ihres [X.] ist in den Vorinstanzen unterblieben. Vor einer Beiladung des zu ermittelnden [X.] der Versicherten ist der Senat gehindert, über materiell-rechtliche Fragen für das [X.] bindend (§ 170 Abs 5 [X.]) zu entscheiden, weil anderenfalls das rechtliche Gehör (§ 62 [X.], Art 103 Abs 1 GG, Art 6 Abs 1 EMRK) des [X.] verletzt würde (vgl zuletzt BSG vom [X.] KR 7/22 R - vorgesehen für [X.] und [X.], Rd[X.]0 mwN). Die Beiladung ist nach Ermittlung des [X.] im wiedereröffneten Berufungsverfahren nachzuholen und sodann eine erneute Sachentscheidung zu treffen.

Das [X.] wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Die Streitwertfestsetzung für das Revisionsverfahren bestimmt sich nach der Höhe der geltend gemachten Forderung.

        

Schütze

Flint 

[X.] 

Meta

B 3 P 4/23 R

30.11.2023

Bundessozialgericht 3. Senat

Urteil

Sachgebiet: P

vorgehend SG Nürnberg, 19. November 2019, Az: S 18 P 41/18, Urteil

§ 45b SGB 11, § 75 Abs 2 Alt 1 SGG, § 62 SGG, Art 19 Abs 4 GG, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 30.11.2023, Az. B 3 P 4/23 R (REWIS RS 2023, 9209)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 9209

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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