Bundesgerichtshof, Beschluss vom 13.12.2023, Az. 1 StR 340/23

1. Strafsenat | REWIS RS 2023, 9481

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Gegenstand

Anforderung an Ablehnung eines Beweisantrags


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 17. April 2023 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hatte den Angeklagten im ersten Rechtsgang wegen sexuellen Missbrauchs von [X.] in neun Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern und mit versuchtem sexuellen Übergriff sowie in den sechs weiteren Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern, davon in einem Fall in weiterer Tateinheit mit Vergewaltigung und in den anderen fünf Fällen in Tateinheit mit versuchter Vergewaltigung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt und Entscheidungen im Adhäsionsverfahren getroffen. Diese Verurteilung hatte der Senat auf die Revision des Angeklagten aufgrund von [X.] mit den Feststellungen aufgehoben; insbesondere hatte das Tatgericht eine Fremdsuggestion durch die Mutter der Nebenklägerin nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen (Urteil vom 14. Dezember 2021 – 1 [X.]/21).

2

Im zweiten Rechtsgang hat das [X.], das bezüglich des Verurteilungsteils im Wesentlichen die gleichen Sachverhalte festgestellt hat, gegen den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von [X.] in sieben Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern und mit versuchtem sexuellen Übergriff sowie in den sechs weiteren Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern, davon in einem Fall in weiterer Tateinheit mit Vergewaltigung und in den anderen fünf Fällen mit versuchter Vergewaltigung, eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verhängt und wiederum Schmerzensgeld mit Annexentscheidungen im Adhäsionsverfahren zugesprochen; von zwei weiteren vormals ausgeurteilten Tatvorwürfen des sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a. hat es ihn aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die gegen seine Verurteilung gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts beanstandet, hat mit einer Verfahrensrüge wiederum Erfolg.

3

Der Rüge, mit welcher der Angeklagte die rechtsfehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrags beanstandet (§ 244 Abs. 6 Satz 1, Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 [X.]), liegt folgendes prozessuales Geschehen zugrunde:

4

a) Der Angeklagte hat in der Hauptverhandlung beantragt, das Gutachten eines Sachverständigen zum Beweis der Tatsache einzuholen, auch Scheinerinnerungen könnten – generell – zu ‚Trauma im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung‘ bzw. zu Nacherinnerungen („[X.]“) führen. Das [X.] hat diesen Antrag mit der Begründung abgelehnt, die [X.] sei aus tatsächlichen Gründen für die Entscheidung ohne Bedeutung: Wenn die Nebenklägerin die Missbrauchsvorwürfe nur aus Einbildungen heraus „erinnere“, also nicht von tatsächlich Erlebtem berichtet habe, folge bereits daraus, dass der Angeklagte die Taten nicht begangen habe und freizusprechen sei; dann komme es auf den Zusammenhang zwischen Scheinerinnerung und posttraumatischer Belastungsstörung bzw. Nacherinnerung nicht mehr an.

5

b) Diese Erwägung enthält tatsächlich keine Begründung.

6

aa) Das Tatgericht darf [X.] als für die Entscheidung tatsächlich bedeutungslos erachten (§ 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 [X.]), wenn es aus diesen eine mögliche Schlussfolgerung, die der Antragsteller erstrebt, nicht ziehen will. Das Tatgericht hat die unter Beweis gestellte Tatsache so, als sei sie erwiesen, in das aufgrund der bisherigen Beweisaufnahme erlangte Beweisergebnis einzustellen und im Wege einer prognostischen Betrachtung zu prüfen, ob hierdurch seine bisherige Überzeugung – gegebenenfalls in Anwendung des Zweifelsatzes – in einer für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch bedeutsamen Weise erschüttert würde.

7

Diese antizipierende Würdigung ist in dem den Antrag ablehnenden Beschluss (§ 244 Abs. 6 Satz 1 [X.]) näher darzulegen. Denn dieser hat insbesondere den Antragsteller, aber auch die anderen Verfahrensbeteiligten, über die Auffassung des Tatgerichts zu unterrichten, sodass er sich auf die neue Verfahrenslage einstellen und das Gericht doch noch von der Erheblichkeit der [X.] überzeugen oder aber neue Anträge mit demselben Beweisziel stellen kann („formalisierter Dialog“). Zudem muss der Ablehnungsbeschluss dem Revisionsgericht die Prüfung ermöglichen, ob der Beweisantrag rechtsfehlerfrei zurückgewiesen worden ist sowie ob seine Feststellungen und Schlussfolgerungen mit denjenigen des Urteils übereinstimmen. Faktisch hat das Tatgericht damit den betreffenden Ausschnitt aus der Beweiswürdigung, die es an sich erst im Urteil darzulegen hat, bereits in der Hauptverhandlung offenzulegen; freilich kann und muss die Beschlussbegründung in laufender Hauptverhandlung angesichts der Vorläufigkeit der Einschätzung in der Regel weder die Ausführlichkeit noch die Tiefe der Beweiswürdigung der späteren Urteilsgründe aufweisen; die wesentlichen Hilfstatsachen sind jedenfalls in Grundzügen mitzuteilen (zum Ganzen [X.], Beschlüsse vom 7. November 2023 – 2 StR 284/23 Rn. 19; vom 7. August 2023 – 5 [X.] Rn. 11 und vom 19. Dezember 2018 – 3 [X.] Rn. 7; Urteil vom 25. August 2022 – 3 [X.] Rn. 75; [X.] in [X.], [X.], 27. Aufl., § 244 Rn. 220 f.; jeweils mwN).

8

bb) Der Angeklagte wollte erkennbar den Beweiswert des Umstandes, dass die Nebenklägerin unter einer posttraumatischen Belastungsstörung bzw. Nacherinnerungen leide, was für die [X.] spreche, abschwächen; er wollte bewiesen haben, dass aus diesem aktuellen psychischen Zustand der Nebenklägerin nicht zwingend auf den Wahrheitsgehalt ihrer belastenden Zeugenaussage zu schließen sei. Damit wollte der Angeklagte zugleich für den Fall, dass das [X.] kein Sachverständigengutachten einholt, wissen, aufgrund welcher anderen Hilfstatsachen es die Aussage der Nebenklägerin dennoch für glaubhaft und die Zeugin insgesamt für glaubwürdig hielt, mit anderen Worten, warum es von Erinnerungen von tatsächlich Erlebtem und nicht von „Scheinerinnerungen“ ausging. Diese Antwort hat das Tatgericht nicht gegeben. Es hat vielmehr den vom Angeklagten begehrten – wissenschaftlich zu begründenden – Erfahrungssatz, posttraumatische Belastungsstörungen und Nacherinnerungen können auch auf Einbildungen zurückzuführen sein, nicht in seine Beweiswürdigung eingestellt, sondern den Beweisantrag sinnwidrig verkürzt.

9

cc) Das Urteil beruht auf dem Verfahrensfehler (§ 337 Abs. 1 [X.]). Es ist nicht auszuschließen, dass der Angeklagte auf eine den Anforderungen des § 244 Abs. 6 Satz 1, Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 [X.] genügende Begründung des Ablehnungsbeschlusses in einer für den Schuldspruch erheblichen Weise hätte reagieren können, naheliegend mit weiteren Beweisanträgen, um die anderen Begründungsansätze des [X.]s „angreifen“ zu können. In seiner – für sich genommen [X.] – Beweiswürdigung hat das [X.] die „Langzeittherapie“, der sich die Nebenklägerin zur Behandlung ihrer Traumata unterzieht, miteinbezogen und dabei Scheinerinnerungen als Ursache ausgeschlossen (insbesondere [X.] f.); damit hat es seine Überzeugungsbildung u.a. genau auf die Hilfstatsache (traumatische Belastungsstörung, die durch Erinnerungen an tatsächlich Erlebtes ausgelöst sei) gestützt, die der Angeklagte durch seinen Beweisantrag entkräftet wissen wollte.

Jäger     

      

Bellay     

      

Fischer

      

Bär     

      

Leplow     

      

Meta

1 StR 340/23

13.12.2023

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Ingolstadt, 17. April 2023, Az: J KLs 11 Js 20719/18 jug (2)

§ 244 Abs 3 S 3 Nr 2 StPO, § 244 Abs 6 S 1 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 13.12.2023, Az. 1 StR 340/23 (REWIS RS 2023, 9481)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 9481

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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3 StR 359/21

3 StR 516/18

2 StR 284/23

1 StR 234/21

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