Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.
Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"
Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern vor einer Jugendschutzkammer: Entbehrlichkeit der Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen kindlicher oder jugendlicher Zeugen
1. Die Revisionen des Angeklagten und der Nebenklägerin S. gegen das Urteil des [X.] vom 17. Mai 2016 werden als unbegründet verworfen.
2. Der Angeklagte trägt die Kosten seines Rechtsmittels und die den Nebenklägerinnen J. , [X.] und D. hierdurch im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen.
3. [X.]hat die Kosten ihres Rechtsmittels und die dem Angeklagten hierdurch im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Von Rechts wegen
Das [X.] hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit versuchtem sexuellen Missbrauch von Kindern, wegen Nötigung und vorsätzlichem unerlaubtem Erwerb einer Schusswaffe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt; im Übrigen hat es ihn freigesprochen.
Gegen die Verurteilung richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der er das Verfahren und die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Die Revision der Nebenklägerin [X.]beanstandet mit verfahrens- und sachlich-rechtlichen Angriffen, dass der Angeklagte vom Vorwurf der sie zur Nebenklage berechtigenden Taten freigesprochen worden i[X.]
Beide Revisionen haben keinen Erfolg.
I.
1. Nach den Feststellungen des [X.]s rieb der Angeklagte mit seinen Fingern an der Scheide und der Klitoris seiner schlafenden, zur Tatzeit zehn oder elf Jahre alten Enkeltochter [X.]. Nachdem [X.] davon erwacht und wieder eingeschlafen war, zog er ihre Hand zu seinem erigierten Glied, umschloss es mit ihrer Hand und onanierte (Fall II 1 der Urteilsgründe).
2. Als sich [X.] mit ihrer zwölf Jahre alten Freundin [X.] in ihrem Kinderzimmer aufhielt, betrat der nur mit einer Unterhose bekleidete Angeklagte das Kinderzimmer und fasste D. über ihrer Hose in den Genitalbereich. Als sich D. entzog, versuchte er, [X.] in den Genitalbereich zu greifen ([X.] der Urteilsgründe).
3. Anlässlich eines weiteren Besuchs hielt sich D. zusammen mit [X.] in deren Kinderzimmer auf. Der Angeklagte betrat das Kinderzimmer und fasste D. unter ihrem Nachthemd, aber über der Unterhose, in den Genitalbereich (Fall II 3 der Urteilsgründe).
4. Am Abend des 8. September 2010 benutzte der Angeklagte in einem Sport- und Kurhotel mit seiner Lebensgefährtin und seiner am 1. Februar 1996 geborenen Enkeltochter [X.] den Aufzug. Dort zog er [X.] das trägerlose Kleid bis zur Hüfte herunter, so dass ihre Brüste entblößt waren und hielt das heruntergezogene Kleid gegen ihren Willen fest ([X.] der Urteilsgründe).
5. Darüber hinaus lagen dem Angeklagten 16 Fälle der versuchten oder vollendeten sexuellen Nötigung (Vergewaltigung) in den Jahren 1997 bis 2011 zum Nachteil seiner Tochter, der Nebenklägerin S. , zur La[X.]
II.
1. Das [X.] hat seine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten in den abgeurteilten Fällen zum Nachteil seiner beiden Enkeltöchter [X.]und [X.] sowie von [X.]auf die Angaben der Tatopfer, seiner Lebensgefährtin und des leiblichen Vaters von [X.] , [X.], sowie dessen Ehefrau [X.]gestützt. Zu [X.]hat die [X.] ein aussagepsychologisches Gutachten eingeholt, den Ausführungen und Folgerungen der Sachverständigen [X.] jedoch in den Urteilsgründen widersprochen, soweit die Sachverständige die Glaubhaftigkeit von [X.]in Frage gestellt hat.
2. Hinsichtlich der dem Angeklagten vorgeworfenen Taten zum Nachteil der Nebenklägerin [X.]hat die [X.] den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Zur Glaubhaftigkeit der Aussagen dieser Nebenklägerin hatte die [X.] bei der Sachverständigen [X.]während des Laufs der Hauptverhandlung ein aussagepsychologisches Gutachten in Auftrag gegeben und folgt dem Gutachten, das die Glaubhaftigkeit aus verschiedenen Gründen angezweifelt hat. Die Sachkunde der Gutachterin hat die [X.] nicht in Zweifel gezogen.
3. Der Angeklagte hat sich weder zu den persönlichen Verhältnissen noch zu den Tatvorwürfen eingelassen. Allerdings ließ er die Verteidigung vortragen, das Verfahren sei ein von seiner Tochter [X.] und seiner geschiedenen Ehefrau [X.]. ersonnenes Komplott.
III.
Die auf die [X.] der Urteilsgründe beschränkte Revision des Angeklagten ist unbegründet. Die von der [X.] vorgenommene, ausführliche Beweiswürdigung weist keinen Rechtsfehler auf. Im Übrigen wird auf die Antragsschrift des [X.] Bezug genommen.
1. Das [X.] hat seine Überzeugung vom [X.] und der Täterschaft des Angeklagten im Wesentlichen aus den Aussagen der Nebenklägerinnen [X.] , [X.] und [X.]gewonnen. Die [X.] hat dargelegt, dass das von diesen jeweils geschilderte Geschehen zahlreiche Realitätskennzeichen aufweist, die Angaben der Nebenklägerinnen, insbesondere von E. , der damaligen Lebensgefährtin des Angeklagten, N. , des leiblichen Vaters von [X.] , und [X.] , der Ehefrau von [X.], eine Bestätigung gefunden haben und Anzeichen für ein familiäres Komplott unter Einbeziehung von [X.] fehlen.
2. Soweit die [X.] von dem die Nebenklägerin [X.]betreffenden aussagepsychologischen Sachverständigengutachten, das die Erlebnisbezogenheit ihrer Angaben in Frage gestellt hatte, abgewichen ist, liegt darin kein Rechtsfehler.
a) Es kann dahin stehen, ob die [X.] überhaupt verpflichtet gewesen wäre, zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Geschädigten [X.] auf die Hilfe einer aussagepsychologischen Sachverständigen zurückzugreifen; denn die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen ist grundsätzlich Aufgabe des Tatgerichts, wobei regelmäßig davon auszugehen ist, dass Berufsrichter über diejenige Sachkunde bei der Anwendung aussagepsychologischer Glaubwürdigkeitskriterien verfügen, die für die Beurteilung von Aussagen auch bei schwieriger Beweislage erforderlich i[X.] Dies gilt bei jugendlichen Zeugen erst recht, wenn die Berufsrichter – wie vorliegend – Mitglieder der [X.]gendschutzkammer sind und über spezielle Sachkunde in der Bewertung der Glaubwürdigkeit von jugendlichen Zeugen verfügen ([X.], Urteile vom 18. August 2009 – 1 [X.] Rn. 7, [X.], 51, 52 und vom 26. April 2006 – 2 [X.], [X.], 241 mwN; Beschluss vom 8. Januar 2013 – 1 [X.], [X.], 672).
Die Hinzuziehung eines psychologischen Sachverständigen ist lediglich dann geboten, wenn der Sachverhalt Besonderheiten aufweist, die Zweifel daran aufkommen lassen, ob die eigene Sachkunde des Tatgerichts zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit unter den konkret gegebenen Umständen ausreicht ([X.], [X.] Rspr.; vgl. Beschlüsse vom 8. Januar 2013 – 1 [X.], [X.], 672; vom 25. April 2006 – 1 [X.], [X.], 242, 243 und vom 12. November 1993 – 2 StR 594/93, [X.], 173). Solche Besonderheiten sind nicht schon allein deshalb anzunehmen, weil Gegenstand der Aussage eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung ist oder der Zeuge zur Zeit des geschilderten Vorfalls in kindlichem oder jugendlichem Alter war oder zum Zeitpunkt seiner Aussage i[X.]
b) Es ist einem Tatgericht auch nicht verwehrt, vom Gutachten eines Sachverständigen abzuweichen. Es muss dann aber die maßgeblichen Überlegungen des Sachverständigen wiedergeben und seine Gegenansicht unter Auseinandersetzung mit diesen begründen ([X.], Beschluss vom 29. September 2016 – 2 [X.] Rn. 6, [X.], 88, 89, mwN; [X.], Urteil vom 1. April 2009 – 2 [X.] Rn. 11, [X.], 571, 572).
Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil gerecht. Die konkreten Erwägungen der [X.], die sie der sachverständigen Einschätzung entgegensetzt, sind für den [X.] ohne weiteres nachvollziehbar und rechtsfehlerfrei.
Der [X.] besorgt auch nicht, dass das [X.] „die Kompetenz der Aussageperson“ [X.] – wie von der Verteidigung im Schriftsatz vom 10. [X.]li 2017 behauptet –, unzureichend gewürdigt hat.
IV.
Die Revision der Nebenklägerin ist unbegründet. Der näheren Erörterung bedarf lediglich die Verfahrensrüge nach § 244 Abs. 4 Satz 2 [X.]. Die weiteren Revisionsrügen bleiben aus den Gründen der Antragsschrift des [X.] ohne Erfolg.
1. Der Verfahrensrüge nach § 244 Abs. 4 Satz 2 [X.] liegt folgendes Geschehen zugrunde:
Die Nebenklägerin hatte beantragt, Frau [X.](hilfsweise einen vom Gericht zu bestimmenden Sachverständigen) als Sachverständige zum Beweis der Tatsache zu vernehmen, dass das Gutachten der Sachverständigen [X.] mit den Erkenntnissen der Wissenschaft nicht in Einklang steht, so dass Zweifel an der Sachkunde der Sachverständigen [X.] bestehen, und ein weiteres Sachverständigengutachten zum Beweis der Tatsache einzuholen, dass die Angaben der Nebenklägerin insgesamt und zu den Tatvorwürfen gegen den Angeklagten erlebnisbegründet sind. Zur Begründung des Antrags bezog sich die Nebenklägerin insbesondere auf das mit dem Beweisantrag vorgelegte Gutachten der [X.] , die das Gutachten der Sachverständigen [X.] analysiert hatte und zu dem Ergebnis gekommen war, dass es den wissenschaftlichen Anforderungen an aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsgutachten nicht genügte.
Die [X.] hat nach Anhörung der Sachverständigen [X.] in der Hauptverhandlung den Antrag auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens zur Frage des Erlebnisbezugs nach § 244 Abs. 4 Satz 2 [X.] durch Beschluss zurückgewiesen, weil durch das Gutachten der Sachverständigen [X.] das Gegenteil der behaupteten Tatsache bereits erwiesen und weder die Sachkunde der Sachverständigen zweifelhaft sei noch deren Gutachten Widersprüche enthalte. Aufgrund der Ausführungen der Sachverständigen [X.] sei für die Kammer bereits erwiesen, dass weder von Glaubhaftigkeit noch von fehlender Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin [X.] ausgegangen werden könne. Letztlich bleibe diese Frage durch das Gutachten der Sachverständigen [X.] unbeantwortet.
2. Die Rüge einer Verletzung des § 244 Abs. 4 Satz 2 [X.] zeigt einen Rechtsfehler auf.
Nach § 244 Abs. 4 Satz 2 [X.] kann die Anhörung eines weiteren Sachverständigen auch dann abgelehnt werden, wenn durch das frühere Gutachten das Gegenteil der behaupteten Tatsache bereits erwiesen ist; dies gilt nicht, wenn die Sachkunde des früheren Gutachters zweifelhaft ist, wenn sein Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, wenn das Gutachten Widersprüche enthält oder wenn der neue Sachverständige über Forschungsmittel verfügt, die denen eines früheren Gutachters überlegen erscheinen.
a) Der von der Nebenklägerin gestellte Antrag ist ein Beweisantrag.
Ob der Antragsteller eine Beweisbehauptung in der gebotenen Konkretisierung aufstellt, ist ggf. durch Auslegung des Antrags nach dessen Sinn und Zweck zu ermitteln ([X.] Rspr.; z.B. [X.], Urteil vom 6. [X.]li 1993 – 5 StR 279/93, [X.]St 39, 251, 253 f.). Bei dieser Auslegung hat das Gericht die Beweisbehauptung unter Würdigung aller in der Hauptverhandlung zutage getretenen Umstände, des sonstigen Vorbringens des Antragstellers sowie ggf. des Akteninhalts zu beurteilen ([X.], NStZ ([X.]) 1983, 208, 210; vgl. [X.][X.], [X.], 26. Aufl., § 244 Rn. 117 mwN; SK-[X.]/[X.], 5. Aufl., § 244 Rn. 59). Dabei dürfen keine überspannten Anforderungen gestellt werden (vgl. [X.][X.] aaO, § 244 Rn. 96 mwN).
Aus der Antragsbegründung ergibt sich deutlich, was die Nebenklägerin durch das Sachverständigengutachten belegen will. Sie will beweisen, dass bei Anwendung aussagepsychologischer Methodik auf ihre Aussage die dem Angeklagten im [X.] vorgeworfenen Sexualstraftaten auf ihrem tatsächlichen Erleben beruhen, sie also Opfer der dem Angeklagten zur Last gelegten Taten geworden sei und ihre Angaben der Wahrheit entsprechen.
b) Die Ablehnung dieses Beweisantrags durch das [X.] ist durch § 244 Abs. 4 Satz 2 [X.] nicht gedeckt.
Es fehlt an der für eine Ablehnung nach § 244 Abs. 4 Satz 2 [X.] vorrangig erforderlichen Überzeugung des Gerichts, das Gegenteil der behaupteten Tatsache sei durch das frühere Gutachten bereits erwiesen (vgl. hierzu auch [X.], Beschluss vom 3. November 2009 – 3 StR 355/09, [X.], 51). Unter Beweis gestellt war, dass die Angaben der Nebenklägerin insgesamt und insbesondere zu den Tatvorwürfen gegen den Angeklagten erlebnisbegründet sind, sich also das im [X.] geschilderte Geschehen tatsächlich ereignet hat. Das Gegenteil aber – dass die Tatvorwürfe gegen den Angeklagten nicht auf eigenem Erleben beruhen – hat das [X.] in dem Beschluss nicht dargelegt.
3. Auf der fehlerhaften Ablehnung des Beweisantrags beruht das Urteil jedoch nicht. Der [X.] kann ausschließen, dass das [X.] nach Einholung des weiteren Sachverständigengutachtens zu einer anderen Beurteilung der Angaben der Nebenklägerin gekommen wäre und die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage und ihre Glaubwürdigkeit für gegeben erachtet hätte; denn es hat sich nicht auf die Glaubhaftigkeitsbeurteilung der Sachverständigen [X.]gestützt, sondern seine Überzeugung von der Unwahrheit der Angaben der Nebenklägerin [X.] aus sicher widerlegten Angaben der Nebenklägerin (Hotel „Ge. “ in [X.]; Hotel „H. “ in Do. ) gebildet. Der [X.] kann ausschließen, dass das [X.] von der Richtigkeit der Angaben der Nebenklägerin zu den Tatvorwürfen ausgegangen wäre, wenn es ein weiteres Glaubhaftigkeitsgutachten eingeholt hätte.
V.
Raum |
Graf |
Ri[X.] Prof. Dr. Jäger ist im |
||
Raum |
||||
Radtke |
Fischer |
Meta
12.07.2017
Bundesgerichtshof 1. Strafsenat
Urteil
Sachgebiet: StR
vorgehend LG Bayreuth, 17. Mai 2016, Az: 1 KLs 123 Js 6336/14
§ 244 Abs 2 StPO, § 261 StPO, § 176 StGB
Zitiervorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 12.07.2017, Az. 1 StR 408/16 (REWIS RS 2017, 8185)
Papierfundstellen: REWIS RS 2017, 8185
Auf Mobilgerät öffnen.
Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.
1 StR 408/16 (Bundesgerichtshof)
3 StR 302/21 (Bundesgerichtshof)
Strafverfahren wegen Vergewaltigung: Tatrichterliche Sachkunde bezüglich der Aussagetüchtigkeit des Tatopfers; Beweiswürdigung bei Aussage-gegen-Aussage-Konstellation
6 StR 431/20 (Bundesgerichtshof)
Sexueller Missbrauch von Kindern: Abgrenzung von Befund- und Zusatztatsachen bei der Exploration für ein aussagepsychologisches …
2 StR 124/11 (Bundesgerichtshof)
Strafverfahren: Sachverständiger als völlig ungeeignetes Beweismittel
1 StR 602/12 (Bundesgerichtshof)
Revisionsverfahren: Erforderlicher Vortrag bei Aufklärungsrüge