Bundesfinanzhof, Beschluss vom 11.05.2015, Az. XI B 29/15

11. Senat | REWIS RS 2015, 11297

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Gegenstand

Begründete Nichtzulassungsbeschwerde: Anforderungen an die Urteilsbegründung bei vom FG angenommenen Organisationsverschulden - Absehen von einer durch Beweisbeschluss angeordneten Beweisaufnahme


Leitsatz

NV: Ein finanzgerichtliches Urteil ist nicht mit Gründen versehen, wenn das FG die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen eine angeblichen Organisationsverschuldens in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten ablehnt, ohne ausreichende Feststellungen zur Kanzleiorganisation und zu den geltend gemachten Wiedereinsetzungsgründen zu treffen .

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des [X.] vom 18. Februar 2015  12 K 23/14 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Tatbestand

1

I. [X.]ie Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), eine GmbH, betreibt ein Unternehmen für [X.]einigungen jeglicher Art. Sie nahm in den Streitjahren (2007 und 2008) aus [X.]echnungen einer Firma [X.] über [X.] in einem Hotel in … den Vorsteuerabzug vor.

2

[X.]er Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --[X.]--) versagte nach [X.]urchführung einer Außenprüfung bei der Klägerin in den [X.] für die Streitjahre vom 17. August 2012 den Vorsteuerabzug mit der Begründung, es sei zweifelhaft, ob [X.] die abgerechneten Leistungen tatsächlich erbracht habe.

3

[X.]en Einspruch der Klägerin, mit dem sie vorbrachte, [X.] habe diese Leistungen tatsächlich erbracht, wies das [X.] durch Einspruchsentscheidung vom 14. November 2013 als unbegründet zurück. [X.]ie Einspruchsentscheidung wurde der [X.]rozessbevollmächtigten der Klägerin ([X.]) an die damaligen Bevollmächtigten der Klägerin, der [X.] ([X.]), per Einschreiben mit [X.]ückschein bekanntgegeben. Auf dem Auslieferungsvermerk ist bestätigt, dass [X.] die Einspruchsentscheidung am 15. November 2013 erhalten hat.

4

[X.]er Einzelrichter, auf den der Senat den [X.]echtsstreit durch Beschluss vom 21. Januar 2015 übertragen hatte, wies die am 17. [X.]ezember 2013 erhobene Klage nach Vernehmung der Zeugin S ab. [X.]as Finanzgericht ([X.]) führte aus, die Klage sei unzulässig, da sie offensichtlich erst nach Ablauf der Klagefrist (§ 47 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--) erhoben worden sei. [X.]ie beantragte Wiedereinsetzung sei nicht zu gewähren, da sich das [X.] im [X.] an die Beweisaufnahme nicht davon habe überzeugen können, dass die Klägerin die Klagefrist ohne Verschulden versäumt habe. Vielmehr sprächen die dem Gericht erkennbaren Umstände --nämlich die (im Einzelnen wiedergegebenen) Aussagen der Zeugin, denen die Klägerin nicht widersprochen habe-- für ein (nicht näher bezeichnetes) Organisationsverschulden ihrer Bevollmächtigten. Nähere Angaben dazu, wie im Einzelnen gewährleistet worden sei, dass [X.], deren Zugang einen Fristablauf auslösen könne, namentlich von [X.] stets vor Fristablauf erhalte, vermöge das Gericht in der Gesamtschau der Akten einerseits und den Angaben der Zeugin andererseits nicht zu erkennen.

5

Mit der Beschwerde rügt die Klägerin Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O.

Entscheidungsgründe

6

II. [X.] ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 [X.]O).

7

Die Entscheidung des [X.] ist, soweit es die beantragte Wiedereinsetzung abgelehnt hat, nicht mit Gründen versehen (dazu 2.).

8

Überdies hat das [X.] verfahrensfehlerhaft zwei weitere geladene, aber nicht erschienene Zeugen nicht vernommen, obwohl es den zuvor erlassenen Beweisbeschluss weder aufgehoben noch sonst unmissverständlich zu erkennen gegeben hat, dass es diese beiden Zeugen nicht mehr hören werde (dazu 3.).

9

1. Die Vorentscheidung ist nicht bereits deshalb wegen eines Verfahrensfehlers aufzuheben, weil das [X.] ([X.]) im Gerichtsbescheid vom 7. Januar 2015 der Klägerin Wiedereinsetzung gewährt hatte; denn dieser Gerichtsbescheid ist durch den Antrag der Klägerin vom 14. Januar 2015 gegenstandslos geworden. Der Einzelrichter war deshalb an die vom [X.] zunächst im Gerichtsbescheid gewährte Wiedereinsetzung nicht gebunden (vgl. [X.] in Tipke/[X.], Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 56 [X.]O Rz 28; [X.] in [X.]/[X.]/ [X.] --[X.]--, § 56 [X.]O Rz 632).

2. [X.]oweit die Klägerin mit der Beschwerde vorbringt, das [X.] habe nicht hinreichend begründet, worin es ein Organisationsverschulden der [X.] sehe, das für die Fristversäumnis kausal sei, und das [X.] habe ihren Vortrag zur Übergabe des [X.] überhaupt nicht berücksichtigt, rügt sie sinngemäß und zutreffend das Fehlen von Entscheidungsgründen i.[X.]. des § 119 Nr. 6 [X.]O und damit eine Verletzung der in § 105 Abs. 2 Nr. 5 [X.]O niedergelegten [X.]flicht des Gerichts, sein Urteil mit Gründen zu versehen.

a) Nach § 119 Nr. 6 [X.]O ist ein Urteil stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn die Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist. Es reicht hierfür aus, wenn die Gründe nur zum Teil fehlen und das Gericht ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel, das für sich allein den vollständigen Tatbestand einer mit selbständiger Wirkung ausgestatteten Rechtsnorm bildet, übergangen hat (vgl. z.B. Beschlüsse des [X.] --[X.]-- vom 1. April 2003 [X.]105/02, [X.] 2003, 1193, unter II.2., m.w.N.; vom 23. [X.]eptember 2009 I[X.]52/09, [X.] 2010, 220, unter 1.a; Lange in [X.], § 119 [X.]O Rz 359 ff.). Ein Verstoß gegen das [X.] liegt jedoch auch dann vor, wenn das Gericht einen wesentlichen [X.]treitpunkt entweder überhaupt nicht erörtert oder mit formelhaften und inhaltlich nicht nachvollziehbaren Formulierungen abhandelt ([X.] vom 1. August 2002 I B 162/01, [X.] 2003, 172; vom 21. April 2004 I[X.]155/03, juris; vom 1. Februar 2012 VI B 71/11, [X.] 2012, 767, Rz 14; vom 5. Dezember 2013 XI B 17/13, [X.] 2014, 548). Nicht ausreichend ist hingegen, dass die Urteilsbegründung nicht den Erwartungen eines Beteiligten entspricht, lückenhaft, rechtsfehlerhaft oder nicht überzeugend ist (vgl. z.B. [X.] vom 11. Juli 2012 [X.]41/11, [X.] 2012, 1634, m.w.N.). Die Abgrenzung zwischen erheblichen und nicht wesentlichen [X.] hat sich am Zweck der Urteilsbegründung zu orientieren, der darin besteht, für den Ausspruch der Urteilsformel den Nachweis der Rechtmäßigkeit zu liefern ([X.]-Urteil vom 17. April 2002 [X.], [X.], 124, [X.], 527, und [X.] vom 10. November 2011 [X.]211/10, [X.] 2012, 426). Vom Vorliegen eines Verfahrensmangels i.[X.]. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O ist danach dann auszugehen, wenn den Beteiligten --zumindest in Bezug auf einen der wesentlichen [X.] die Möglichkeit entzogen ist, die getroffene Entscheidung auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen (vgl. [X.] vom 11. Dezember 2013 XI B 33/13, [X.] 2014, 714).

b) Gemessen daran ist das Urteil, soweit das [X.] die Wiedereinsetzung versagt hat, nicht mit Gründen versehen. Das [X.] hat ein sog. Organisationsverschulden der [X.] in ihrer Kanzlei lediglich behauptet, ohne dass dies anhand der vom [X.] getroffenen Feststellungen nachvollziehbar wäre.

aa) Das Urteil enthält bereits keine tatsächlichen Feststellungen dazu, wann der Antrag auf Wiedereinsetzung gestellt wurde, wie die Klägerin die Fristversäumnis entschuldigt hat und wie die Einspruchsentscheidung von R über [X.] zu [X.] gelangt ist. Insbesondere hat sich das [X.] in seinem Urteil nicht mit dem Vorbringen der Klägerin und der anwaltlichen Versicherung der [X.] im [X.]chriftsatz vom 23. Dezember 2013 auseinandergesetzt, wie dies erfolgt sein soll. Auch hat [X.] nach dem Inhalt der Niederschrift vom 18. Februar 2015 in ihrer Vernehmung vor dem Einzelrichter angegeben, sie gehe davon aus, dass ihr die Einspruchsentscheidung --wie üblich-- mit der [X.] schon einmal vorgelegt worden sei.

Es ist nicht ersichtlich, aus welchen Gründen das [X.] den Vortrag für unerheblich, die Angaben der [X.] und der [X.] für nicht glaubhaft oder durch andere Umstände widerlegt angesehen hat.

bb) Zwar ist dem [X.] abstrakt darin beizupflichten, dass ein Organisationsverschulden in der Kanzlei der [X.] dazu führen könnte, dass eine Fristversäumnis schuldhaft sein kann. Das Urteil des [X.] enthält jedoch allenfalls bruchstückhafte Feststellungen dazu, wie die Organisation in der Kanzlei der [X.] überhaupt ausgestaltet ist, so dass offen bleibt, aufgrund welcher Tatsachen das [X.] davon ausgeht, es liege im Rahmen der (nicht tatsächlich festgestellten) Organisation ein Verschulden vor. Zu solchen Feststellungen hätte schon deshalb Anlass bestanden, weil das [X.] im Gerichtsbescheid vom 7. Januar 2015 noch u.a. aus der Verwendung des [X.] geschlossen hatte, dass [X.] die Überwachung der Fristen mit der gebotenen [X.]orgfalt eingerichtet und fortlaufend überwacht habe sowie der fachkundigen [X.], die u.a. wisse, dass bei [X.] die Klagefrist in einem Fristenkontrollbuch festzuhalten seien, nur ein einmaliges Versehen unterlaufen sei.

Weder die eine noch die andere Aussage des [X.] wird bisher durch tatsächliche Feststellungen getragen.

c) Die Klägerin hat auch --entgegen der Auffassung des [X.]-- diesen Verfahrensmangel hinreichend i.[X.]. des § 116 Abs. 3 [X.]atz 3 [X.]O dargelegt. Insbesondere hat sich das [X.] nicht mit dem Einwand der Klägerin befasst, das [X.] habe das Vorliegen eines Organisationsverschuldens nicht begründet.

[X.]oweit das [X.] in diesem Zusammenhang geltend macht, es liege ein "offensichtliches Organisationsverschulden" vor, wird das [X.] im zweiten Rechtsgang beurteilen müssen, ob dies zutrifft.

3. Darüber hinaus ist dem [X.] ein weiterer Verfahrensfehler dadurch unterlaufen, dass es sein Urteil gefällt hat, ohne zuvor entweder Frau M und Herrn N, deren Vernehmung es unter dem 21. Januar 2015 förmlich beschlossen und die es zur mündlichen Verhandlung vom 18. Februar 2015 erfolglos geladen hatte, als Zeugen zu vernehmen oder die Beweisbeschlüsse vom 21. Januar 2015 aufzuheben oder den Beteiligten sonst unmissverständlich zu erkennen zu geben, dass es die [X.] und N nicht mehr hören werde.

a) Nach der ständigen Rechtsprechung des [X.] entsteht durch einen förmlichen Beweisbeschluss eine Verfahrenslage, auf welche die Beteiligten ihre [X.]rozessführung einrichten dürfen. [X.]ie können grundsätzlich davon ausgehen, dass das Urteil nicht eher ergehen wird, bis der Beweisbeschluss vollständig ausgeführt ist. Zwar ist das Gericht nicht verpflichtet, eine angeordnete Beweisaufnahme in vollem Umfang durchzuführen. [X.] es jedoch von einer Beweisaufnahme absehen, muss es zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung vor Erlass des Urteils für die Beteiligten unmissverständlich zum Ausdruck bringen, dass es den Beweisbeschluss als erledigt betrachtet (vgl. [X.] vom 19. Dezember 2012 XI B 84/12, [X.] 2013, 745; vom 2. August 2013 XI B 97/12, [X.] 2013, 1791; vom 30. [X.]eptember 2013 XI B 69/13, [X.] 2014, 166; vom 17. Oktober 2013 II B 31/13, [X.] 2014, 68; vom 24. Juli 2014 V B 1/14, [X.] 2014, 1763; vom 19. [X.]eptember 2014 I[X.]101/13, [X.] 2015, 214).

b) Hieran fehlt es im [X.]treitfall. Das [X.] hat die Beteiligten nicht schriftlich darauf hingewiesen, dass es von der Vernehmung der [X.] und N trotz der Beweisbeschlüsse vom 21. Januar 2015 absehen werde. Auch enthält die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 18. Februar 2015 keinen entsprechenden Hinweis, obwohl die Klägerin in der mündlichen Verhandlung nochmals die Vernehmung der Zeugen beantragt hatte. Da ein mündlich erteilter Hinweis als wesentlicher Vorgang der Verhandlung in das [X.]rotokoll aufzunehmen (§ 94 [X.]O i.V.m. § 160 Abs. 2 der Zivilprozessordnung --Z[X.]O--) gewesen wäre, erbringt das [X.]itzungsprotokoll insofern auch den negativen Beweis (§ 94 [X.]O i.V.m. § 165 Z[X.]O), dass der Hinweis unterblieben ist (vgl. [X.] in [X.] 2015, 214, Rz 10, 12).

4. Aufgrund dieser Verfahrensfehler erscheint es sachgerecht, gemäß § 116 Abs. 6 [X.]O das angefochtene Urteil aufzuheben und die [X.]ache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen, da beim derzeitigen Verfahrensstand von einer Revisionsentscheidung keine weitere rechtliche Klärung zu erwarten ist (vgl. dazu z.B. [X.] vom 7. [X.]eptember 2011 V B 54/11, [X.] 2011, 2091; vom 10. Februar 2015 V B 87/14, [X.] 2015, 662, m.w.N.).

5. Der [X.]enat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 116 Abs. 5 [X.]atz 2 Halbsatz 2 [X.]O). Diese Vorschrift gilt auch für Beschlüsse i.[X.]. des § 116 Abs. 6 [X.]O (vgl. [X.] vom 28. August 2014 [X.]182/13, [X.] 2014, 1899, m.w.N.).

6. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das [X.] folgt aus § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

XI B 29/15

11.05.2015

Bundesfinanzhof 11. Senat

Beschluss

vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg, 18. Februar 2015, Az: 12 K 23/14, Urteil

§ 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 116 Abs 6 FGO, § 119 Nr 6 FGO, § 56 FGO, § 105 Abs 2 Nr 5 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 11.05.2015, Az. XI B 29/15 (REWIS RS 2015, 11297)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 11297

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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