Bundessozialgericht, Urteil vom 02.11.2012, Az. B 4 AS 39/12 R

4. Senat | REWIS RS 2012, 1746

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Gegenstand

Grundsicherung für Arbeitsuchende - Ersatzanspruch bei sozialwidrigem Verhalten - grob fahrlässige Herbeiführung von Hilfebedürftigkeit für Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft - Inhaftierung nach Straftat - Sozialwidrigkeitsbegriff


Leitsatz

Ein Kostenersatzanspruch des SGB II-Trägers setzt einen spezifischen Bezug zwischen einem sozialwidrigen Verhalten und der Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit bzw dem Wegfall der Erwerbsfähigkeit oder -möglichkeit voraus.

Tenor

Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 16. März 2012 aufgehoben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des [X.] vom 24. Mai 2011 zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

Tatbestand

1

Streitig ist ein Kostenersatzanspruch des Beklagten für [X.]-Leistungen.

2

Der 1973 geborene Kläger wurde wegen einer im Juli 2003 begangenen Straftat (räuberischer Diebstahl in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung und versuchter Vergewaltigung) durch das [X.] zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde (Urteil vom 18.10.2004). Aufgrund eines Haftbefehls desselben Gerichts vom 28.12.2004, das einen dringenden Verdacht der erneuten Belästigung der Geschädigten durch den Kläger sah, wurde er vom 17.1.2005 bis zum 18.3.2005 wegen Verdunkelungsgefahr in Untersuchungshaft genommen. Sein Arbeitgeber kündigte das Arbeitsverhältnis zum 24.1.2005. Arbeitslosengeld erhielt der Kläger ab 22.3.2005.

3

Auf Antrag der Ehefrau des [X.] vom [X.] bewilligte der Beklagte für diese und die gemeinsame Tochter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem [X.] für die [X.] vom 15.2. bis 31.3.2005. Von dem Kläger verlangte er "Kostenersatz wegen schuldhaften Verhaltens" für den [X.]raum vom 15.2. bis 21.3.2005 in Höhe von 1477,41 Euro (Bescheide vom 14.4.2005 und [X.]). Im Widerspruchsverfahren setzte der Beklagte den Kostenersatz auf 1513,34 Euro fest und wies den Widerspruch im Übrigen als unbegründet zurück (Widerspruchsbescheid vom [X.]). Dabei ging er davon aus, dass der Kläger seinen Arbeitsplatz aufgrund der Inhaftierung verloren und damit grob fahrlässig die Hilfebedürftigkeit seiner Ehefrau und des Kindes herbeigeführt habe.

4

Das [X.] hat die angefochtenen Bescheide vom 14.4.2005 und [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom [X.] aufgehoben, soweit der [X.]raum vom 15.2. bis [X.] betroffen war und die Klage im Übrigen abgewiesen (Urteil vom 24.5.2011), weil der Kläger während der [X.] der Untersuchungshaft nicht in Bedarfsgemeinschaft mit seiner Ehefrau und dem Kind gelebt habe. Auf die Berufung des Beklagten hat das L[X.] das Urteil des [X.] abgeändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen (Urteil vom 16.3.2012). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, als Fallgruppe eines sozialwidrigen Verhaltens komme die Verletzung der Unterhaltspflicht durch Herbeiführung von Untersuchungs- oder Strafhaft in Betracht. Durch seine strafbare Handlung habe der Kläger sozialwidrig gehandelt, ohne dass ihm ein wichtiger Grund zur Seite gestanden habe. Es liege ein zumindest grob fahrlässiges Verhalten vor, weil für den Kläger vorhersehbar gewesen sei, dass sein Verhalten Hilfebedürftigkeit herbeiführen werde. Sowohl im [X.]punkt des sozialwidrigen Verhaltens (Straftat im Jahre 2003) als auch im [X.]punkt des [X.] (Untersuchungshaft Januar 2005) habe die Bedarfsgemeinschaft bestanden und während der Haft auch fortbestanden.

5

Mit seiner Revision rügt er die Verletzung von § 34 Abs 1 [X.], der enger gefasst sei als die Vorgängerregelung des § 92a [X.]. [X.] für das Bestehen eines Kostenersatzanspruchs sei das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft, die ohne Bezug zu beantragten oder gewährten Leistungen nicht existiere. Zwar habe er bei seiner Inhaftierung mit Frau und Kind in einem Haushalt gelebt, mangels Leistungsberechtigung aber keine Bedarfsgemeinschaft gebildet. Auch zum [X.]punkt des Antrags auf [X.]-Leistungen und der tatsächlichen Leistungserbringung habe er nicht mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft gelebt. Auch verletze das Urteil den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, weil sein Verhalten wegen einer von der [X.] verhängten Sperrzeit ohne ausdrückliche gesetzliche Ermächtigungsgrundlage zweifach sanktioniert werde.

6

Der Kläger beantragt,
das Urteil des [X.] vom 16. März 2012 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des [X.] vom 24. Mai 2011 zurückzuweisen.

7

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

8

Er hält die Ausführungen des L[X.] für zutreffend.

Entscheidungsgründe

9

Auf die Revision des [X.] war das Urteil des [X.] vom 16.3.2012 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des [X.] vom 24.5.2011 zurückzuweisen. Das [X.] hat die angefochtenen Bescheide vom 14.4.2005 und [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom [X.] im Ergebnis zu Recht aufgehoben, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Kostenersatzanspruch nach § 34 [X.]B II nicht vorliegen.

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid vom 14.4.2005 in der Gestalt des Änderungsbescheids vom [X.] und des Widerspruchsbescheids vom [X.], mit dem der Beklagte von dem Kläger zunächst für die [X.] vom [X.] bis 19.4.2005 Ersatz für die an seine Ehefrau und Tochter gewährten Leistungen nach dem [X.]B II in Höhe von 2595,45 Euro, anschließend für die [X.] vom [X.] bis 21.3.2005 in Höhe von 1477,41 Euro und mit Widerspruchsbescheid vom [X.] zuletzt für die [X.] vom [X.] bis 21.3.2005 in Höhe von 1513,34 Euro verlangt hat.

Hiergegen wendet sich der Kläger zu Recht mit der isolierten Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 [X.]G). Da nur der Beklagte Berufung gegen das beide Beteiligte beschwerende Urteil des [X.] eingelegt hat, war ein Kostenersatzanspruch des Beklagten für den [X.]raum vom 18.3.2005 bis 21.3.2005 nicht (mehr) Gegenstand des Berufungsverfahrens. Nach Abänderung des erstinstanzlichen Urteils und vollständiger Klageabweisung durch das [X.] erstreckt sich die Überprüfung im Revisionsverfahren daher nur auf die Rechtmäßigkeit des für die [X.] vom [X.] bis 17.3.2005 von dem Beklagten geltend gemachten [X.].

2. Unabhängig von einer etwaigen teilweisen Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide schon wegen einer Erhöhung des Kostenersatzanspruchs im Widerspruchsverfahren von 1477,41 Euro auf 1513,34 Euro ist die Revision des [X.] schon deshalb begründet, weil die Voraussetzungen für einen Ersatzanspruch nach § 34 Abs 1 [X.]B II nicht vorliegen.

Nach § 34 Abs 1 [X.]B II in der vom 1.1.2005 bis [X.] geltenden Fassung des Art 1 des [X.] am Arbeitsmarkt vom [X.] ([X.]) ist, wer nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für seine Hilfebedürftigkeit oder die Hilfebedürftigkeit von Personen, die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben ([X.] 1), oder die Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts an sich oder an Personen, die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben ([X.] 2) ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat, zum Ersatz der deswegen gezahlten Leistungen verpflichtet (Satz 1). Von der Geltendmachung des [X.] ist abzusehen, soweit sie den [X.] künftig von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach diesem Buch oder von Leistungen nach dem [X.] abhängig machen würde (Satz 2). Zwar scheitert ein Ersatzanspruch des Beklagten nicht schon daran, dass der Kläger mit seiner leistungsberechtigten Ehefrau sowie der gemeinsamen Tochter nicht in einer Bedarfsgemeinschaft iS des § 34 Abs 1 [X.]B II lebte. Es liegt jedoch kein sozialwidriges Verhalten des [X.] vor.

3. Der Kläger erfüllt die persönlichen Voraussetzungen der Ersatzpflicht. Der Kläger hat auch iS von § 34 Abs 1 [X.]B II mit seiner Ehefrau und Tochter in einer Bedarfsgemeinschaft iS des [X.]B II gelebt. Hiervon ist das [X.] zu Recht ausgegangen. Der Ersatzanspruch nach § 34 [X.]B II setzt nicht voraus, dass schon vor Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit [X.]B II-Leistungen bezogen wurden und eine „Bedarfsgemeinschaft im Leistungsbezug“ vorlag. Es genügt, dass bei Eintritt der Hilfebedürftigkeit dem Grunde nach eine Bedarfsgemeinschaft bestanden hätte. Der Begriff der Bedarfsgemeinschaft iS von § 34 [X.] [X.]B II wird insofern durch den in § 7 Abs 3 [X.]B II umschriebenen Personenkreis definiert. Ein anderes Verständnis der Bezugnahme auf den Begriff der Bedarfsgemeinschaft widerspräche dem Sinn und Zweck des § 34 [X.]B II, der gerade an die Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit - und somit die Schaffung einer Leistungsvoraussetzung des [X.]B II - für die Annahme einer Ersatzpflicht anknüpft. Vor der Inhaftierung am 17.1.2005 bildete der Kläger dem Grunde nach eine Bedarfsgemeinschaft mit seiner Familie nach § 7 Abs 3 [X.] 3a, [X.] 4 [X.]B II.

Es kann offen bleiben, ob die Voraussetzungen des § 34 Abs 1 [X.]B II auch (noch) vorliegen, wenn - etwa während eines längeren Leistungsbezugs - eine Lösung der Bedarfsgemeinschaft stattgefunden hat. Der Kläger hat hier auch während der Untersuchungshaft mit seiner Ehefrau und Tochter eine Bedarfsgemeinschaft iS des [X.]B II gebildet. Zwar war er selbst in der [X.] seiner Inhaftierung nach § 7 Abs 4 [X.]B II (idF des [X.] am Arbeitsmarkt vom [X.], [X.], gültig vom 1.1.2005 bis 31.7.2006) grundsätzlich von den Leistungen des [X.]B II ausgeschlossen (vgl zur bis 31.7.2006 geltenden Rechtslage B[X.] [X.] 4-4200 § 7 [X.] 5). Mangels eines erkennbaren Trennungswillens als nur vorübergehend räumlich getrennt lebender Ehegatte war er aber weiterhin als Mitglied der Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs 3 [X.] 3a, [X.] 4 [X.]B II anzusehen (vgl § 1567 Abs 1 BGB, B[X.]E 105, 291 = [X.] 4-4200 § 7 [X.] 16, jeweils Rd[X.] 13 f; Spellbrink in Eicher/Spellbrink, [X.]B II, 2. Aufl 2008, § 7 Rd[X.] 41).

4.a) Eine Heranziehung zum Kostenersatz scheitert jedoch daran, dass ein sozialwidriges Verhalten iS des § 34 Abs 1 [X.]B II hier nicht vorliegt. Aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift sowie ihrem jetzigen systematischen Kontext mit weiteren Regelungen des [X.]B II ergibt sich, dass nicht jedes - hier in hohem Maße gegebene - verwerfliche Verhalten, das eine Hilfebedürftigkeit oder Leistungserbringung nach dem [X.]B II verursacht, zur Erstattungspflicht führt. Erfasst wird nur ein Verhalten mit spezifischem Bezug, dh "innerem Zusammenhang", zur Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit bzw Leistungserbringung. Dies ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte des als Ausnahmefall vorgesehenen Kostenersatzanspruchs gegenüber einem Leistungsberechtigten sowie dem jetzigen systematischen Kontext des § 34 [X.]B II mit weiteren [X.]B II-Regelungen. Das Verhalten des [X.] erfüllte die insofern zu stellenden Anforderungen nicht.

b) Aus der Entstehungsgeschichte des § 34 [X.]B II ergibt sich, dass es sich um einen eng auszulegenden Ausnahmetatbestand handelt. Während die jetzige Parallelregelung zum Kostenersatz bei schuldhaftem Verhalten in § 103 [X.]B XII die bis zum 31.12.2004 geltende Vorschrift des § 92a [X.] im Wesentlichen inhaltsgleich übernommen hat (BT-Drucks 15/1514 [X.] zu § 98), soll sich § 34 [X.]B II nach dem Willen des Gesetzgebers (lediglich) an die sozialhilferechtliche Regelung "anlehnen" (BT-Drucks 15/1516 [X.] zu § 34). Dies findet seinen Ausdruck in der zT unterschiedlichen Ausgestaltung beider Vorschriften, etwa darin, dass § 34 Abs 1 [X.]B II in seiner hier maßgebenden Fassung bis zum [X.] keine § 103 Abs 1 S 2 [X.]B XII entsprechende Regelung zum Wegfall einer Heranziehung zum Kostenersatz, sondern - mit dem Absehen von seiner Geltendmachung bei zu erwartenden Leistungsberechtigung nach dem [X.]B II oder dem [X.]B XII - lediglich eine "spezielle Härteregelung" (§ 34 Abs 1 S 2 [X.]B II aF) enthielt ([X.] in jurisPK-[X.]B XII, 1. Aufl 2010, § 103 Rd[X.] 14). Auch setzt § 103 [X.] [X.]B XII im Unterschied zu § 34 [X.] [X.] 1 [X.]B II nicht das Fehlen eines wichtigen Grundes voraus. Trotz dieser Unterschiede ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte der gemeinsamen Vorgängervorschrift zu § 103 [X.]B XII und § 34 [X.]B II in § 92a [X.], dass auch für den Ersatzanspruch nach § 34 [X.]B II ein sozialwidriges Verhalten des Erstattungspflichtigen notwendig vorauszusetzen ist.

Bereits bei Festsetzung eines [X.] bei schuldhaftem Verhalten nach § 92a [X.] (in der bis zum 31.12.2004 geltenden Fassung), wonach zum Ersatz der Kosten der Sozialhilfe verpflichtet war, wer nach Vollendung des 18. Lebensjahres die Voraussetzungen für die Gewährung der Sozialhilfe an sich selbst oder seine unterhaltsberechtigten Angehörigen durch vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten herbeigeführt hatte, war zu berücksichtigen, dass mit der Einführung des [X.] die frühere Verpflichtung zum Kostenersatz im Grundsatz beseitigt werden sollte. Eine Regelung wie diejenige zur Rückerstattungspflicht in den § 25 Abs 1, § 25a der [X.] ([X.]), die vorsah, dass der Unterstützte "dem Fürsorgeverband" die Kosten zu ersetzen hatte, war bewusst nicht in das [X.] übernommen worden (vgl hierzu bereits Wehlitz in [X.] 1964, 152 ff, 153 mit Bezug auf die Diskussion bei Einführung des [X.], bei der überwiegend die Auffassung vertreten worden sei, dass "die Aufrechterhaltung der Rückerstattungspflicht des Hilfeempfängers … mit dem Charakter einer modernen Sozialhilfe nicht zu vereinbaren sei und die gesetzliche Neukodifikation nicht mit einer erneuten Verankerung der Kostenerstattungspflicht des Hilfeempfängers belastet werden dürfe, die ein Relikt aus einer nunmehr überholten Entwicklungsphase des Fürsorgerechts darstelle"). Die neu aufgenommene Kostenersatzpflicht nach § 92a [X.] beschränkte sich daher auf einen "engen deliktähnlichen Ausnahmetatbestand" mit dem Ziel, "gewisse Unbilligkeiten" auszuschließen, die sich aus der uneingeschränkten Beseitigung der Kostenersatzpflicht des Hilfebedürftigen ergeben hätten ([X.]E 51, 61 ff, 63). § 92a [X.] diene - so das [X.] - der Wiederherstellung des Nachrangs der Sozialhilfe, weshalb für diesen Nachranggrundsatz unterlaufendes Verhalten das Merkmal "sozialwidrig" zusätzlich zu dem in § 92a [X.] [X.] normierten Erfordernis eines "vorsätzlichen oder grob fahrlässigen" Verhaltens zu lesen sei ([X.] aaO, [X.]: "etwa wegen Arbeitsscheu oder Verschwendungssucht des Unterhaltspflichtigen").

Eine einschränkende Auslegung hält der [X.] auch bei der Anwendung des § 34 Abs 1 [X.]B II für geboten, weil es sich bei § 34 [X.]B II in gleicher Weise wie bei § 92a [X.] bzw nunmehr § 103 Abs 1 [X.]B XII um eine Ausnahme von dem Grundsatz handelt, dass existenzsichernde und bedarfsabhängige Leistungen, auf die ein Rechtsanspruch besteht, regelmäßig unabhängig von der Ursache der entstandenen Notlage und einem vorwerfbaren Verhalten in der Vergangenheit zu leisten sind ([X.] Beschluss vom [X.] - 1 BvR 569/05 - Breithaupt 2005, 803; sa B[X.] [X.] 4-4200 § 23 [X.] 13, Rd[X.] 12 mwN; vgl auch Klinge in [X.]/[X.], [X.]B XII, § 103 Rd[X.] 9, Stand 2/2012). Dieser Grundsatz einer "verschuldensfreien" Deckung des Existenzminimums darf nicht durch eine weitreichende und nicht nur auf begründete und eng zu fassende Ausnahmefälle begrenzte Ersatzpflicht der Leistungsberechtigten und ihrer Angehörigen konterkariert werden. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Ersatzanspruch nach § 34 [X.]B II seiner Höhe nach nicht begrenzt war.

c) Unter systematischen Gesichtspunkten sind auch die im [X.]B II festgeschriebenen Wertmaßstäbe bei der Einordnung eines Verhaltens als sozialwidrig iS des § 34 [X.]B II einzubeziehen (so ausdrücklich [X.] in [X.], [X.]B II/[X.]B III, § 34 Rd[X.] 12 f, Stand 2009). In diesen Normen drückt sich - ähnlich wie im [X.] in den § 52 [X.]B V, §§ 103 f [X.]B VI und § 101 [X.]B VII (vgl hierzu insgesamt: Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im [X.], 2004) - aus, welches Verhalten als dem Grundsatz der Eigenverantwortung vor Inanspruchnahme der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem [X.]B II zuwiderlaufend angesehen wird. Insofern enthält das [X.]B II detaillierte Regelungen zur Refinanzierung zu Unrecht erbrachter [X.]B II-Leistungen bzw zu Leistungskürzungen bei einem Verhalten, das dem für die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts geltenden Nachranggrundsatz (§ 2 [X.]B II) widerspricht. So finden sich in § 31 [X.]B II zahlreiche Tatbestände einer Absenkung bzw eines Wegfalls des [X.] bei aus Sicht des [X.]B II nicht zu billigendem Verhalten. Diese stehen in engem Zusammenhang mit dem Merkmal des vom Leistungsberechtigten geforderten Einsatzes seiner Erwerbsfähigkeit 31 Abs 1 und 2 [X.]B II) bzw einer gezielten Herbeiführung der Bedürftigkeit 31 Abs 4 [X.] 1 und 2 [X.]B II). Soweit § 31 Abs 4 [X.] 3b [X.]B II für eine Minderung bzw einen Wegfall des [X.]B II-Anspruchs an die Sperrzeitregelungen des [X.]B III anknüpft, ist eine Sperrzeit bei einem arbeitsvertragswidrigen Verhalten, nicht jedoch einer - hier wohl allein in Betracht kommenden - personenbedingten Kündigung vorgesehen (§ 144 Abs 1 S 2 [X.] 1 [X.]B III; vgl zur Abgrenzung B[X.]E 91, 18 ff = [X.] 4-4300 § 144 [X.] 2).

Aus diesen Regelungen ist abzuleiten, dass ein - mit einer höheren Belastung verbundener - Ersatzanspruch nach § 34 Abs 1 [X.]B II nicht nur ein vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten voraussetzt. Das konkret vorgeworfene Verhalten muss vielmehr - auch im Rahmen der weitreichenden Ersatzpflicht nach § 34 [X.]B II - nach den Wertungen des [X.]B II sozialwidrig sein. Dies ist nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen ([X.] Urteil vom [X.] 41.74 - [X.]E 51, 61 ff, 65). Es muss ein spezifischer Bezug zwischen dem Verhalten selbst und dem Erfolg bestehen, um das Verhalten selbst als "sozialwidrig" bewerten zu können (vgl [X.] Urteil vom 10.4.2003 - 5 C 4/02 - [X.]E 118, 109 ff, 111).

d) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist das Verhalten des [X.] als moralisch in höchstem Maße verwerflich, nicht jedoch als sozialwidrig iS des § 34 [X.]B II einzustufen. Anders als möglicherweise bei [X.] besteht bei den hier im [X.] stehenden Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit kein spezifischer Bezug zur Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit der Ehefrau des [X.] und seines Kindes. Bei dem mit den Straftaten in Zusammenhang stehenden Verhalten des [X.], das zu seiner Inhaftierung im Januar 2005 führte, handelt es sich nicht um ein solches, das in seiner Handlungstendenz auf die Einschränkung bzw den Wegfall der Erwerbsfähigkeit oder -möglichkeit bzw die Herbeiführung von Bedürftigkeit gerichtet war oder hiermit in innerem Zusammenhang stand. Es besteht auch kein Bezug zu anderen nach den Wertungen des [X.]B II zu missbilligenden Verhaltensweisen.

Dies steht auch nicht im Widerspruch zu der von beiden Beteiligten jeweils für ihren Rechtsstandpunkt herangezogenen Entscheidung des [X.] vom 10.4.2003 (5 C 4/02, [X.]E 118, 109 ff). Auch das [X.] ist davon ausgegangen, dass nicht die Inhaftierung an sich, sondern nur die konkrete Feststellung und Würdigung der zur Inhaftierung führenden Umstände ggf eine sozialwidrige Verursachung der Bedürftigkeit von Angehörigen begründen können ([X.] aaO [X.]). Anders als in dem hier zu beurteilenden Sachverhalt hatte das [X.] über die Einstufung eines strafbaren geschäftswidrigen Verhaltens (Untreue, Betrug, Verletzung der Buchführungspflicht, Bankrott, verspätete Konkursanmeldung) mit der Folge des Wegfalls einer selbständigen Existenzgrundlage zu entscheiden, bei dem ein spezifischer Bezug bzw ein innerer Zusammenhang zum [X.]B II (zB zu einer Arbeitsplatzaufgabe) möglicherweise näher liegen könnte.

5. Da es schon an einem sozialwidrigen Verhalten iS des § 34 [X.]B II fehlt, brauchte der [X.] nicht zu prüfen, ob der Kläger für sein Verhalten einen wichtigen Grund vorweisen kann (vgl zu dessen Berücksichtigung als eigenständiges Tatbestandsmerkmal: Cantzler in [X.]/[X.], [X.]B II, 3. Aufl 2011, § 34 Rd[X.] 7; [X.] in Eicher/Spellbrink, aaO, § 34 Rd[X.] 15; aA Hölzer in [X.], [X.]B II, § 34 Rd[X.] 29, Stand 12/2011; [X.] in [X.]/[X.], [X.]B II, § 34 Rd[X.] 33 ff, Stand 1/2012), zwischen dem sozialwidrigen Verhalten und der Notwendigkeit von Leistungen nach dem [X.]B II ein ursächlicher Zusammenhang bestand und das als sozialwidrig einzustufende Verhalten zumindest grob fahrlässig gewesen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 [X.]G.

Meta

B 4 AS 39/12 R

02.11.2012

Bundessozialgericht 4. Senat

Urteil

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Frankfurt, 24. Mai 2011, Az: S 29 AS 714/07, Urteil

§ 34 Abs 1 S 1 SGB 2 vom 24.12.2003, § 34 Abs 1 S 2 SGB 2 vom 24.12.2003, § 2 SGB 2 vom 24.12.2003, § 31 SGB 2 vom 30.07.2004, § 103 SGB 12 vom 27.12.2003, § 92a BSHG vom 23.03.1994, § 7 Abs 3 SGB 2, § 7 Abs 4 SGB 2

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 02.11.2012, Az. B 4 AS 39/12 R (REWIS RS 2012, 1746)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 1746

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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