Bundesfinanzhof, Urteil vom 06.07.2011, Az. II R 34/10

2. Senat | REWIS RS 2011, 5083

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Gegenstand

Prozessführungsbefugnis des Insolvenzverwalters bei Beendigung des Insolvenzverfahrens - Anordnung einer Nachtragsverteilung - Unterbrechung des die Insolvenzmasse betreffenden Einspruchsverfahrens - Beseitigung des Rechtsscheins eines nichtigen Verwaltungsakts - vereinfachtes Insolvenzverfahren


Leitsatz

1. NV: Die Prozessführungsbefugnis des Insolvenzverwalters entfällt mit Beendigung des Insolvenzverfahrens auch dann, wenn er Adressat des angefochtenen Steuerbescheids war .

2. NV: Mit der Aufhebung des Insolvenzverfahrens wird ein die Insolvenzmasse betreffendes Einspruchsverfahren analog § 239 ZPO unterbrochen. Während der Verfahrensunterbrechung kann die Einspruchsentscheidung dem Insolvenzschuldner nicht wirksam bekanntgegeben werden und die Klagefrist nicht zu laufen beginnen .

Tatbestand

1

I. Über das Vermögen des [X.] (Schuldner) wurde am 11. Mai 2007 das Insolvenzverfahren eröffnet und der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) zum Treuhänder bestellt.

2

Auf den Schuldner war ein Pkw zugelassen. Mit Bescheid vom 28. August 2007 setzte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --[X.]--) die Kraftfahrzeugsteuer für die [X.] ab 11. Mai 2007 auf jährlich 405 € fest. Hiergegen legte der Kläger am 24. September 2007 Einspruch ein. Am 23. Oktober 2007 wurde das Insolvenzverfahren aufgehoben. Am 3. April 2008 wies das [X.] den Einspruch als unbegründet zurück. Hiergegen erhob der Kläger am 5. Mai 2008 Klage. Mit nach § 12 Abs. 2 Nr. 3 des [X.] geändertem Bescheid vom 4. Juli 2008 setzte das [X.] die Kraftfahrzeugsteuer für die [X.] vom 11. Mai 2007 bis 22. Oktober 2007 auf 183 € fest. Der Änderungsbescheid war, ebenso wie der Bescheid vom 28. August 2007 und die Einspruchsentscheidung, an den Kläger als Treuhänder über das Vermögen des Schuldners adressiert.

3

Die Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht ([X.]) war der Auffassung, die Kraftfahrzeugsteuer sei keine Masseverbindlichkeit, weil das betreffende Fahrzeug nicht zur Insolvenzmasse gehört habe.

4

Mit der Revision rügt das [X.] eine Verletzung des § 55 Abs. 1 Nr. 1 der Insolvenzordnung in der bis 30. Juni 2007 geltenden Fassung ([X.]). Das [X.] sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass die nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstandene Kraftfahrzeugsteuer für ein gemäß § 811 Abs. 1 Nr. 5 der Zivilprozessordnung (ZPO) unpfändbares Fahrzeug keine Masseverbindlichkeit i.S. des § 55 Abs. 1 [X.] sei.

5

Das [X.] beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

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Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

7

II. Die Revision ist teilweise begründet. Sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) zur teilweisen Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und zur Entscheidung in der Sache selbst, soweit das [X.] den Kraftfahrzeugsteuerbescheid vom 28. August 2007 aufgehoben hat (vgl. 1.). Soweit sich die Revision des [X.] gegen die Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 3. April 2008 sowie des Änderungsbescheids vom 4. Juli 2008 durch das [X.] richtet, ist diese unbegründet (vgl. 2.).

8

1. Zu Unrecht hat das [X.] den Kraftfahrzeugsteuerbescheid vom 28. August 2007 aufgehoben. Mangels Prozessführungsbefugnis des [X.] war die Klage insoweit unzulässig.

9

a) Nach § 80 Abs. 1 [X.] verliert der Schuldner mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Befugnis, sein zur Insolvenzmasse gehörendes Vermögen zu verwalten und über dasselbe zu verfügen. Gleichzeitig geht das Verwaltungs- und Verfügungsrecht auf den Insolvenzverwalter über. Mit dem Verwaltungs- und Verfügungsrecht erhält der Insolvenzverwalter die Befugnis, die Insolvenzmasse betreffende Prozesse zu führen. Im Prozess hat der Insolvenzverwalter kraft gesetzlicher Prozessstandschaft die uneingeschränkte Prozessführungsbefugnis unter Ausschluss des Schuldners. Der Schuldner ist nicht prozessführungsbefugt (Beschluss des [X.] --BFH-- vom 26. Juli 2004 [X.]/04, [X.], 1547, m.w.N.). Im vereinfachten Insolvenzverfahren (§§ 311 ff. [X.]) nimmt nach § 313 Abs. 1 Satz 1 [X.] der Treuhänder (§ 292 [X.]) die Aufgaben des Insolvenzverwalters wahr (vgl. auch Beschluss des [X.] --BGH-- vom 20. März 2003 [X.], [X.] 2003, 980, unter V.2.d).

b) Mit Beendigung des Insolvenzverfahrens entfällt neben der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis zugleich die Prozessführungsbefugnis des Insolvenzverwalters (vgl. [X.] vom 10. Dezember 2009 [X.], Zeitschrift für Wirtschaftsrecht und [X.] --ZIP-- 2010, 102; s. auch [X.] vom 23. August 1993 [X.]/91, [X.] 1994, 186, zur Rechtslage nach der Konkursordnung --KO--). Die Prozessführungsbefugnis des Insolvenzverwalters entfällt auch dann, wenn er Adressat des angefochtenen Steuerbescheids war. Zwar sind als Masseverbindlichkeiten zu behandelnde Steuerforderungen durch einen an den Insolvenzverwalter gerichteten Steuerbescheid geltend zu machen. Dies betrifft aber lediglich die Geltendmachung der Steuerforderung; Steuerschuldner ist auch in diesen Fällen der Insolvenzschuldner als Rechtsträger der Insolvenzmasse (vgl. [X.] in [X.] 1994, 186, zur Rechtslage nach der KO).

c) Wird das Insolvenzverfahren nach der [X.] aufgehoben (§ 200 Abs. 1 [X.]), jedoch eine [X.] angeordnet (§ 203 Abs. 1, 2 [X.]), bleibt der Insolvenzverwalter ausnahmsweise befugt, anhängige Prozesse fortzusetzen und neue einzuleiten, mit denen die der [X.] vorbehaltenen Masseaktiva realisiert werden sollen ([X.] in [X.], 102). Denn mit der Anordnung der [X.] tritt eine erneute Insolvenzbeschlagnahme ein (vgl. BGH-Beschluss vom 12. Januar 2006 IX ZB 239/04, [X.], 340, unter [X.]). Die Anordnung einer [X.] ist auch im Verbraucherinsolvenzverfahren möglich ([X.] vom 1. Dezember 2005 [X.], [X.], 143; vom 2. Dezember 2010 [X.], [X.], 135; MünchKomm[X.]/Hintzen, § 203 Rz 2).

d) Im Streitfall war der Kläger hinsichtlich des [X.] vom 28. August 2007 nicht prozessführungsbefugt, weil das Insolvenzverfahren bereits am 23. Oktober 2007 aufgehoben wurde. Anhaltspunkte dafür, dass eine [X.] angeordnet und die Prozessführungsbefugnis des [X.] deshalb ausnahmsweise fortbestanden hat, ergeben sich weder aus den Feststellungen des [X.] noch aus den dem Senat vorliegenden Akten oder dem Vorbringen der Beteiligten.

Da das [X.] eine andere Auffassung zugrunde gelegt hat, war die Vorentscheidung, soweit sie den Bescheid vom 28. August 2007 betrifft, aufzuheben. Die Sache ist --soweit das [X.]-Urteil keinen Bestand hat-- spruchreif. Die Klage ist insoweit unzulässig und daher abzuweisen.

2. Im Ergebnis zu Recht hat das [X.] der Klage bezüglich des Änderungsbescheids vom 4. Juli 2008 sowie der Einspruchsentscheidung vom 3. April 2008 stattgegeben und diese Verwaltungsakte aufgehoben. Die Einspruchsentscheidung und der Änderungsbescheid vom 4. Juli 2008 sind nichtig.

Nach § 125 Abs. 1 der Abgabenordnung ist ein Verwaltungsakt nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt. Im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung war das Insolvenzverfahren bereits seit mehr als fünf Monaten aufgehoben. Der Kläger war deshalb nicht mehr Treuhänder im Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners und kam daher deshalb als richtiger Bekanntgabe- oder [X.] dieser Verwaltungsakte nicht mehr in Betracht (vgl. auch BFH-Urteil vom 16. Dezember 1997 [X.], [X.], 190, [X.] 1998, 480; [X.] in Tipke/[X.], Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 125 AO Rz 14). Der durch die Einspruchsentscheidung und den Änderungsbescheid erzeugte Rechtsschein einer wirksamen Regelung ist durch deren formale Aufhebung zu beseitigen (vgl. BFH-Urteile vom 17. Mai 1995 II R 96/93, [X.] 1996, 69; vom 19. August 1999 IV R 34/98, [X.] 2001, 409, m.w.N.).

3. Die Beteiligten werden hinsichtlich des weiteren [X.] darauf hingewiesen, dass mit der Aufhebung des Insolvenzverfahrens am 23. Oktober 2007 das Einspruchsverfahren analog § 239 ZPO unterbrochen wurde. Danach tritt bei einer "Rechtsnachfolge" im weitesten Sinne, wozu auch das Erlöschen der Prozessstandschaft zählt, eine Unterbrechung des [X.] bis zur Aufnahme des Verfahrens durch den vormaligen Insolvenzschuldner ein (hierzu vgl. BFH-Urteil vom 17. Juli 1986 [X.], [X.] 1987, 111; [X.] in [X.]/[X.], Abgabenordnung, 2. Aufl., § 363 Rz 66). Während der Verfahrensunterbrechung konnte die Einspruchsentscheidung dem Insolvenzschuldner nicht wirksam bekanntgegeben werden ([X.] in [X.]/[X.], a.a.[X.], § 363 Rz 28; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], § 363 AO Rz 342) und die Klagefrist nicht zu laufen beginnen (§ 47 Abs. 1 Satz 1 [X.]O).

Meta

II R 34/10

06.07.2011

Bundesfinanzhof 2. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht des Saarlandes, 4. Mai 2010, Az: 1 K 1195/08, Urteil

§ 80 Abs 1 InsO, § 200 Abs 1 InsO, § 203 Abs 1 InsO, § 203 Abs 2 InsO, § 313 Abs 1 S 1 InsO, § 125 Abs 1 AO, § 239 ZPO, § 47 Abs 1 S 1 FGO, § 122 Abs 1 FGO, § 124 Abs 1 FGO, § 124 Abs 3 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 06.07.2011, Az. II R 34/10 (REWIS RS 2011, 5083)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 5083

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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I-12 U 96/12

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