Bundesfinanzhof, Urteil vom 21.02.2018, Az. III R 14/17

3. Senat | REWIS RS 2018, 13567

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Gegenstand

(Kein Ermessen bei der Neufestsetzung oder Aufhebung der Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 3 Satz 1 EStG)


Leitsatz

Die Regelung des § 70 Abs. 3 Satz 1 EStG, nach der materielle Fehler der letzten Kindergeldfestsetzung durch Neufestsetzung oder durch Aufhebung der Festsetzung beseitigt werden können, räumt der Familienkasse kein Ermessen ein, sondern regelt die Aufhebung oder Neufestsetzung als gebundene Entscheidung (Bestätigung von Tz. V 21.1 Abs. 1 Satz 2 der Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz vom 13. Juli 2017, BStBl I 2017, 1006) .

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 17. Oktober 2016  6 K 1307/14 (Kg) insoweit aufgehoben, als es sich auf den Kindergeldanspruch bis einschließlich August 2014 bezieht.

Die Sache wird insoweit an das [X.] zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.

Tatbestand

I.

1

[X.]treitig ist die Weitergewährung von Kindergeld für ein über 25 Jahre altes Kind.

2

Die Beigeladene ist die Mutter eines im Juli 1987 geborenen [X.] ([X.]). Nachdem [X.] das 25. Lebensjahr vollendet hatte, attestierte ein am 22. Dezember 2012 erstelltes ärztliches Zeugnis [X.] eine psychische Erkrankung, begleitet von einem Drogenmissbrauch. Bei Chronifizierung der psychotischen [X.]törung durch weiteren [X.]ubstanzkonsum könne eine seelische Behinderung eintreten. Unter der Rubrik "vorrangige Behinderung" war ein Kreuz bei "seelische Behinderung" gesetzt. Das ärztliche Zeugnis diente der Entscheidung über eine vollstationäre Unterbringung des [X.], die sodann auch erfolgte.

3

Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) bewilligte der Beigeladenen mit Bescheid vom 9. Juli 2013 Kindergeld für den zu diesem Zeitpunkt bereits 25-jährigen [X.] wegen dessen Behinderung. Zugleich verfügte sie ab Januar 2013 die Abzweigung des Kindergeldes an den Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger).

4

Mit Bescheid vom 28. Januar 2014 hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung mit Wirkung ab Februar 2014 auf. Zur Begründung führte sie aus, dass die Behinderung nicht vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten sei. Da sich die [X.]achlage und die Erkenntnisse der Familienkasse nicht geändert hatten, stützte sie den Aufhebungsbescheid auf § 70 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (E[X.]tG) und verfügte auch die Aufhebung der Abzweigung.

5

Der Einspruch des [X.] blieb ohne Erfolg. In der Einspruchsentscheidung vom 26. August 2014 führte die Familienkasse aus, dass ihr im Rahmen des § 70 Abs. 3 E[X.]tG kein Ermessensspielraum zustehe.

6

Die dagegen gerichtete Klage hatte teilweise Erfolg. Das Finanzgericht ([X.]) gab ihr insoweit statt, als die Weitergewährung und Abzweigung des Kindergeldes bis August 2014 begehrt wurde. § 70 Abs. 3 E[X.]tG sei eine Ermessensvorschrift, die Familienkasse hätte daher entsprechende Ermessenserwägungen bei der aufhebenden Entscheidung anstellen müssen. [X.]oweit der Kläger eine Weitergewährung und Abzweigung des Kindergeldes ab [X.]eptember 2014 begehrte, wies es die Klage mangels Vorliegens einer den Kläger belastenden Verwaltungsentscheidung als unzulässig ab.

7

Mit der hiergegen gerichteten Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts.

8

Die Familienkasse beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

9

Der Kläger und die Beigeladene haben keinen Antrag gestellt.

Entscheidungsgründe

I[X.]

Die Revision ist begründet. [X.]ie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen [X.]ache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 [X.]atz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--).

1. Das [X.] ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass § 70 Abs. 3 [X.]atz 1 E[X.]tG eine Ermessensvorschrift ist.

Nach § 70 Abs. 3 [X.]atz 1 E[X.]tG in der bei Erlass des [X.] vom 28. Januar 2014 geltenden Fassung können materielle Fehler der letzten Festsetzung durch Neufestsetzung oder durch Aufhebung der Festsetzung beseitigt werden. Neu festgesetzt oder aufgehoben wird mit Wirkung ab dem auf die Bekanntgabe der Neufestsetzung oder der Aufhebung der Festsetzung folgenden Monat (§ 70 Abs. 3 [X.]atz 2 E[X.]tG). Bei der Neufestsetzung oder Aufhebung der Festsetzung nach § 70 Abs. 3 [X.]atz 1 E[X.]tG ist § 176 der Abgabenordnung ([X.]) entsprechend anzuwenden; dies gilt nicht für Monate, die nach der Verkündung der maßgeblichen Entscheidung eines obersten Gerichtshofs des [X.] beginnen (§ 70 Abs. 3 [X.]atz 3 E[X.]tG).

a) Die Frage, ob § 70 Abs. 3 [X.]atz 1 E[X.]tG der Verwaltung ein Ermessen einräumt, war bisher vom [X.]finanzhof ([X.]) noch nicht entschieden. Die Auffassungen dazu in Rechtsprechung und Literatur sind nicht einheitlich (für Ermessenscharakter: [X.], in: [X.][X.], E[X.]tG, § 70 Rz D 6; [X.] in Kirchhof, E[X.]tG, 17. Aufl., § 70 Rz 4; [X.] in [X.], E[X.]tG, § 70 E[X.]tG Rz 11; [X.], [X.] 2000, 136, 138; [X.] in [X.]/[X.], [X.], Kommentar, Fach A, [X.] Kommentierung, § 70 Rz 16; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], § 70 E[X.]tG Rz 16; [X.] Baden-Württemberg, Urteil vom 29. [X.]eptember 1998  12 K 131/97, Entscheidungen der Finanzgerichte --E[X.]-- 1999, 243; [X.] Köln, Urteil vom 7. Oktober 1999  2 K 7548/98, E[X.] 2000, 81; [X.] [X.]achsen-Anhalt, Urteil vom 4. August 2009  4 K 691/05, E[X.] 2010, 13; für gebundene Entscheidung dagegen: [X.]/Weber-Grellet, E[X.]tG, 36. Aufl., § 70 Rz 7; [X.]/Treiber, § 70 E[X.]tG Rz 31; Reuß in [X.]/[X.], § 70 E[X.]tG Rz 66; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.], Kommentar, § 70 Rz 216; Tiedchen, [X.] 2000, 237; Greite in Korn, § 70 E[X.]tG Rz 18; [X.] in [X.], E[X.]tG, [X.] 2011, § 70 Rz 17; [X.] München, Urteil vom 25. [X.]eptember 2012  12 K 466/10, E[X.] 2013, 60; [X.] Nürnberg, Urteil vom 20. November 2014  3 K 1533/13, juris). Der erkennende [X.]enat entscheidet die Frage dahingehend, dass § 70 Abs. 3 [X.]atz 1 E[X.]tG der Familienkasse bei der Entscheidung über die Fehlerkorrektur kein Ermessen einräumt. § 70 Abs. 3 [X.]atz 1 regelt die Aufhebung oder Neufestsetzung vielmehr als gebundene Entscheidung. Bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen ist sie vorzunehmen.

aa) Zwar wird der im Wortlaut des § 70 Abs. 3 [X.]atz 1 E[X.]tG enthaltene Begriff "können" auch für die Einräumung eines Ermessensspielraums genutzt (Wernsmann in [X.]/[X.]/[X.] --[X.]--, § 5 [X.] Rz 54, mit Beispielen; Lange in [X.], § 102 [X.]O Rz 36; [X.] in [X.], § 5 [X.] Rz 9). Dies ist jedoch nicht zwingend. Vielmehr kann dieser Begriff auch im [X.]inne eines sogenannten "[X.]" verstanden werden (Wernsmann in [X.], § 5 [X.] Rz 55). Davon ist im Fall des § 70 Abs. 3 [X.]atz 1 E[X.]tG auszugehen. Der Begriff "können" bestimmt lediglich die beiden Änderungsmöglichkeiten Neufestsetzung oder Aufhebung (ebenso Reuß, E[X.] 2013, 62).

bb) Für eine gebundene Entscheidung spricht auch der systematische Zusammenhang des § 70 Abs. 3 E[X.]tG zu § 70 Abs. 2 E[X.]tG. Denn § 70 Abs. 2 E[X.]tG sieht ausdrücklich vor, dass bei Änderung der Verhältnisse die Festsetzung aufzuheben oder zu ändern "ist". Gründe, warum bei Änderung der Verhältnisse zwingend zu ändern ist, hingegen bei Annahme eines Rechtsfehlers oder eines unzutreffenden [X.]achverhalts, der Behörde --über die bereits gesetzlich normierte zeitliche Beschränkung, eine Änderung nur für die Zukunft vorzunehmen-- zusätzlich auch ein Ermessensspielraum einzuräumen ist, sind nicht erkennbar. Für dieses Normverständnis sprechen insbesondere auch die Gesetzesmaterialien. [X.]o sollte nach der Entwurfsbegründung (BTDrucks 13/3084, [X.]. 21) der neugeschaffene § 70 Abs. 3 E[X.]tG "sicherstellen", dass die Familienkassen materielle Fehler der Kindergeldfestsetzung, z.B. Rechtsfehler, mit Wirkung für die Zukunft beseitigen können. Es "muss vermieden werden", dass sie "über einen Zeitraum von vielen Jahren an eine als fehlerhaft erkannte Kindergeldfestsetzung gebunden bleiben" (Entwurfsbegründung BTDrucks 13/3084, [X.]. 21). Von einem Ermessen ist dort keine Rede.

cc) § 70 Abs. 3 E[X.]tG selbst lässt keine Kriterien erkennen, die für eine Ermessensausübung leitend sein könnten. Lassen sich aber keine Maßstäbe für einen Ermessensspielraum dahingehend finden, unter welchen Umständen von einer durch Tatbestandserfüllung möglichen Änderung einer [X.]teuerfestsetzung abgesehen werden kann, bedeutet "können" ein rechtliches Können und im Hinblick darauf, dass die Familienkasse einen [X.]teueranspruch nicht zu Unrecht begründen darf, ein "Müssen" (ebenso zu § 174 Abs. 4 [X.] [X.]-Urteil vom 14. März 2012 XI R 2/10, [X.]E 237, 391, [X.], 653, Rz 43; zu § 174 Abs. 3 [X.] [X.]-Urteil vom 13. November 1985 II R 208/82, [X.]E 145, 487, [X.] 1986, 241, unter I[X.]2.b, jeweils m.w.N.).

dd) Der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes bedarf keiner Berücksichtigung durch die Einräumung eines Ermessensspielraums. Denn diesem Gesichtspunkt wird zum einen bereits dadurch Rechnung getragen, dass die Neufestsetzung oder Änderung nach § 70 Abs. 3 [X.]atz 1 E[X.]tG nur mit Wirkung für die Zukunft vorgenommen werden darf. Zum anderen verweist § 70 Abs. 3 [X.]atz 2 E[X.]tG in eingeschränktem Umfang auch auf die Vertrauensschutzregelung des § 176 [X.]. Darüber hinaus besteht kein Grund, das Vertrauen des Begünstigten zu schützen, so dass regelmäßig nur in Betracht kommt, eine rechtswidrige Festsetzung im Interesse der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung durch Aufhebung oder Neufestsetzung zu korrigieren. Ferner hat der [X.] bereits entschieden, dass der Gesetzgeber auch nicht verpflichtet war, Vertrauensschutzregelungen wie in § 45 Abs. 2 des [X.] im einkommensteuerrechtlichen Kindergeldrecht vorzusehen (dazu [X.]-Urteil vom 19. November 2008 III R 108/06, [X.]/NV 2009, 357).

2. Die [X.]ache ist nicht entscheidungsreif. Das [X.] hat aus seiner [X.]icht zu Recht bislang offen gelassen, ob im Übrigen die Aufhebungsvoraussetzungen des § 70 Abs. 3 [X.]atz 1 E[X.]tG, nämlich die materiellen Fehler der letzten Festsetzung, vorlagen. Die [X.]ache wird daher gemäß § 126 Abs. 3 [X.]atz 1 Nr. 2 [X.]O an das [X.] zurückverwiesen, um diesem Gelegenheit zu weiteren Feststellungen zu geben, insbesondere zu der Frage, ob bei [X.] eine Behinderung i.[X.]. des § 32 Abs. 4 [X.]atz 1 Nr. 3 E[X.]tG vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist.

3. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das [X.] folgt aus § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

III R 14/17

21.02.2018

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend Sächsisches Finanzgericht, 17. Oktober 2016, Az: 6 K 1307/14 (Kg), Urteil

§ 70 Abs 3 EStG 2009 vom 08.10.2009, EStG VZ 2014

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 21.02.2018, Az. III R 14/17 (REWIS RS 2018, 13567)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2018, 13567

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