Bundesfinanzhof, Urteil vom 01.09.2021, Az. III R 18/21

3. Senat | REWIS RS 2021, 2905

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Gegenstand

Keine Kostenerstattungspflicht im Kindergeldverfahren bei erfolgreichem Rechtsbehelf gegen Hinterziehungszinsen


Leitsatz

1. § 77 EStG ist bei einem erfolgreichen Einspruch gegen die Festsetzung von Hinterziehungszinsen wegen unberechtigt erhaltener Kindergeldzahlungen weder unmittelbar noch analog anwendbar.

2. Es liegt keine Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit vor, soweit § 77 EStG seinem Wortlaut nach eine Kostenerstattung nur für Einspruchsverfahren wegen Kindergeldfestsetzungen vorsieht.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 25.03.2021 - 2 K 179/20 (3) aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Tatbestand

I.

1

Die Beteiligten streiten über die Kostenerstattung nach § 77 des Einkommensteuergesetzes (EStG).

2

Mit Bescheid vom [X.] setzte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) gegenüber der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) [X.] in Höhe von 2.163 € fest. Dieser Festsetzung lag eine zu Unrecht erfolgte Kindergeldzahlung in Höhe von 16.800 € zugrunde.

3

Auf den am 18.06.2019 eingelegten Einspruch der Klägerin hob die Familienkasse den Bescheid vom [X.] mit Abhilfeentscheidung vom 16.09.2020 auf. Zugleich entschied sie, dass die im Einspruchsverfahren entstandenen Aufwendungen nicht zu erstatten seien. Gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG sei eine Kostenerstattung ausschließlich in Einspruchsverfahren vorgesehen, die sich gegen die Aufhebung oder Ablehnung einer Kindergeldfestsetzung durch die Familienkasse gerichtet hätten.

4

Den gegen die Kostenentscheidung eingelegten Einspruch vom 21.09.2020 wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 22.10.2020 als unbegründet zurück.

5

Die anschließend erhobene Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht ([X.]) vertrat die Auffassung, § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG sei auf den vorliegenden Fall analog anzuwenden.

6

Mit der Revision rügt die Familienkasse die unzutreffende Auslegung des § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG und damit die Verletzung von Bundesrecht.

7

Die Familienkasse beantragt,
das Urteil des [X.] Bremen vom 25.03.2021 - 2 K 179/20 (3) aufzuheben und die Klage abzuweisen.

8

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

9

Die Revision ist begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Klageabweisung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Die Vorentscheidung verletzt Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 [X.]O). Das [X.] ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass ein Anspruch auf Kostenerstattung nach § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG (analog) besteht.

1. Nach § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG hat die Familienkasse dem Einspruchsführer die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten, soweit der Einspruch gegen die Kindergeldfestsetzung erfolgreich ist.

a) § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG ist seinem Wortlaut nach nicht anwendbar, da es an einem erfolgreichen Einspruch gegen die Kindergeldfestsetzung fehlt. "Erfolgreich" i.S. des § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG ist ein Einspruch nur dann, wenn die Familienkasse zugunsten des Einspruchsführers tatsächlich über den Streitgegenstand entscheidet (Senatsbeschluss vom 09.12.2010 - III B 115/09, [X.], 434; [X.] Düsseldorf, Urteil vom 07.08.2003 - 18 K 1088/03 Kg, Entscheidungen der Finanzgerichte --E[X.]-- 2003, 1802). Es muss daher grundsätzlich ein erfolgreicher Einspruch in einem das Kindergeld betreffenden Festsetzungsverfahren nach §§ 70, 72 EStG vorliegen. Dementsprechend ist § 77 EStG beispielsweise bei [X.] in [X.] nicht anwendbar (Senatsbeschluss in [X.], 434). Ebenso wird bei der Frage, ob [X.] nach § 235 der Abgabenordnung ([X.]) festzusetzen sind, nicht über einen Streitgegenstand nach dem X. Abschnitt des EStG entschieden. Die Festsetzung von [X.] nach § 235 [X.] erfordert das Vorliegen einer vollendeten Steuerhinterziehung (§§ 370, 373 [X.]). Nach § 370 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 1 [X.] werden zwar auch Steuervergütungen und damit das Kindergeld erfasst, welches gemäß § 31 Satz 3 EStG als Steuervergütung gezahlt wird. Für die Festsetzung von [X.] ist aber allein maßgebend, ob der subjektive und objektive Tatbestand der Strafrechtsnorm sowie Rechtswidrigkeit und Schuld zu bejahen sind.

b) Als Ausnahme vom Grundsatz der Kostenfreiheit des außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens kann die [X.] nach § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG für die hier vorliegende Konstellation auch nicht extensiv (analog) ausgelegt werden. Es fehlt an einer für einen Analogieschluss erforderlichen planwidrigen Gesetzeslücke.

aa) Eine solche Lücke liegt vor, wenn eine Regelung gemessen an ihrem Zweck unvollständig, d.h. ergänzungsbedürftig ist und wenn ihre Ergänzung nicht einer vom Gesetzgeber beabsichtigten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widerspricht. Hiervon zu unterscheiden ist der sog. rechtspolitische Fehler, der gegeben ist, wenn sich eine gesetzliche Regelung zwar als rechtspolitisch verbesserungsbedürftig, aber doch nicht --gemessen an der dem Gesetz immanenten Teleologie-- als planwidrig unvollständig und ergänzungsbedürftig erweist (vgl. Urteile des [X.] --[X.]-- vom 24.01.1974 - IV R 76/70, [X.], 329, [X.] 1974, 295, und vom 26.06.2002 - IV R 39/01, [X.], 374, [X.] 2002, 697; [X.] vom 28.05.1993 - VIII B 11/92, [X.], 300, [X.] 1993, 665, m.w.N.). Ob eine Regelungslücke anzunehmen ist, ist unter Heranziehung des Gleichheitsgrundsatzes zu ermitteln, wobei für den danach erforderlichen Vergleich auf die Wertungen des Gesetzes, insbesondere die Entstehungsgeschichte des Gesetzes zurückzugreifen ist ([X.]-Urteil vom 12.10.1999 - VIII R 21/97, [X.], 343, [X.] 2000, 220, m.w.N.).

bb) Ob im Streitfall eine Gesetzeslücke vorliegt, kann offenbleiben. Jedenfalls lässt sich keine planwidrige Lücke feststellen.

Bis zum 31.12.1995 galt hinsichtlich der Kostenerstattung für Widerspruchsverfahren gegen Entscheidungen der Kindergeldkasse § 63 des [X.] ([X.]). § 63 Abs. 1 Satz 1 [X.] bestimmt, dass --soweit der Widerspruch erfolgreich ist-- der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch erhoben hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Auslagen zu erstatten hat. In § 63 Abs. 2 [X.] heißt es, dass die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts oder eines sonstigen Bevollmächtigten im Vorverfahren erstattungsfähig sind, wenn die Zuziehung eines Bevollmächtigten notwendig war. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift ist zwar auf das Widerspruchsverfahren (vgl. §§ 83 ff. des Sozialgerichtsgesetzes) beschränkt, nicht aber auf bestimmte Verfahrensgegenstände. Er erfasste daher auch Rechtsbehelfe im Zusammenhang mit der Abzweigung des Kindergelds nach § 48 Abs. 1 des [X.], einer dem § 74 Abs. 1 EStG entsprechenden Regelung (Senatsurteil vom 26.06.2014 - III R 39/12, [X.], 410, [X.] 2015, 148). Mit der Neuregelung der einkommensteuerrechtlichen Kindergeldvorschriften durch das Jahressteuergesetz 1996 wurde § 77 EStG in das EStG aufgenommen. Ausweislich der Gesetzesmaterialien zu § 77 EStG war beabsichtigt, eine dem § 63 [X.] entsprechende Vorschrift zu schaffen (BTDrucks 13/1558, S. 162).

Gleichwohl regelt das Gesetz die Erstattungspflicht nicht allgemein für Einspruchsverfahren in Kindergeldangelegenheiten, sondern setzt einen erfolgreichen Einspruch gegen eine Kindergeldfestsetzung voraus (Senatsurteil in [X.], 410, [X.] 2015, 148). Insoweit kann die [X.] bei [X.] grundsätzlich auch nicht extensiv ausgelegt werden (Senatsbeschluss in [X.], 434).

Aus der Gesetzesbegründung wird vielmehr erkennbar, dass der Gesetzgeber nicht in sämtlichen das Kindergeld auch nur am Rande betreffenden Verfahren eine [X.] regeln wollte. Vielmehr wollte er in erster Linie eine Gleichstellung bei den bisher im [X.] verankerten [X.] erreichen, soweit es um erfolgreiche Einsprüche gegen [X.] geht. Geht es hingegen nicht um Fragen der Leistungsgewährung im weitesten Sinne, war eine Gleichstellung auch im Hinblick auf die vor 1996 getroffenen Regelungen im Sozialrecht nicht erforderlich. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Kostenerstattung im sog. isolierten Vorverfahren im Rahmen der [X.] grundsätzlich in verfassungsrechtlich zulässiger Weise ([X.] vom 23.07.1996 - VII B 42/96, [X.], 529, [X.] 1996, 501, m.w.N.) nicht vorgesehen ist, entspricht die Nichteinbeziehung von Einspruchsverfahren gegen [X.] oder [X.] auch dem Gleichheitsgrundsatz. In diesen Verfahren liegt der Schwerpunkt nicht auf der Feststellung eines Kindergeldanspruchs, sondern auf der Prüfung von [X.] (unbillige Erhebung oder Einziehung, §§ 163, 227 [X.]) und der Feststellung, ob eine Steuerhinterziehung (hinterzogene Steuern, § 235 [X.]) vorliegt. Die entsprechend zu prüfenden Voraussetzungen unterscheiden sich aber in keiner Weise von Verfahren nach der [X.], denen eine Steuerfestsetzung zugrunde liegt. Auch im Hinblick auf die Rechtsnatur der [X.] sind keine Gründe ersichtlich, die es gebieten, die Ausnahmeregelung des § 77 EStG entgegen dem Wortlaut auf Verfahren auszudehnen, die vergleichbaren Verwaltungsverfahren im Steuerrecht entsprechen. Eine unterschiedliche Behandlung der [X.], je nachdem ob es um die Frage geht, ob eine Steuer oder eine Steuervergütung (§ 31 Satz 3 EStG) hinterzogen worden ist, ist zudem sachlich nicht zu rechtfertigen. Vor diesem Hintergrund kann jedenfalls nicht mit der gebotenen Gewissheit festgestellt werden, dass es der Gesetzgeber planwidrig unterlassen hat, die [X.] auch auf Fälle auszudehnen, die mit der Kindergeldfestsetzung an sich nichts zu tun haben. Ein Versehen des Gesetzgebers ist nicht erkennbar. Eine analoge Anwendung des § 77 EStG auf das erfolgreiche Einspruchsverfahren gegen die Festsetzung von [X.] scheidet daher aus.

cc) Soweit die Rechtsprechung der [X.] und des [X.] die Ausnahmevorschrift des § 77 EStG erweiternd (analog) ausgelegt hat, umfasst dies grundsätzlich nur --mit dem Streitfall nicht vergleichbare-- Fälle, in denen der Verfahrensgegenstand mit einer (erfolgreichen) Kindergeldfestsetzung zusammenhing ([X.]-Urteil vom 23.07.2002 - VIII R 73/00, [X.]/NV 2003, 25; Hessisches [X.] vom 18.03.2015 - 12 K 1651/11, E[X.] 2015, 1616, rechtskräftig: [X.], [X.], [X.]; [X.]-Urteil vom 18.11.2015 - XI R 24-25/14, [X.]/NV 2016, 418; ebenso Sächsisches [X.] vom 10.12.2008 - 5 K 2065/06, juris, rechtskräftig: [X.]: Senatsurteil in [X.], 410, [X.] 2015, 148; [X.]-Urteil in [X.]/NV 2016, 418; (erfolgreiche) Untätigkeitseinsprüche, mit dem Ziel einer Kindergeldfestsetzung: [X.] München, Urteil vom 25.10.2017 - 7 K 2111/17, juris; [X.] Düsseldorf, Urteil vom 08.06.2011 - 7 K 3951/10 Kg, juris; [X.] Köln, Urteil vom 21.11.2012 - 14 K 1020/12, E[X.] 2013, 713; vgl. Senatsurteil vom [X.] - III R 46/17, [X.]/NV 2020, 690; [X.] nach § 74 EStG: Senatsurteil in [X.], 410, [X.] 2015, 148; [X.]-Urteil in [X.]/NV 2016, 418).

Die ausnahmsweise angenommene analoge Anwendung des § 77 EStG bei der Anfechtung eines Abrechnungsbescheids nach § 218 [X.] hat der [X.] damit begründet, dass die Auswirkungen einer Abzweigungsentscheidung der Familienkasse (§ 74 Abs. 1 EStG) und eines Abrechnungsbescheids wegen des Erstattungsanspruchs eines Trägers von Sozialleistungen (§ 74 Abs. 2 EStG) sich gleichen, da in beiden Fällen das zugunsten des [X.] festgesetzte Kindergeld nicht an diesen, sondern an einen Dritten ausgezahlt wird (Senatsurteil vom 23.06.2015 - III R 31/14, [X.]E 250, 28, [X.] 2016, 26, Rz 19).

2. Da das [X.] seiner Entscheidung eine abweichende Rechtsauffassung zugrunde gelegt hat, war das Urteil aufzuheben. Der Klägerin steht eine Kostenerstattung nicht zu, weshalb die Klage als unbegründet abzuweisen ist.

3. [X.] beruht auf §§ 143 Abs. 1, 135 Abs. 1 [X.]O.

Meta

III R 18/21

01.09.2021

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend FG Bremen, 25. März 2021, Az: 2 K 179/20 (3), Urteil

§ 77 Abs 1 S 1 EStG 2009, § 74 Abs 1 EStG 2009, § 77 Abs 2 EStG 2009, § 31 S 3 EStG 2009, § 218 AO, § 235 AO, § 370 AO, § 373 AO, § 63 SGB 10, EStG VZ 2019

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 01.09.2021, Az. III R 18/21 (REWIS RS 2021, 2905)

Papier­fundstellen: NJW 2021, 3679 REWIS RS 2021, 2905

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