Bundespatentgericht, Beschluss vom 27.06.2011, Az. 9 W (pat) 387/05

9. Senat | REWIS RS 2011, 5469

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Gegenstand

Patenteinspruchsverfahren - Zusammenschau von Druckschriften - großer zeitlicher Abstand


Tenor

In der Einspruchssache

betreffend das Patent 101 49 029

hat der 9. Senat (Technischer Beschwerdesenat) des [X.] auf die mündliche Verhandlung vom 27. Juni 2011 unter Mitwirkung des Vorsitzenden [X.] [X.] sowie [X.], [X.] und Paetzold

beschlossen:

Das Patent wird widerrufen.

Gründe

I.

1

Das [X.] hat nach Prüfung das am 5. Oktober 2001 angemeldete Patent mit der Bezeichnung

2

"[X.], insbesondere [X.]"

3

erteilt. [X.]stag der Patenterteilung ist der 14. April 2005. Innerhalb der gesetzlichen Einspruchsfrist hat die [X.] gegen das Patent Einspruch erhoben und zur Begründung unter anderem folgenden Stand der Technik angeführt:

4

E1 [X.] 55 567 [X.]

5

E2 [X.] 2001/0021438 [X.].

6

Die Einsprechende hat die Auffassung vertreten, der streitpatentgemäße [X.] sei für einen durchschnittlichen Fachmann in Kenntnis dieses Standes der Technik nahegelegt. Den Einspruch hat sie zurückgenommen mit Schreiben vom 21. Juni 2011, am selben Tag per Fax eingegangen beim Bundespatentgericht.

7

[X.] beantragt,

8

das Patent aufrecht zu erhalten,

9

hilfsweise beschränkt aufrecht zu erhalten mit Patentansprüchen 1 bis 5, überreicht in der mündlichen Verhandlung vom 27. Juni 2011, und gegebenenfalls noch [X.] Beschreibung und [X.]urenzeichnungen.

Sie verteidigt das Streitpatent gemäß Hauptantrag in der erteilten Fassung und mit geänderten Patentansprüchen 1 bis 5 gemäß Hilfsantrag. Dem [X.] tritt sie in allen Punkten entgegen. Die vorgenommenen Anspruchsänderungen sind nach ihrer Auffassung als Beschränkung zulässig. Der verteidigte Fahrzeug- bzw. [X.] sei neu und durch den in Betracht gezogenen Stand der Technik nicht nahegelegt.

Der geltende Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag lautet:

dadurch gekennzeichnet, daß der zweite Weichschaumstoff der Auflage (15) viskoelastisch ausgestaltet ist.

Rückbezogene Patentansprüche 2 bis 6 sind diesem Patentanspruch 1 nachgeordnet.

Der geltende Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag lautet:

dadurch gekennzeichnet, daß der zweite Weichschaumstoff der Auflage (15) viskoelastisch ausgestaltet ist.

Rückbezogene Patentansprüche 2 bis 5 sind diesem Patentanspruch 1 nachgeordnet.

II.

Die Zuständigkeit des [X.] ist durch § 147 Abs. 3 Satz 1 [X.] in dem vom 1. Januar 2002 bis zum 30. Juni 2006 geltenden Fassungen begründet.

Der zurückgenommene Einspruch war unbestritten zulässig. Nach Rücknahme des Einspruchs ist die Einsprechende nicht mehr am Verfahren beteiligt ([X.], [X.], 8. Aufl., [X.]. 28 zu § 61 [X.]), das [X.] war ohne sie fortzusetzen, § 61 Abs. 1, Satz 2 [X.].

A) Zulässigkeit des Patentbegehrens

Die geltenden Patentansprüche gemäß Haupt- und Hilfsantrag sind unbestritten zulässig. In dem geltenden Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag sind die Worte "[X.], insbesondere" ersatzlos gestrichen und das Wort "zumindest" durch das Wort "ausschließlich" ersetzt. Dadurch ist der ursprüngliche [X.] auf eine Ausgestaltung als [X.] in einer von zuvor mehreren Ausführungsformen zulässig beschränkt.

B) [X.]

Als [X.] legt der Senat einen Maschinenbauingenieur zugrunde, der bei einem [X.]hersteller mit der Entwicklung von [X.]en befasst ist und über mehrere Jahre Berufserfahrung verfügt. [X.]e zählen als [X.]e mit besonderem Anwendungsgebiet zum üblichen Arbeitsgebiet dieses [X.]es. Insoweit teilt der Senat uneingeschränkt die in der mündlichen Verhandlung vertretene Auffassung der Patentinhaberin.

[X.]) Zum Hauptantrag

Der streitgegenständliche [X.] gemäß Hauptantrag ist gewerblich anwendbar und mag auch neu sein, jedoch bedurfte es zu seiner Ausgestaltung am Anmeldetag des [X.] in Kenntnis des einschlägigen Standes der Technik keiner erfinderischen Tätigkeit.

Aus der [X.] 55 567 [X.] ist ein [X.] bekannt mit einem Sitzpolster, dessen Sitzfläche unterteilt ist in einen Abschnitt 3 zum Abstützen des Gesäßes und in einen Abschnitt 2 zum Abstützen der Oberschenkel eines Benutzers, vgl. insbes. Anspruch 1 i. V. m. nachstehender [X.]. 4 (Schnittdarstellung).

Abbildung

Das Sitzpolster weist im Bereich eines vornehmlich die Oberschenkel eines Benutzers abstützenden vorderen Abschnitts 2 der Sitzfläche eine höhere Elastizität als im Bereich eines das Gesäß eines Benutzers abstützenden hinteren Abschnitts 3 der Sitzfläche auf, vgl. insbes. S. 5 Abs. 7 i. V. m. [X.]. 4. Ausweislich dieser Textstelle mitsamt [X.]ur besteht der [X.] 14 entsprechende hintere Abschnitt 3 des [X.]es aus einem ersten Weichschaumstoff und der der streitpatentgemäßen Auflage 15 entsprechende vordere Abschnitt 2 der Sitzfläche aus einem zweiten Weichschaumstoff. Dabei weist der zweite Weichschaumstoff der Auflage (Abschnitt 2) eine geringere Stauchhärte auf als der erste Weichschaumstoff des Kerns (Abschnitt 3). Ausdrücklich wird die Auflage gebildet aus einem sehr weichen Polyätherschaum 2 und [X.] aus einem mittelharten Polyäther- oder Latexschaum 3, vgl. a. a. O..

restrisiko im Oberschenkelbereich beim längeren Sitzen. Der eingangs definierte Fachmann wird sich folglich im einschlägigen Stand der Technik nach einer besseren Lösung, insbesondere nach einem besser geeigneten Material für den vorderen Abschnitt 2 der Sitzfläche umsehen, denn dort ist das Thromboserisiko bekanntlich am größten. Bei dieser Umschau kann er die [X.] 2001/0021438 [X.] nicht übersehen, denn diese Druckschrift offenbart eine Sitzauflagenkonstruktion aus einem Weichschaum, welcher durch seine Viskoelastizität für eine angemessene Druckverteilung auf eine relativ große Oberfläche sorgt, vgl. insbes. nachstehenden Abs. [0001], auf den der Senat in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich hingewiesen hat.

[0001] The present invention relates to a cushion such as a bed mattress, a seat cushioning, a back rest cushioning or any other cushion where a support and cushioning of the entire or a part of a human or animal body is desired. [X.] foam material for suitably distributing the pressure from the body over a relatively large surface area of the body being cushioned by the cushion, such as a person lying on a mattress, a person seated in a couch or an animal resting on a veterinary surgeon's table.

Bei einer derartig großflächigen Druckverteilung werden zwangsläufig Druckspitzen vermieden und damit sinkt das Thromboserisiko. Diese Erkenntnis muss dem Fachmann quasi ins Auge springen und ihn dazu veranlassen, den sehr weichen Polyätherschaum im vorderen Abschnitt 2 der Sitzfläche viskoelastisch auszugestalten. Damit allein erreicht er einen [X.] mit sämtlichen Merkmalen des [X.]. Eine erfinderische Tätigkeit geht damit nicht einher, vielmehr erschöpft sich die Arbeit des Fachmannes in der Anwendung des am Anmeldetag des [X.] verfügbaren technischen Wissens. Das wird von ihm regelmäßig erwartet.

[X.] wendet dagegen ein, der Fachmann habe keine Veranlassung gehabt die beiden vorstehend genannten Druckschriften einer zusammenschauenden Betrachtungsweise zu unterziehen, denn zwischen ihrer jeweiligen [X.] lägen ca. dreißig Jahre.

Diesem Argument vermag der erkennende Senat aus nachstehenden Gründen nicht zu folgen. Als Stand der Technik sind insbesondere diejenigen Kenntnisse gesetzlich zu berücksichtigen, die vor dem Anmeldetag des [X.] (5. Oktober 2001) u. a. durch schriftliche Beschreibung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind, § 3 Abs. 2 Satz 1 [X.]. Eine qualitative Abstufung bei der Berücksichtigung des Standes der Technik, wie sie die Patentinhaberin im Hinblick auf den Zeitraum zwischen den [X.]en der beiden Entgegenhaltungen reklamiert, kennt das Patentgesetz nicht.

Allenfalls als Beweisanzeichen dafür, dass eine Erfindung nicht nahegelegen hat, kann das Alter einer Entgegenhaltung unter bestimmten Umständen gewertet werden, vgl. [X.], [X.], 8. Aufl., [X.]. 135-137 zu § 4 [X.]. Derartige Umstände sind im vorliegenden Fall jedoch nicht ersichtlich, denn unbestritten verkörpert der [X.] gemäß [X.] 55 567 [X.] den Stand der Technik, von dem das Streitpatent am Tag der Anmeldung ausgeht. Wenn das in dieser Druckschrift angesprochene Problem möglicher Durchblutungsstörungen in den Beinen durch Druckspitzen aufgrund einer ungeeigneten Oberschenkelauflage (S. 2 Abs. 4) am Anmeldetag des [X.] aufgegriffen wird, kommt der Fachmann gar nicht umhin, die viskoelastische Eigenschaft der Weichschaumauflage eines Sitzes gemäß der [X.] 2001/0021438 [X.] zumindest auszuprobieren. Denn diese Druckschrift offenbart quasi die neuesten diesbezüglichen Erkenntnisse bzw. Materialien, bezogen auf den Anmeldetag. Durch Übernahme dieser neuesten Erkenntnisse bzw. Materialien auf den bekannten [X.] ist der Streitgegenstand bereits verwirklicht und insoweit durch die vorstehend erläuterten technisch-fachmännischen Gründe nahegelegt.

Darüber hinaus macht die Patentinhaberin geltend, bei unvoreingenommener Auswertung entnehme der Fachmann der [X.] 2001/0021438 [X.] eine Ausgestaltung der Polsterauflage eines Sitzes, wie sie in den [X.]uren 1 und 6 dargestellt und insbesondere in Abs. [0041] beschrieben sei. Davon mache die verteidigte Erfindung keinen Gebrauch, denn eine profilierte Unterlage unter einer viskoelastischen Weichschaumauflage sei nicht Gegenstand des [X.]. Dieses Argument hat den Senat deshalb nicht erzeugt, weil damit nur ein Teilaspekt der gesamten Offenbarung der [X.] 2001/0021438 [X.] berücksichtigt ist. Einer sachgerechten Auswertung durch den Fachmann kann nämlich nicht verborgen bleiben, dass bereits die viskoelastische Eigenschaft des Weichschaumes an sich zu einer besseren Druckverteilung und damit zur Vermeidung von Druckspitzen führt, vgl. insbes. [X.]. 4 sowie [X.] O.. Mit den [X.]uren 5 und 6 und der zugehörigen Beschreibung sind weitere Materialeigenschaften offenbart, welche durch Variation der Oberflächenstruktur zwischen einer hochelastischen Unterlage und einer viskoelastischen Weichschaumauflage einstellbar sind. Darauf allein ist die Offenbarung der der [X.] 2001/0021438 [X.] allerdings nicht beschränkt. Sie gibt vielmehr dem unvoreingenommenen Fachmann eine Bandbreite von Möglichkeiten an die Hand, mit der die Druckverteilung in einem [X.] optimiert werden kann. Dazu zählt der viskoelastische Weichschaum an sich ebenso wie seine Anordnung auf einer planen oder einer oberflächenstrukturierten Unterlage. Wie sich die Formänderung der jeweiligen Materialien oder Materialkombinationen unter Belastung auswirkt, ist in den Diagrammen 3 bis 6 mit zugehöriger Beschreibung dargestellt. Wenn der Fachmann aus diesem Gesamtangebot offenbarter Materialien oder Materialkombinationen die Einfachste auswählt und die vordere Weichschaumauflage eines gattungsgemäßen [X.]es viskoelastisch ausgestaltet, erhält er bereits den Streitgegenstand.

Mithin ist der Gegenstand des Patentanspruchs 1 nach Hauptantrag nicht patentfähig.

Sein Schicksal teilen die darauf zurückbezogenen Patentansprüche 2 bis 6.

D) Zum Hilfsantrag

Hinsichtlich der in dem geltenden Patentanspruch 1 nach dem Hilfsantrag inhaltsgleichen Merkmale des verteidigten [X.]es gelten die im vorstehenden Abschnitt [X.] gemachten Ausführungen gleichermaßen.

ausschließlich im Bereich des vorderen Abschnitts der Sitzfläche angeordnet ist, geht bereits aus der [X.] 55 567 [X.] hervor, vgl. insbes. vorstehende [X.]. 4 i. V. m. der zugehörigen Beschreibung S. 6. Für die weitere Beschränkung auf einen [X.] gilt das ebenfalls. Derartige Sitze mögen im Hinblick auf spezielle Gewichts- und/oder Brandschutzanforderungen eine besondere Anwendung von [X.]en sein, worauf die Patentinhaberin in der mündlichen Verhandlung hingewiesen hat. Allerdings bestehen diese Anforderungen nach Überzeugung des Senats im Automobilbau ebenso und sie werden unbestritten von ein und demselben Fachmann berücksichtigt. Da die [X.] 55 567 [X.] bereits einen [X.] offenbart, vgl. insbes. Anspruch 1, der sich im Umfang der beanspruchten Merkmale ohne Weiteres auch als [X.] eignet, umfasst die in Abschnitt [X.] als nahe liegend erläuterte Zusammenschau der beiden Druckschriften auch den nunmehr beanspruchten [X.].

Mithin ist der Gegenstand des geltenden Patentanspruchs 1 nach Hilfsantrag ebenfalls nicht patentfähig.

Sein Schicksal teilen die darauf zurückbezogenen Patentansprüche 2 bis 5.

Meta

9 W (pat) 387/05

27.06.2011

Bundespatentgericht 9. Senat

Beschluss

Sachgebiet: W (pat)

Zitier­vorschlag: Bundespatentgericht, Beschluss vom 27.06.2011, Az. 9 W (pat) 387/05 (REWIS RS 2011, 5469)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 5469

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