Bundessozialgericht, Beschluss vom 23.06.2015, Az. B 1 KR 17/15 B

1. Senat | REWIS RS 2015, 9322

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Revisionszulassung - Verfahrensmangel - Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz - Amtsermittlungspflicht trotz mangelnder Mitwirkung des Beteiligten


Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 28. Januar 2015 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Der bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger ist mit seinem Begehren, ihm eine stationäre Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation zu gewähren, bei der [X.] und beim [X.] ohne Erfolg geblieben. Im Berufungsverfahren hat das L[X.] mit [X.] vom 14.8.2014 den Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Dr. med. [X.], mit der Erstattung eines Gutachtens zu der Frage beauftragt, ob beim Kläger eine stationäre Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation erforderlich sei oder ambulante Maßnahmen ausreichten. [X.] sandte den Gutachtensauftrag mit der Begründung zurück, der Kläger stelle utopische Forderungen, wenn er denn zu einer Untersuchung kommen würde. Er bitte, das Gutachten an einen Kollegen weiterzuleiten, der sich dazu in der Lage sehe, die Wünsche und Vorstellungen des zu [X.] zu erfüllen (14.9.2014). Für den neuen Untersuchungstermin beantragte der Kläger die Kostenübernahme für eine Taxifahrt durch [X.] auf sein Konto, "hilfsweise Begutachtung nach Aktenlage" (Eingang 21.10.2014). Das L[X.] hat die Berufung des [X.] nach mündlicher Verhandlung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es [X.] ausgeführt, der Kläger sei zu einer Mitwirkung verpflichtet. Eine Begutachtung sei aber aufgrund der überzogenen Forderungen des [X.] nicht zustande gekommen. In der mündlichen Verhandlung habe er keinen Grund für seine Verweigerungshaltung bezüglich einer Begutachtung nennen können. Nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast gehe die Nichterweislichkeit des Gesundheitszustandes zu Lasten des [X.] (Urteil vom 28.1.2015).

2

Der Kläger rügt mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im L[X.]-Urteil Verfahrensfehler und macht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend.

3

II. Die zulässige Beschwerde des [X.] ist begründet. Das L[X.]-Urteil beruht auf einem Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G), den der Kläger entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 [X.] [X.]G hinreichend bezeichnet. Soweit er die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G) geltend macht, legt er - ohne dass dies (noch) Einfluss auf die Zulässigkeit der Beschwerde hätte - die hierfür notwendigen Voraussetzungen nicht in der gesetzlich gebotenen Weise dar.

4

1. Nach § 160 Abs 2 [X.] [X.]G ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 [X.]G und auf eine Verletzung des § 103 [X.]G nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das L[X.] ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Diese Voraussetzungen liegen vor. Das Urteil des L[X.] ist unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 [X.]G) ergangen. Das L[X.] ist dem vom nicht anwaltlich vertretenen Kläger (hilfsweise) gestellten "Beweisantrag", ein Gutachten nach Aktenlage einzuholen (am 21.10.2014 eingegangenes Schreiben), ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt (§ 160 Abs 2 [X.] Halbs 2 [X.]G).

5

Zwar setzt ein Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz voraus, dass der Beteiligte einen formellen Beweisantrag iS von §§ 373, 404 ZPO iVm § 118 [X.]G gestellt und bis zur Entscheidung des L[X.] aufrechterhalten hat, weil der Tatsacheninstanz durch einen solchen Antrag vor der Entscheidung vor Augen geführt werden soll, dass der Betroffene die gerichtliche Sachaufklärungspflicht noch nicht als erfüllt ansieht (Warnfunktion vgl B[X.] SozR 1500 § 160 [X.]; B[X.] Beschluss vom 10.4.2006 - [X.] KR 47/05 B - Juris RdNr 9 mwN; B[X.] Beschluss vom [X.] - [X.] KR 111/12 B - RdNr 8). Hieran fehlt es. Bei einem - wie hier - nicht rechtskundig vertretenen Beteiligten sind jedoch geringere Anforderungen zu stellen. Hier genügt es, dass dem Vorbringen Anhaltspunkte dafür zu entnehmen sind, dass der Beteiligte überhaupt in einer bestimmten Richtung noch eine Aufklärung für erforderlich gehalten hat (vgl B[X.] Beschluss vom [X.] - Juris RdNr 7). So liegt der Fall hier. Der Kläger hat mit seinem am 21.10.2014 eingegangenen Antrag deutlich gemacht, dass er die gerichtliche Sachaufklärungspflicht noch nicht als erfüllt ansieht. Ein konkretes Beweisthema musste er nicht benennen, weil er mit seinem Antrag die [X.] des L[X.] und die darin gestellten Beweisfragen inhaltlich verknüpft hat. Das L[X.] hatte zu diesem Zeitpunkt die [X.] auch noch nicht aufgehoben. Es ist noch nicht einmal erkennbar, dass die [X.] überhaupt aufgehoben wurde. Zwar findet sich in der Akte eine Verfügung vom 23.10.2014, in der es unter Ziff 2 lautet: "Beschluss [X.] entbinden", ob diese Verfügung ausgeführt und der Kläger hiervon unterrichtet wurde, ist der Akte hingegen nicht zu entnehmen.

6

Das L[X.] ist dem Beweisantrag ohne hinreichenden Grund nicht gefolgt. Das L[X.] selbst ist davon ausgegangen, dass ein Gutachten von Amts einzuholen ist und hat mit [X.] vom 14.8.2014 zur Beantwortung der gestellten Beweisfragen ein Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben. Die Verpflichtung zur Aufklärung der danach für entscheidungserheblich und klärungsbedürftig gehaltenen Tatsachen hat das L[X.] verletzt. Von seiner selbst erkannten Verpflichtung zur vollständigen Sachverhaltsaufklärung iS von § 103 [X.]G ist das L[X.] nicht ohne Weiteres dadurch frei geworden, dass der Sachverständige den Gutachtensauftrag mit der Begründung zurücksandte, der Kläger stelle "utopische Forderungen". Zwar verringern sich die Anforderungen der gerichtlichen Amtsermittlungspflicht, wenn ein Beteiligter seiner Mitwirkungspflicht nicht nachkommt (vgl dazu B[X.] SozR 4-1500 § 144 [X.] Rd[X.]0). Mangelnde Mitwirkung entbindet das Gericht jedoch nicht von der Pflicht, die noch möglichen Ermittlungen anzustellen (vgl B[X.] SozR 4-1500 § 103 [X.] Rd[X.]4 f).

7

Es ist schon nicht nachvollziehbar, dass sich der Kläger, wie das L[X.] meint, geweigert haben soll, sich vom gerichtlichen Sachverständigen untersuchen zu lassen. Der Akteninhalt lässt auf das Gegenteil schließen. Ob die Forderungen des [X.] derart überzogen waren, dass sie einer Weigerung gleichkommen, vermag der Senat nicht zu beurteilen. Denn das L[X.] hat es gänzlich unterlassen, die konkreten Gründe zu ermitteln, die [X.] veranlasst haben, den Gutachtensauftrag "zurückzugeben". [X.] hat lediglich für seine Person erklärt, dass er die Vorstellungen des [X.] "leider nicht einräumen könne" und bat deshalb, "das Gutachten an einen Kollegen weiterzuleiten". Das L[X.] hatte auch Anhaltspunkte dafür, dass das Verhalten des [X.] gegenüber dem Sachverständigen und seinen Mitarbeitern ursächlich auf seine Erkrankung zurückzuführen ist. So gibt etwa Prof. Dr. De. auf Fragen des L[X.] in seinem Befundbericht vom 15.7.2014 an, der Kläger habe beklagt, dass er durch Dr. B."zwangsbegutachtet" worden sei. Er - Prof. Dr. De. habe einen psychopathologischen Befund erhoben. Der Kläger leide an einer organisch-affektiven Störung sowie einer mittelgradigen depressiven Episode. Diesen Gegebenheiten hat das L[X.] nicht hinreichend Rechnung getragen. Es hätte sich gedrängt sehen müssen, mit [X.] und dem Kläger die Umstände zu klären, die zu einem Scheitern der Untersuchung geführt haben. [X.] wäre [X.] zu entbinden und ein anderer Sachverständiger zu bestellen gewesen, wie es [X.] selbst vorgeschlagen hat. Das L[X.] hätte auch in Erwägung ziehen müssen, ob - wie es der Kläger beantragt hat - als ultima ratio ein Gutachten nach Aktenlage einzuholen ist. Es ist jedenfalls nicht ersichtlich, dass alle zumutbaren Möglichkeiten ausgeschöpft worden sind, um den Sachverhalt weiter aufzuklären (vgl auch B[X.] Beschluss vom 14.11.2013 - [X.] SB 5/13 B - Juris Rd[X.]5).

8

Auf der Verletzung der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht kann das angefochtene Urteil iS des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G beruhen, denn es ist nicht auszuschließen, dass bei Durchführung einer weiteren Beweisaufnahme der Rechtsstreit einer anderen, für den Kläger günstigeren Lösung hätte zugeführt werden können.

9

2. Die für eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache notwendigen Voraussetzungen legt der Kläger nicht in der gesetzlich gebotenen Weise dar. Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB B[X.] SozR 3-1500 § 160a Nr 21 [X.]8; B[X.] SozR 3-4100 § 111 [X.] S 2 f; B[X.] SozR 3-2500 § 240 [X.]3 S 151 f mwN). Der Kläger formuliert schon keine erkennbare Rechtsfrage. Eine solche vermag der erkennende Senat auch nicht sinngemäß den Ausführungen des [X.] zu entnehmen.

3. Nach § 160a Abs 5 [X.]G kann das B[X.] in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G vorliegen, was - wie ausgeführt - hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch, weil eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache weder den Ausführungen des [X.] noch dem Inhalt der Akten zu entnehmen ist.

4. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem L[X.] vorbehalten.

Meta

B 1 KR 17/15 B

23.06.2015

Bundessozialgericht 1. Senat

Beschluss

Sachgebiet: KR

vorgehend SG Würzburg, 28. April 2014, Az: S 11 KR 176/12

§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 103 SGG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 23.06.2015, Az. B 1 KR 17/15 B (REWIS RS 2015, 9322)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 9322

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