Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 08.10.2020, Az. 2 WD 22/19

2. Wehrdienstsenat | REWIS RS 2020, 4173

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Gegenstand

Aberkennung des Ruhegehalts wegen wiederholten vorsätzlichen unerlaubten Fernbleibens vom Dienst


Leitsatz

Bei einem sechsmaligen, vorsätzlichen unerlaubten Fernbleiben eines Soldaten vom Dienst für jeweils einen Tag ist Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen die Höchstmaßnahme.

Tenor

Die Berufung des früheren Soldaten gegen das Urteil der 3. Kammer des Truppendienstgerichts Süd vom 29. Oktober 2019 wird zurückgewiesen.

Der frühere Soldat trägt die Kosten des Berufungsverfahrens einschließlich der ihm darin erwachsenen notwendigen Auslagen.

Tatbestand

1

Das disziplinargerichtliche Berufungsverfahren betrifft die Ahndung des wiederholten unerlaubten Fernbleibens vom Dienst.

2

1. Der 30jährige frühere Soldat leistete nach erlangter Fachhochschulreife Grundwehrdienst, wurde 2009 Zeitsoldat und zuletzt 2014 zum Oberfeldwebel befördert. ... Im September 2016 wurde er von allen Dienstverrichtungen befreit, im Oktober 2016 vorläufig des Dienstes enthoben und Ende Mai 2017 wegen Dienstunfähigkeit entlassen.

3

2. Wegen des unerlaubten Fernbleibens vom Dienst am 18. und 19. Mai 2015 wurde gegen den früheren Soldaten am 30. Juni 2015 eine [X.] von 500 Euro verhängt. Wegen des verspäteten Dienstantritts am 5. und 6. September 2016, einer verspäteten Vorstellung beim Truppenarzt am 21. September 2016, des Sichentfernens aus dem [X.] entgegen einem Befehl am 22. September 2016 und des verspäteten Einfindens bei der [X.] entgegen einem Befehl am 23. September 2016 erging eine weitere [X.] von 2.000 Euro am 27. September 2016. Mit drei Strafbefehlen vom 1. Juli 2016, 12. März 2018 und 9. August 2018 wurde er wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort und wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis belangt.

4

3. In dem im August 2016 eingeleiteten gerichtlichen Disziplinarverfahren hat das Truppendienstgericht dem früheren Soldaten mit Urteil vom 29. Oktober 2019 das Ruhegehalt aberkannt. Er sei am 29. Juni und 27. August 2015 sowie am 3. Mai, 9. August, 9. und 21. September 2016 dem Dienst unerlaubt ferngeblieben und habe ihn am 12., 17., 19., 23., 29., 30. und 31. August sowie am 1., 2. und 7. September 2016 unerlaubt verspätet angetreten. Dadurch habe er als Vorgesetzter vorsätzlich seine Pflichten zum treuen Dienen, Gehorsam und innerdienstlichem Wohlverhalten verletzt. Das Dienstvergehen wiege außerordentlich schwer. Der frühere Soldat habe über mehr als ein Jahr immer wieder den Dienst zu spät angetreten oder vorzeitig verlassen und sei - wie sich aus den [X.]n und Zeugenaussagen ergebe - deutlich öfter als angeschuldigt und beweisbar unerlaubt ferngeblieben. Das Vertrauensverhältnis zum Dienstherrn sei irreparabel zerstört. Daher sei die Höchstmaßnahme zu verhängen.

5

4. Der frühere Soldat macht mit seiner maßnahmebeschränkten Berufung geltend, es dürften nur die belegten Fehlzeiten zugrunde gelegt werden. Auch sei fraglich, ob er vorsätzlich gehandelt habe. Denn er habe eine Suchterkrankung gehabt. Zudem sei die Beziehung zu seiner damaligen Freundin äußerst problematisch gewesen. Sein Dienstherr sei seiner Fürsorgepflicht nicht nachgekommen, sondern habe ihn durch eine Verschärfung der Dienstzeitregelungen tiefer in das Dienstvergehen getrieben. [X.] zu berücksichtigen sei ferner die überlange Verfahrensdauer. Angemessen sei eine Ruhegehaltskürzung.

6

5. Der Bundeswehrdisziplinaranwalt tritt dem entgegen.

7

6. Hinsichtlich der Einzelheiten zur Person des früheren Soldaten, zur Anschuldigung und zur Begründung des erstinstanzlichen Urteils wird auf die im Berufungsverfahren eingeführten Unterlagen sowie auf das Protokoll der Berufungshauptverhandlung Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

8

Die Berufung, über die gemäß § 124 [X.] in Abwesenheit des früheren Soldaten verhandelt werden konnte, ist zulässig, aber unbegründet. Dem früheren Soldaten ist das Ruhegehalt abzuerkennen.

9

1. Aufgrund der [X.] Tat- und Schuldfeststellungen des [X.]s steht für den Senat bindend fest, dass der frühere Soldat dem Dienst an sechs einzelnen Tagen zwischen dem 29. Juni 2015 und dem 21. September 2016 unerlaubt ferngeblieben ist, ihn an zehn weiteren Tagen zwischen dem 12. August und dem 7. September 2016 verspätet angetreten und dadurch vorsätzlich seine Pflichten zum treuen Dienen, Gehorsam und innerdienstlichen Wohlverhalten verletzt hat. Denn bei einer - wie hier - auf die Bemessung der Disziplinarmaßnahme beschränkten Berufung hat der Senat seiner Entscheidung gemäß § 91 Abs. 1 Satz 1 [X.] i.V.m. § 327 StPO grundsätzlich die Tat- und Schuldfeststellungen sowie die disziplinarrechtliche Würdigung des [X.]s zugrunde zu legen und auf dieser Grundlage über die angemessene Disziplinarmaßnahme zu befinden.

Die Bindungswirkung entfällt zwar ausnahmsweise, wenn die erstinstanzliche Entscheidung an schweren Verfahrensmängeln im Sinne von § 120 Abs. 1 Nr. 2, § 121 Abs. 2 [X.] leidet, was bei unzureichenden oder widersprüchlichen Feststellungen zur Tat- und Schuldfrage der Fall sein kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. März 2020 - 2 WD 3.19 - juris Rn. 12 m.w.N.). Das erstinstanzliche Urteil enthält aber keine unklaren, lückenhaften oder sich widersprechenden Feststellungen. Das [X.] hat ausschließlich das erwiesene Fehlverhalten des früheren Soldaten an den festgestellten 16 Tagen als Dienstvergehen qualifiziert und ein vorsätzliches Handeln willkürfrei bejaht.

2. Bei Art und Maß der zu verhängenden Disziplinarmaßnahme sind nach § 58 Abs. 7 i.V.m. § 38 Abs. 1 [X.] Eigenart und Schwere des Dienstvergehens und seine Auswirkungen, das Maß der Schuld, die Persönlichkeit, die bisherige Führung und die Beweggründe des Soldaten zu berücksichtigen. Insoweit legt der Senat ein zweistufiges Prüfungsschema zugrunde:

a) Auf der ersten Stufe bestimmt er zwecks Gleichbehandlung vergleichbarer Fälle sowie im Interesse der Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit der Disziplinarmaßnahme eine [X.] für die in Rede stehende Fallgruppe als Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen.

In Fällen des vorsätzlichen eigenmächtigen Fernbleibens eines Soldaten von der Truppe ist dies aus spezial- und generalpräventiven Gründen bei einer kürzeren unerlaubten Abwesenheit grundsätzlich eine Dienstgradherabsetzung, gegebenenfalls bis in den Mannschaftsdienstgrad; bei länger dauernder, wiederholter eigenmächtiger Abwesenheit oder Fahnenflucht wiegt das Dienstvergehen so schwer, dass es regelmäßig die Entfernung aus dem Dienstverhältnis oder den Ausspruch der sonst gebotenen [X.] indiziert (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2020 - 2 WD 16.19 - juris Rn. 13 m.w.N.).

Im vorliegenden Fall eines wiederholten vorsätzlichen unerlaubten Fernbleibens vom Dienst an sechs über mehr als ein Jahr verteilten einzelnen Tagen hält der Senat als Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen die [X.] für angemessen, die hier nach § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, Satz 2 [X.] in der Aberkennung des Ruhegehalts besteht. Zwar liegt nicht die Fallgruppe einer längeren Abwesenheit vor, weil es an einem zusammenhängenden Zeitraum fehlt und sechs Tage keine längere Dauer begründen (vgl. BVerwG, Urteil vom 2. November 2017 - 2 WD 3.17 - Die [X.] 2020, Sept. 2020, [X.] Rn. 71 m.w.N.). Auch hat der frühere Soldat nicht wiederholt eine eigenmächtige Abwesenheit i.S.d. § 15 Abs. 1 [X.] begangen, da er nicht länger als drei volle Kalendertage durchgehend abwesend gewesen ist. Jedoch besteht aus disziplinarischer Sicht eine Wertungsparallele. Denn sechs Fehltage bewegen sich in der Größenordnung einer zweimaligen eigenmächtigen Abwesenheit i.S.d. § 15 Abs. 1 [X.]. Im Vergleich zu einer ununterbrochenen Abwesenheit von längerer Dauer hat der frühere Soldat zwar an einer geringeren Anzahl von Tagen gefehlt. Während aber bei ersterer die Hemmschwelle zur Fortsetzung infolge des "Gewöhnungseffekts" immer mehr abnimmt, hat der frühere Soldat aufgrund eines jeweils neu gefassten Tatentschlusses die Hemmschwelle zur Verletzung der [X.] zur militärischen Dienstleistung [X.] in Folge über ein Jahr hinweg überschritten.

b) Auf der zweiten Stufe ist zu prüfen, ob im Einzelfall im Hinblick auf die Bemessungskriterien des § 38 Abs. 1 [X.] und die Zwecksetzung des Wehrdisziplinarrechts Umstände vorliegen, die eine Abweichung von der auf der ersten Stufe angesetzten [X.] gebieten. Hier liegen keine Milderungsgründe von solchem Gewicht vor, dass von der [X.] abzusehen wäre.

aa) Vielmehr sprechen mehrere Umstände mit erheblichem Gewicht gegen den früheren Soldaten:

So tritt zu dem sechsfachen vorsätzlichen unerlaubten Fernbleiben vom Dienst das zehnmalige vorsätzliche und teilweise befehlswidrig verspätete Antreten zum Dienst hinzu, welches die Annahme einer generellen Unzuverlässigkeit des früheren Soldaten im Hinblick auf die Einhaltung von Dienstzeiten und der Befolgung von Befehlen bestärkt.

Weiter erschwerend wiegt, dass der frühere Soldat zu den [X.] als Oberfeldwebel eine Vorgesetztenstellung innehatte. Denn ein Vorgesetzter soll nach § 10 SG in Haltung und Pflichterfüllung ein Beispiel geben. Wer in dieser Stellung wiederholt seine dienstlichen Kernbereichspflichten verletzt, gibt ein besonders schlechtes Vorbild ab. Dies gilt insbesondere angesichts dessen, dass die beiden ersten unerlaubten Abwesenheiten während seiner Verwendung im [X.] und auf der Rettungswache stattfanden, wo die verlässliche Wahrnehmung der Dienstzeiten von besonderer Bedeutung ist.

Ferner sind zulasten des früheren Soldaten die erheblichen nachteiligen Auswirkungen des Dienstvergehens für seinen Dienstherrn und seine Kameraden zu berücksichtigen. So wurde der frühere Soldat trotz seiner unerlaubten Abwesenheiten weiter alimentiert, ohne dass dem Dienstherrn seine Arbeitskraft zur Verfügung stand. Auch konnte er als Folge des Dienstvergehens nicht mehr im [X.] und auf der Rettungswache verwendet werden, sondern wurde zunächst für Hilfstätigkeiten in der Abteilung für Herzchirurgie eingesetzt. Wegen fortgesetzter Nichteinhaltung der Dienstzeiten musste er noch zwei weitere Male umgesetzt werden. Seine unerlaubten Abwesenheiten führten nach den Erläuterungen der [X.] dazu, dass mit entsprechendem Aufwand und Unannehmlichkeiten für seine Kameraden kurzfristig Schichten neu besetzt werden mussten. Schließlich wurde er aus der Gleitzeitregelung und dem Schichtbetrieb herausgenommen und stand damit seinem Dienstherrn insbesondere an Wochenenden und für Nachtschichten nicht mehr zur Verfügung.

Die Beweggründe des früheren Soldaten sprechen ebenfalls gegen ihn. Nach dem Entlassungsbrief des [X.]zentralkrankenhauses ... vom 7. Juni 2016 gab er in einem psychologisch diagnostischen Gespräch an, er habe nicht zum Dienst gehen wollen, weil er seiner damaligen Freundin habe helfen wollen. Dies sei ihm wichtiger gewesen, als in den Dienst zu gehen. Obwohl ihm nach Angaben der [X.] mehrfach in Gesprächen die gravierenden Folgen seines Fehlverhaltens für den Dienstbetrieb und seine Kameraden vor Augen geführt worden waren, hat er es nicht abgestellt. Er hat damit eigennützig private Angelegenheiten über dienstliche Pflichten gestellt, statt seine persönlichen Probleme mit Vorgesetzten zu erörtern und mit diesen eine rechtskonforme Lösung zu suchen.

Besonders belastend fällt ins Gewicht, dass gegen den früheren Soldaten am 30. Juni 2015 - einen Tag nach Beginn des sich über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr erstreckenden Dienstvergehens - eine einschlägige [X.] wegen eines wiederholten unerlaubten Fernbleibens vom Dienst am 18. und 19. Mai 2015 verhängt wurde. Dies hat ihn nicht davon abgehalten, dem Dienst in der Folgezeit weiterhin wiederholt unerlaubt fernzubleiben. Dadurch hat er sich als unempfindlich für pflichtenmahnende Einwirkungen disziplinarer Art erwiesen (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2020 - 2 WD 16.19 - Rn. 17 m.w.N.), sodass eine schwerere Disziplinarmaßnahme nach § 38 Abs. 2 [X.] geboten ist.

Verschärfend tritt hinzu, dass gegen ihn nur kurz nach der im August 2016 erfolgten Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens am 27. September 2016 eine weitere einschlägige [X.] verhängt wurde, weil er an zwei weiteren Tagen im Zeitraum des Dienstvergehens sowie an drei Tagen nach dem Dienstvergehen dem Dienst unerlaubt fernblieb. Dadurch hat er sich erneut als unbelehrbar erwiesen.

Auch wenn die von den [X.]n erfassten unerlaubten Abwesenheiten im gerichtlichen Disziplinarverfahren nicht angeschuldigt worden und nicht Teil des festgestellten Dienstvergehens sind, sind sie im gerichtlichen Disziplinarverfahren nach § 38 Abs. 1 und 2 [X.] bei der Bemessung der Disziplinarmaßnahme zu berücksichtigen. Denn sie geben Aufschluss über die Persönlichkeit des früheren Soldaten und sind für den Umfang der Beeinträchtigung des in ihn gesetzten Vertrauens bedeutsam (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juni 2020 - 2 WD 10.19 - juris Rn. 50). Demgegenüber hat das [X.] zu Unrecht zulasten des früheren Soldaten berücksichtigt, dass er nach Zeugenaussagen an weiteren nicht feststellbaren Tagen dem Dienst unerlaubt fernblieb.

Gravierende [X.] kommen schließlich darin zum Ausdruck, dass der frühere Soldat in der jüngeren Vergangenheit mehrfach durch unerlaubtes Entfernen vom Unfallort und vorsätzliches Fahren ohne Fahrerlaubnis straffällig geworden ist.

bb) Demgegenüber spricht zugunsten des früheren Soldaten, dass er solide dienstliche Leistungen erbracht und sich 2014 in einem mehrmonatigen Einsatz in [X.] bewährt hat.

Zudem berücksichtigt der Senat, dass sich der frühere Soldat - anders als es in Fällen des unerlaubten Fernbleibens vom Dienst regelmäßig der Fall ist - nicht nach § 15 Abs. 1 [X.] strafbar gemacht hat.

Mit geringem Gewicht spricht für ihn ferner, dass er sich im Tatzeitraum in einer schwierigen Lebensphase befand. Er wurde kurz nach seinem [X.] versetzt. Dort musste er sich ein neues berufliches und privates Netzwerk aufbauen. Zugleich gestaltete sich die Beziehung zu seiner damaligen Partnerin nach seinen Angaben äußerst problematisch. Auch der laut Entlassungsbrief des [X.]zentralkrankenhauses ... vom 7. Juni 2016 positive Drogentest auf Amphetamine im Dezember 2015 und der laut Schreiben des Sanitätsdienstes vom 22. September 2016 positive Drogentest auf Cocainmetabolite und Amphetamine im September 2016 deuten auf eine schwierige Lebensphase hin, wobei der Drogenkonsum als solcher dem früheren Soldaten nicht mildernd zugutekommt. Denn ein Soldat muss vielmehr nach § 17 Abs. 4 Satz 1 und 2 SG in der maßgeblichen Fassung vom 13. Mai 2015 ([X.] I 706) alles in seinen Kräften Stehende tun, um seine Gesundheit zu erhalten, und darf diese nicht vorsätzlich oder grob fahrlässig beeinträchtigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Mai 2014 - 2 WD 7.13 - Rn. 41).

cc) Weitere Milderungsgründe liegen nicht vor:

Anhaltspunkte für eine erhebliche Einschränkung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des früheren Soldaten zu den [X.] entsprechend § 21 StGB bestehen nicht. Es ist nicht ersichtlich, dass er an einer Abhängigkeitserkrankung litt, die zu starken Entzugserscheinungen oder zu einer auf einen langjährigen Drogenkonsum zurückführbaren Persönlichkeitsveränderung geführt haben könnte (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Januar 2017 - 2 WD 12.16 - [X.] 450.2 § 38 [X.] Nr. 52 Rn. 27 m.w.N.). Im Entlassungsbrief des [X.]zentralkrankenhauses ... heißt es, er sei bewusstseinsklar und zu allen Qualitäten orientiert und habe keine Konzentrations-, Merkfähigkeits- oder Gedächtnisstörungen gezeigt; es gebe keinen Anhalt für inhaltliche Denkstörungen, Ich-Störungen oder Sinnestäuschungen. Entsprechende Feststellungen enthält das Schreiben des Sanitätsdienstes.

Zwar kann ein Handeln in einer seelischen Ausnahmesituation einen Milderungsgrund in den Umständen der Tat begründen. Dies setzt aber voraus, dass die Situation von so außergewöhnlichen Besonderheiten geprägt war, dass von dem früheren Soldaten ein an normalen Maßstäben orientiertes Verhalten nicht mehr erwartet und daher auch nicht vorausgesetzt werden konnte (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2018 - 2 WD 8.18 - juris Rn. 31 m.w.N.). Für eine derartige Zuspitzung der Probleme des früheren Soldaten während des sich über mehr als ein Jahr erstreckenden Tatzeitraums ist jedoch nichts ersichtlich. Der frühere Soldat hat sich insoweit nur vage eingelassen und auch nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, sie in der mündlichen Verhandlung zu konkretisieren.

Anhaltspunkte für eine Fürsorgepflichtverletzung des Dienstherrn bestehen ebenfalls nicht. Vielmehr fanden nach Aussage der [X.] zahlreiche Gespräche mit dem früheren Soldaten statt, um auf eine Änderung seines Verhaltens hinzuwirken. Hilfsangebote lehnte er ab. 2016 wurde er innerhalb des [X.]zentralkrankenhauses ... mehrfach in anderen Tätigkeitsfeldern eingesetzt, um für ihn ein Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem es nicht mehr zu unerlaubten Abwesenheiten kommen würde. Dass ihm schließlich anstelle der Gleitzeit feste Dienstzeiten vorgeschrieben wurden, stellt keine Fürsorgepflichtverletzung des Dienstherrn, sondern eine Fürsorgemaßnahme dar. Dem früheren Soldaten sollte es durch die Strukturierung seiner Dienstzeiten, die für ihn im Übrigen mit Vorteilen wie durchweg freien Wochenenden und keinen Nachtschichten verbunden war, nach den nachvollziehbaren Erläuterungen der [X.] erleichtert werden, die Dienstzeiten einzuhalten.

Unrechtseinsicht und Reue des früheren Soldaten sind nicht erkennbar und können daher ebenfalls nicht mildernd berücksichtigt werden.

dd) Da die Milderungsgründe, die es gebieten, von der [X.] abzusehen, umso gewichtiger sein müssen, je schwerer das Dienstvergehen wiegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Mai 2015 - 2 WD 13.14 - juris Rn. 45 m.w.N.), genügen die wenigen den früheren Soldaten entlastenden Umstände angesichts der erheblichen gegen ihn sprechenden Gesichtspunkte bei der erforderlichen Gesamtwürdigung nicht, um von der [X.] abzuweichen.

c) Ist - wie hier - das Vertrauensverhältnis zwischen einem Soldaten und seinem Dienstherrn zerstört und daher die [X.] zu verhängen, kann auch eine etwaige verfassungs- und konventionswidrige Überlänge des Disziplinarverfahrens nicht mehr maßnahmemildernd wirken (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2020 - 2 WD 16.19 - juris Rn. 20 m.w.N.).

3. [X.] beruht auf § 139 Abs. 2, § 140 Abs. 5 Satz 2 [X.].

Meta

2 WD 22/19

08.10.2020

Bundesverwaltungsgericht 2. Wehrdienstsenat

Urteil

Sachgebiet: WD

vorgehend Truppendienstgericht Süd, 29. Oktober 2019, Az: S 3 VL 01/17, Urteil

§ 10 SG, § 20 StGB, § 21 StGB, § 327 StPO, § 38 Abs 1 WDO 2002, § 38 Abs 2 WDO 2002, § 58 Abs 2 S 1 Nr 4 WDO 2002, § 58 Abs 2 S 2 WDO 2002, § 58 Abs 7 WDO 2002, § 91 Abs 1 S 1 WDO 2002, § 124 WDO 2002, § 139 Abs 2 WDO 2002, § 140 Abs 5 S 2 WDO 2002

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 08.10.2020, Az. 2 WD 22/19 (REWIS RS 2020, 4173)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 4173

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