Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19.01.2012, Az. V ZB 221/11

5. Zivilsenat | REWIS RS 2012, 9959

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Gegenstand

Abschiebungsverfahren: Anforderungen  an die Amtsermittlungspflicht und die Ermessensausübung bei Anordnung der "kleinen Sicherungshaft"


Leitsatz

Die Anordnung der sogenannten "kleinen Sicherungshaft" gemäß § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ist eine Ermessensentscheidung des Gerichts, die dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragen muss; sie setzt voraus, dass der Tatrichter im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht auf den Einzelfall bezogene Tatsachen feststellt, aus denen sich zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür ergibt, dass sich der Ausländer der Abschiebung entziehen wird.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 9. Zivilkammer des [X.] vom 30. August 2011 aufgehoben.

Es wird festgestellt, dass der Beschluss des [X.] vom 24. Juni 2011 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen werden dem [X.] auferlegt.

Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 3.000 €.

Gründe

I.

1

Der Betroffene, ein afghanischer Staatsangehöriger, hielt sich seit 2010 im [X.] auf. Nach einem erfolglosen Asylverfahren konnte er zunächst nicht abgeschoben werden, weil er keinen Pass hatte. Nachdem die Zahlung des monatlichen Barbetrags nach dem [X.] aus diesem Grund eingestellt und Zwangsmaßnahmen angedroht worden waren, begab er sich im Juni 2011 zu der afghanischen Botschaft nach [X.] und erhielt dort einen Reisepass. Gegenüber dem Ordnungsamt erklärte er anschließend, er werde [X.] auf gar keinen Fall freiwillig verlassen, um nach [X.] zurückzukehren. Daraufhin wurde seine Abschiebung für den 28. Juni 2011 geplant. Auf Antrag des Beteiligten zu 2 hat das Amtsgericht zunächst am 23. Juni 2011 eine einstweilige Anordnung erlassen und am 24. Juni 2011 die Haft zur Sicherung der Abschiebung bis zum 30. Juni 2011 angeordnet. Gegen diese [X.]ntscheidung hat der Betroffene Beschwerde eingelegt und nach seiner Abschiebung beantragt, die Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung festzustellen. Das [X.] hat das Rechtsmittel zurückgewiesen. Mit seiner Rechtsbeschwerde verfolgt der Betroffene den [X.] weiter.

II.

2

Nach Ansicht des [X.] war der Haftantrag zulässig und begründet. Der Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 2 [X.] habe vorgelegen. [X.]s habe der begründete Verdacht bestanden, dass sich der Betroffene der geplanten Abschiebung entziehen werde. Denn er habe auch nach Beschaffen des Reisepasses erklärt, er wolle nicht freiwillig ausreisen, und zudem in der Anhörung geäußert, er wolle frei sein, und sein Leben sei in [X.] in Gefahr.

III.

3

Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Gegenstand des [X.] ist nur die auf die Haftanordnung vom 24. Juni 2011, nicht aber die auf die einstweilige Anordnung vom 23. Juni 2011 bezogene Beschwerdeentscheidung. Sie hält rechtlicher Nachprüfung schon deshalb nicht stand, weil die Haftanordnung keine ausreichende [X.]rmessensausübung im Hinblick auf den Haftgrund erkennen lässt.

4

1. Die Anordnung der auf zwei Wochen beschränkten sogenannten "kleinen Sicherungshaft" gemäß § 62 Abs. 2 Satz 2 [X.] (in der bis zum 25. November 2011 geltenden Fassung) setzt voraus, dass - wie hier - die Ausreisefrist abgelaufen ist und feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann (vgl. [X.]/Dienelt, Ausländerrecht, 9. Aufl., § 62 [X.] Rn. 21). Auf diese Weise soll der Vollzug der Abschiebung insbesondere dann gesichert werden, wenn eine Sammelabschiebung geplant oder aus anderen Gründen ein erheblicher organisatorischer Aufwand erforderlich ist (so die Begründung zu dem gleichlautenden § 57 Abs. 2 Satz 2 AuslG in der Fassung vom 26. Juni 1992, BT-Drucks. 12/2062 [X.] f.). Daraus kann aber nicht gefolgert werden, dass die Haft unter diesen Voraussetzungen stets angeordnet werden muss und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit allein durch die zeitliche Begrenzung der Haft Rechnung getragen wird (so aber [X.], Beschluss vom 13. März 2000 - 10 Wx 25/99, juris Rn. 13). Wie schon der Gesetzeswortlaut belegt ("kann"), ist die Haftanordnung nämlich in das [X.]rmessen des Gerichts gestellt. Aus diesem Grund hat der Tatrichter im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht gemäß § 26 FamFG festzustellen, ob auf den [X.]inzelfall bezogene Tatsachen zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür ergeben, dass sich der Ausländer der Abschiebung entziehen wird ([X.], [X.] 2007, 111 f.; [X.], [X.] 2010, 71, 72 f.; HK-AuslR/[X.], § 62 [X.] Rn. 30 mwN; [X.]/Beichel-Benedetti, [X.], § 62 Rn. 16; [X.] in [X.]/Volckart/Lesting, Freiheitsentziehung und Unterbringung, Abschnitt [X.] Rn. 28; [X.]/Dienelt, Ausländerrecht, 9. Aufl., § 62 [X.] Rn. 21; einschränkend [X.], [X.] 2005, 90, 91 f. und [X.] 2007, 159, 160 f.). Denn der Umstand, dass er nicht freiwillig ausreist, ist für sich genommen kein Haftgrund, sondern Voraussetzung für die Abschiebung. Die [X.]ntscheidung selbst erfordert eine Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) und dem staatlichen Interesse an der zügigen Durchführung der Abschiebung, das umso schwerer wiegt, je höher die Gefahr der [X.]ntziehung einzuschätzen ist. Die für die [X.]rmessensausübung maßgeblichen Gründe sind - wenn auch in knapper Form - in der [X.]ntscheidung darzulegen (§ 38 Abs. 3 Satz 1, § 69 Abs. 2 FamFG). Das Rechtsbeschwerdegericht darf zwar nicht das [X.]rmessen des Tatrichters durch eine eigene [X.]ntscheidung ersetzen. [X.]s hat aber zu überprüfen, ob eine [X.]rmessensausübung überhaupt stattgefunden hat und ob sie fehlerfrei - insbesondere unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - erfolgt ist (vgl. zum Ganzen [X.], [X.] 2007, 111 f.; [X.], [X.] 2007, 159, 160 f.; [X.], [X.] 2010, 71, 72 f.).

5

2. Daran gemessen erweist sich die Haftanordnung als rechtsfehlerhaft. Sie ist allein auf die allgemein gehaltene Überlegung gestützt, der ausreiseunwillige Betroffene könne sich der aufwendigen Abschiebung durch kurzfristige Abwesenheit entziehen und sie damit vereiteln. Daraus lässt sich schon nicht entnehmen, dass dem Amtsgericht die Notwendigkeit einer [X.]rmessensausübung bewusst war. Denn mit der gewählten Begründung ließe sich die Haft bei jeder geplanten Abschiebung rechtfertigen, die einen höheren Organisationsaufwand erfordert. [X.]inzelfallbezogene Tatsachen, die die Annahme der Vereitelungsabsicht untermauern könnten, hat das Amtsgericht nicht festgestellt. Insoweit hat es seine [X.]ntscheidung unter Verstoß gegen § 26 FamFG auf einer unzureichenden Tatsachengrundlage getroffen (vgl. dazu Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010 - [X.], [X.] 2010, 381, 383 f.), weil die entscheidende Frage nach der Vereitelungsabsicht nicht Gegenstand der Anhörung des Betroffenen war. [X.]r ist nämlich nicht konkret dazu befragt worden, ob er sich der Abschiebung stellen werde. Zwar hat er angegeben, er wolle frei sein, sein Leben sei in [X.] in Gefahr. Dies lässt - anders als das Beschwerdegericht meint - aber nicht ohne weiteres den Schluss zu, dass er über die fehlende Ausreisewilligkeit hinaus auch die Absicht hatte, die Abschiebung zu vereiteln. Darüber hinaus hat das Amtsgericht verschiedene Umstände, die gegen eine solche Absicht sprachen, nicht in seine Überlegungen einbezogen. Zum einen hatte der Betroffene an der vorangehenden Passbeschaffung mitgewirkt, obwohl ihm bewusst sein musste, dass sie nur der Vorbereitung der Abschiebung dienen konnte; auch konnte die Festnahme an seinem Wohnort erfolgen. Zum anderen äußerte der [X.] bei der telefonischen Anhörung, seiner [X.]inschätzung nach werde sich sein Mandant freiwillig der Abschiebung stellen.

6

Die Sache ist zur [X.]ndentscheidung reif (§ 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG). Die [X.]rmessensentscheidung ist schon deshalb nicht nachholbar, weil eine Anhörung des Betroffenen nach Durchführung der Abschiebung nicht mehr möglich ist.

IV.

7

Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2, § 430 FamFG, Art. 5 Abs. 5 [X.]MRK analog. Die Festsetzung des [X.] folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO.

Krüger                                              Stresemann                                          Czub

                          Brückner                                               Weinland

Meta

V ZB 221/11

19.01.2012

Bundesgerichtshof 5. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Stade, 30. August 2011, Az: 9 T 95/11

§ 62 Abs 2 S 2 AufenthG, § 26 FamFG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19.01.2012, Az. V ZB 221/11 (REWIS RS 2012, 9959)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 9959

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