Bundesgerichtshof, Beschluss vom 22.08.2023, Az. 6 StR 285/23

6. Strafsenat | REWIS RS 2023, 6129

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 4. Januar 2023 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die auf die [X.] der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

I.

2

Nach den Feststellungen manipulierte der Angeklagte in zwei Fällen mit seinem Finger an der Scheide seiner zur Tatzeit etwa zehn Jahre alten Tochter, der Nebenklägerin. Zugleich forderte er sie auf, jeweils mit der Hand seinen Penis zu stimulieren; anschließend befriedigte er sich selbst und ejakulierte auf den Unterleib der Nebenklägerin. Als diese elf beziehungsweise zwölf Jahre alt war, vollzog der Angeklagte mit ihr zweimal vaginalen Geschlechtsverkehr. In einem weiteren Fall führte die Nebenklägerin bei ihm auf dessen Verlangen Oralverkehr durch.

II.

3

Die Beweiswürdigung des [X.]s (§ 261 StPO) hält auch eingedenk des eingeschränkten revisionsrechtlichen [X.] (vgl. [X.], Urteil vom 29. April 2015 – 5 StR 79/15, mwN) sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.

4

1. Das [X.] hat zunächst die Angaben der Nebenklägerin einschließlich etwaiger Vorhalte und Reaktionen hierauf dargestellt. Es hat die Nebenklägerin für glaubwürdig und ihre Schilderungen für wahr erachtet. Dies hat das [X.] mit einem Hinweis auf die Aussagen der [X.], die Chatkommunikation zwischen der Nebenklägerin und ihrer Schwester sowie die Ausführungen der mit der aussagepsychologischen Begutachtung der Nebenklägerin beauftragten Sachverständigen begründet.

5

2. § 267 StPO verpflichtet das Tatgericht in den Urteilsgründen darzulegen, dass seine Überzeugung (§ 261 StPO) von den die Anwendung des materiellen Rechts tragenden Tatsachen auf einer umfassenden, von rational nachvollziehbaren Überlegungen bestimmten Beweiswürdigung beruht (vgl. [X.], Beschluss vom 11. März 2020 – 2 [X.], NStZ-RR 2020, 258). Es ist – über den Wortlaut des § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO hinaus – verpflichtet, die wesentlichen Beweiserwägungen in den Urteilsgründen so darzulegen, dass seine Überzeugungsbildung für das Revisionsgericht nachvollzogen und auf Rechtsfehler überprüft werden kann (vgl. [X.], Beschluss vom 18. November 2020 – 2 [X.], NStZ-RR 2021, 114, 115). Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Diese erweisen sich in verschiedener Hinsicht als lückenhaft.

6

a) Die vom [X.] angestellten Erwägungen erschöpfen sich in der formelhaften Wendung, dass die „Kammer die Aussage der Nebenklägerin inhaltlich anhand der Angaben weiterer Zeugen beziehungsweise anhand weiterer Beweismittel überprüft (habe).“ Eine Würdigung sowohl der Schilderungen der Nebenklägerin als auch der Bekundungen der [X.] fehlt indessen. Ein inhaltlicher Abgleich der Aussagen miteinander ist nicht erkennbar. Er wäre jedoch insbesondere hinsichtlich der Angaben der Nebenklägerin und ihrer Schwester zwingend geboten gewesen, nachdem das [X.] der Sachverständigen folgend ein Komplott mit der Begründung ausgeschlossen hat, „dann wären weniger Abweichungen in den jeweiligen Aussagen zu erwarten gewesen.“

7

Von der Verpflichtung zu einer eigenständigen Würdigung war das [X.] nicht deshalb befreit, weil es ein aussagepsychologisches Gutachten eingeholt hat. Es wäre vielmehr darzulegen gehalten gewesen, weshalb es diesem gefolgt ist. Hierfür hätte der in den Urteilsgründen wiedergegebene Widerspruch (vgl. hierzu [X.], Urteil vom 30. Juli 1999 – 1 [X.], [X.]St 45, 164, 167) erläutert werden müssen, dass die Sachverständige Abweichungen in den Aussagen der Nebenklägerin einerseits damit erklärt hat, dass es für diese aufgrund ihrer kognitiven Fähigkeiten möglicherweise leichter sei, Vorgänge „im Ganzen zu berichten“, während sie der Nebenklägerin an anderer Stelle durchschnittliche kognitive Fähigkeiten attestiert hat.

8

b) In Fällen, in denen – wie hier – „Aussage gegen Aussage“ steht, müssen die Urteilsgründe zudem erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen und in einer Gesamtschau gewürdigt hat (vgl. [X.], Beschluss vom 2. November 2022 – 6 [X.]). Hieran fehlt es schon deshalb, weil mit Blick auf die fünf angeklagten und ausgeurteilten Taten jedenfalls unter dem Gesichtspunkt der übermäßigen Belastung des Angeklagten auch der Umstand einzustellen und näher zu erörtern gewesen wäre, dass die Nebenklägerin in der Beweisaufnahme von „300“ Übergriffen jährlich gesprochen hat.

III.

9

Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Urteil auf den aufgezeigten [X.] beruht. Dies führt zur Aufhebung des gesamten Urteils; die Feststellungen können keinen Bestand haben, weil sie nicht auf einer tragfähigen Beweiswürdigung beruhen (§ 353 Abs. 2 StPO).

[X.]     

      

Ri[X.] [X.] ist     
urlaubsbedingt an der
Unterschrift gehindert.
[X.]

      

     Wenske

        

Fritsche     

        

Ri’[X.] von Schmettau
ist urlaubsbedingt an der
Unterschrift gehindert.
[X.]

        

Meta

6 StR 285/23

22.08.2023

Bundesgerichtshof 6. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Hildesheim, 4. Januar 2023, Az: 14 KLs 3 Js 2760/18

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 22.08.2023, Az. 6 StR 285/23 (REWIS RS 2023, 6129)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 6129

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

6 StR 550/23 (Bundesgerichtshof)


5 StR 231/16 (Bundesgerichtshof)

Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern: Darlegungsanforderungen und Beweiswürdigung in einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation


4 StR 480/20 (Bundesgerichtshof)

Strafverfahren wegen besonders schwerer Vergewaltigung: Anforderungen an die gerichtliche Beweiswürdigung und die Wiedergabe des Beweisergebnisses …


2 StR 248/22 (Bundesgerichtshof)


2 StR 165/20 (Bundesgerichtshof)

Strafverurteilung wegen schweren sexuellen Missbrauch von Kindern u.a.: Freie Beweiswürdigung bei Aussage gegen Aussage; Urteilsfeststellungen …


Referenzen
Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.