Bundesgerichtshof, Beschluss vom 06.03.2024, Az. 6 StR 550/23

6. Strafsenat | REWIS RS 2024, 1862

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Tenor

Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 29. Juni 2023 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat die Angeklagte [X.]wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung in drei Fällen, wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Bedrohung, wegen Vergewaltigung in acht Fällen, wegen gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit schwerem sexuellen Übergriff, wegen sexuellen Übergriffs mit Gewalt und wegen Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 13 Jahren und sechs Monaten verurteilt und ihre Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Den Angeklagten [X.]hat es wegen Vergewaltigung in sechs Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und in einem Fall in Tateinheit mit Bedrohung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Revisionen der Angeklagten dringen mit der Sachrüge durch. Auf die von der Angeklagten [X.]erhobenen Verfahrensrügen kommt es nicht mehr an.

I.

2

1. Nach den Feststellungen vergewaltigte die Angeklagte [X.]in der [X.] von März 2021 bis Juli 2022 wiederholt die Nebenklägerin, ihre eigene Tochter. Sie beging die Taten überwiegend gemeinschaftlich mit weiteren Personen, unter anderem mit dem Angeklagten [X.], ihrem Ehemann. An mehreren Taten war auch die Lebensgefährtin der Nebenklägerin, die Zeugin [X.], beteiligt.

3

2. Das [X.] hat die Verurteilung der Angeklagten im Wesentlichen auf die Angaben der Nebenklägerin gestützt, deren Vernehmung in der Hauptverhandlung durch die Vorführung der [X.] ihrer ermittlungsrichterlichen Vernehmung ersetzt worden ist. [X.] beraten hat es eine Persönlichkeitsstörung der Nebenklägerin ausgeschlossen. Die Nebenklägerin leide allerdings an einer „komplexen posttraumatischen Belastungsstörung mit Stressreaktionen bei extremer psychischer Belastung“.

II.

4

Die Beweiswürdigung des [X.]s hält revisionsgerichtlicher Nachprüfung nicht stand.

5

1. Die Beweiswürdigung ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Die revisionsgerichtliche Überprüfung beschränkt sich darauf, ob diesem bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das Tatgericht ist verpflichtet, die wesentlichen Beweiserwägungen in den Urteilsgründen so darzulegen, dass seine Überzeugungsbildung durch das Revisionsgericht nachvollzogen und auf Rechtsfehler überprüft werden kann (vgl. [X.], Beschluss vom 18. November 2020 – 2 [X.], NStZ-RR 2021, 114, 115).

6

Bei einer schwierigen Beweissituation – die vorliegend schon deshalb besteht, weil sämtliche Feststellungen zum Kerngeschehen auf den Angaben der Nebenklägerin beruhen – können sich gesteigerte Darstellungsanforderungen ergeben (vgl. [X.], Beschlüsse vom 16. Januar 2024 – 4 StR 428/23; vom 11. April 2023 – 4 StR 497/22 Rn. 9; vom 22. November 2022 – 2 [X.]). Um dem Revisionsgericht in einem solchen Fall die sachlich-rechtliche Überprüfung der Beweiswürdigung zu ermöglichen, ist es regelmäßig erforderlich, die maßgeblichen Teile der Zeugenaussage in Form einer geschlossenen Darstellung in den Urteilsgründen wiederzugeben (vgl. [X.], Urteil vom 10. August 2011 – 1 [X.] Rn. 13; Beschluss vom 20. Dezember 2017 – 1 [X.]). Die Darstellung hat grundsätzlich auch vorangegangene, frühere Aussagen des Zeugen zu umfassen, weil das Revisionsgericht sonst nicht überprüfen kann, ob das Tatgericht eine fachgerechte Konstanzanalyse vorgenommen und Abweichungen zutreffend gewichtet hat (vgl. [X.], Urteil vom 10. August 2011 – 1 [X.] Rn. 15; Beschlüsse vom 21. November 2023 – 4 StR 352/23 Rn. 5; vom 20. Dezember 2017 – 1 [X.] Rn. 11).

7

2. Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht.

8

a) So fehlt eine Darstellung der Aussagen der Nebenklägerin bei ihrer staatsanwaltlichen Vernehmung vom 19. Oktober 2022 und bei ihrer polizeilichen Vernehmung vom 28. Juli 2021.

9

aa) Die beiläufige Erwähnung der [X.], die Angaben der Nebenklägerin bei der staatsanwaltlichen Vernehmung vom 19. Oktober 2022 stimmten dem aussagepsychologischen [X.]en zufolge mit ihren übrigen Angaben überein, genügt nicht, weil sie eine Überprüfung der vom [X.] angenommenen [X.] durch den Senat nicht ermöglicht.

bb) Entsprechendes gilt für die Aussage der Nebenklägerin bei ihrer polizeilichen Vernehmung vom 28. Juli 2021. Die Darstellung in den Urteilsgründen, weshalb die Nebenklägerin bei der polizeilichen Vernehmung teilweise abweichende Angaben gemacht habe, ersetzt die gebotene Wiedergabe des wesentlichen Inhalts ihrer Aussage schon deshalb nicht, weil diese Ausführungen sich lediglich auf eine einzige Tat beziehen und damit ebenfalls keine Überprüfung der [X.] insgesamt ermöglicht.

cc) Eine Darstellung der wesentlichen Angaben der Nebenklägerin im Rahmen ihrer staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Vernehmungen war auch nicht deshalb entbehrlich, weil sich die [X.] dem Ergebnis des aussagepsychologischen Gutachtens angeschlossen hat. Eine psychologische Glaubwürdigkeitsbegutachtung kann eine rechtsfehlerfreie Beweiswürdigung durch das Tatgericht nicht ersetzen (vgl. [X.], Urteil vom 30. Juli 1999 – 1 [X.], [X.]St 45, 164, 178; Beschluss vom 18. November 2020 2 [X.], NStZ-RR 2021, 114).

b) Zudem ist die Beweiswürdigung zur Aussagetüchtigkeit der Nebenklägerin lückenhaft.

aa) Die [X.] hat sachverständig beraten eine Persönlichkeitsstörung der Nebenklägerin trotz bestehender Anhaltspunkte für eine [X.] ausgeschlossen, ohne die die Bewertung tragenden Anknüpfungs- und Befundtatsachen in ausreichendem Umfang und in einer Weise wiederzugeben, die dem Senat eine rechtliche Prüfung ermöglichen.

(1) Dem Senat erschließt sich bereits nicht, worauf der aussagepsychologische [X.]e seinen fachlichen Eindruck konkret gestützt hat. Die einzige in diesem Zusammenhang im Urteil genannte Erwägung, dass bei der Nebenklägerin im Rahmen ihrer mehrjährigen Begleitung durch psychiatrisch geschultes Personal einer Fachklinik zu keinem [X.]punkt die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung gestellt worden sei, lässt besorgen, dass der [X.]e und ihm folgend das [X.] lediglich eine fremde Diagnose übernommen haben.

(2) Zudem fehlt es sowohl an einer geschlossenen Darstellung der Krankheitsgeschichte der Nebenklägerin als auch an einer näheren Darlegung der für einen Ausschluss einer Persönlichkeitserkrankung maßgeblichen Gesichtspunkte. Dies wäre jedoch in Anbetracht des Umstands, dass eine [X.] wegen des heterogenen [X.] schwierig zu diagnostizieren ist und mit anderen Formen der Persönlichkeitsstörungen zusammentreffen kann, geboten gewesen (vgl. [X.], Urteil vom 10. Mai 2023 – 2 [X.] Rn. 24; [X.], NStZ 1998, 80, 81).

bb) Auch die Erwähnung in den Urteilsgründen, dass der die Nebenklägerin behandelnde Psychiater – den die Kammer als sachverständigen Zeugen in der Hauptverhandlung vernommen hat – die Einschätzung des aussagepsychologischen [X.]en bestätigt habe, kann diesen Darstellungsmangel nicht beheben (vgl. zur Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Psychiaters [X.], Urteile vom 11. Mai 1993 – 1 StR 896/92, NJW 1993, 2252; vom 21. Mai 1969 – 4 [X.], [X.]St 23, 8, 13; Beschlüsse vom 29. Oktober 1996 – 4 StR 508/96, [X.], 106; vom 2. März 1995 – 4 [X.], [X.], 558). Denn auch diesbezüglich teilen die Urteilsgründe die Befund- und Anknüpfungstatsachen, auf denen die Beurteilung des sachverständigen Zeugen beruht, nicht mit.

Zwar wird in den Urteilsgründen die Aussage des sachverständigen Zeugen in der Hauptverhandlung umfassend wiedergegeben. Die Darstellung beschränkt sich aber auf eine Dokumentation des [X.], der neben fachlichen Bewertungen auch zeugenschaftliche Bekundungen des sachverständigen Zeugen enthält. Eine eigenverantwortliche Würdigung des [X.], die durch die Darstellung der erhobenen Beweise nicht ersetzt werden kann (st. Rspr.; vgl. [X.], Beschlüsse vom 8. August 2023 – 6 [X.]; vom 23. April 1998 – 4 [X.], [X.], 277; vom 1. September 2015 – 3 [X.]), nimmt die [X.] nicht vor.

3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

a) Es wird naheliegen, für die Frage der Aussagetüchtigkeit der Neben-klägerin zusätzlich einen psychiatrischen [X.]en hinzuzuziehen (vgl. [X.], Urteil vom 16. Dezember 2020 − 2 [X.] Rn. 28).

b) Sofern auch das neue Tatgericht die Anordnung der Sicherungsverwahrung in Erwägung zieht, wird es deutlicher als bislang geschehen zwischen der Frage eines Hangs und der Gefahrenprognose zu unterscheiden haben (vgl. [X.], Urteil vom 9. Mai 20194 [X.], NStZ-RR 2020, 10). Kontakte der Angeklagten in ein auf sadistisch-sexuellen Missbrauch orientiertes Milieu, die ihr erneut Zugriff auf psychisch oder physisch manipulierbare Opfer ermöglichen könnten, wird es nur berücksichtigen können, wenn es solche Kontakte tatsächlich festgestellt hat. Entsprechendes gilt für die Annahme, die Nebenklägerin werde bereits seit ihrer Kindheit von der Angeklagten und einem Netzwerk an Mittätern sexuell missbraucht und systematisch unterdrückt.

[X.]     

      

Ri[X.] Dr. Feilcke ist
urlaubsbedingt an der
Unterschrift gehindert.

      

Ri[X.] Dr. Wenske ist
urlaubsbedingt an der
Unterschrift gehindert.

      

      

[X.]

      

[X.]

      

Fritsche     

      

von [X.]     

      

Meta

6 StR 550/23

06.03.2024

Bundesgerichtshof 6. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Braunschweig, 29. Juni 2023, Az: 9 Ks 11/22

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 06.03.2024, Az. 6 StR 550/23 (REWIS RS 2024, 1862)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2024, 1862

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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